Die Sterne über dem Land der Väter

Ko Un, Die Sterne über dem Land der Väter
Ko, Un
Die Sterne über dem Land der Väter
Suhrkamp 1996
Bibliothek Suhrkamp 2005

Von allen Gattungen verstehe ich von der Lyrik am meisten (und vom Drama am wenigsten). Ich kann mich an keinen Tag meines Lebens erinnern, an dem ich nicht ein Gedicht gedacht oder gelesen habe. Und meine Leseerfahrung hat mich gelehrt, dass gute Dichtung das Resultat der gnadenloser Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft ist.
Das trifft auch auf Ko Un zu. Biografie in Stichworten: 1933 geboren, 1947 Mitbegründer von „Chayusilchon Muninhyobuihoe“, dem „Verband koreanisch Schriftsteller für die Verwirklichung der Freiheit“, danach Hausarrest. 1979 Gündung von „Silchonmunhak“, der erfolgreichen Zeitschrift „Praxis und Literatur“. Im gleichen Jahr Organisator eines Arbeiterstreiks, bei dem die führende Arbeiterin Kim Kyong-Suk ums Leben kam (Ende des Gedichts „Kim Kyong-Suk“ am Schluss dieses Eintrags). 1980 als Rädelsführer des Volksaufstandes von Kwangju inhaftiert, nach Amnestie 1983 Heirat mit Lee San-Hwa, Anglistikprofessorin. 1987 Gründung von „Minchokmunhak Jakkahyobhoe“, dem „Schriftstellerverband für Volksliteratur“, der Treffen zwischen süd- und nordkoreanischen Autoren zum Ziel hat und erneute Festnahme. Seit 1992 als Professor für koreanische Sprache und Literatur in Seoul.
Dieser Gedichtband ist ein Meisterwerk, ich werde drei von vielen Gründen dafür aufzählen. Aus alter Buchhändlerinnengewohnheit noch rasch ein Vergleich mit einem deutschsprachigen Dichter: am ehsten Ko Un mit Erich Fried. Aber Frieds Gedichtsammlungen umfassten stets mehrere Schaffensjahre, während Ko Un sagt, er hätte die hier versammelten Gedichte in sechs Wochen geschrieben. Lyrik beginnt eben nicht erst, wenn man sie zu Papier bringt.
„Die Sterne über dem Land der Väter“ ist ein Meisterwerk:

  • Der Übersetzung. Der Japanologe Siegfried Schaarschmidt und der Übersetzerin Woon-Jung Chei, die Wort für Wort aus dem Koreanischen ins Deutsche übertragen hat. Auf Grund ihrer Übertragung und einer japanischen Übersetzung des Koreaners Kim Hak-Hyon, machte Siegfried Schaarschmidt die Nachdichtung. Alle drei disktuierten jede Zeile und recherchierten jeden Ort, jede Wendung, um perfekte Anmerkungen erstellen zu können.
  • Der politischen Lyrik, weil Lesende nicht dazu gezwungen werden. Weil sie noch viele anderen Facetten hat. Weil der Ton allein schon gut ist, weil Ko Un, selbst in der Emphase, nie „agitatorisch wirkt“ ( Schaarschmidt).
  • Der Stimme. Wenn Ko Un „ich“ sagt, klingt es wahr. Aber genau so klingt es auch, wenn „ich“ eine Frau ist, ein Kind, ein Reisbauer, eine Fabrikarbeiterin. Er komponiert ein Ich für verschiedene Stimmen, er verwandelt die Worte in Lieder eines Landes.
  • Dieses Buch ist unter meinen besten, weil es bremst und gleichzeitig anstösst. Man findet es zwar – dank dem Messeschwerpunkt – in Bibliotheken. Doch im Handel hat dieses Kleinod ohne Hilfe keine Chance. Es sind versteckte Orte, an denen es aufliegt, es wird selten entdeckt, noch seltener aufgemacht und – oh! 19.90! – meist wieder zurückgelegt.

    Nur eben: so ist es nicht,
    meine Kim Kyong-Suk;
    fest halte ich dich in mir umschlungen, wenn ich mich erhebe.

    Der letzte Freund

    Tahar Ben Jelloun, Der letzte Freund
    Ben Jelloun, Tahar
    Der letzte Feund
    Berlin Verlag 2004
    Originaltitel: Le dernier ami

    Die Verlagswerbung schreibt – wie sie es vom Kinderbuch bis zur Sterbebegleitungslektüre oft tut – das sei ein Buch über Freundschaft. Und sie hat Recht.
    Dieses schmale Buch ist opulent, weil der Autor für jede Regung Platz fand, die dieser grosse Begriff in sich birgt. Ben Jelloun ist der berühmteste Vertreter französischer Literatur aus dem Maghreb, er ist ein begabter, emsiger Schriftsteller und ein wunderbarer Lyriker. Dieses Buch hat nicht viel Beachtung gefunden. Doch ich habe es geliebt und gelesen als Exzerpt seines Gesamtwerkes.
    Mamed und Ali sind Freunde im Tanger der Fünfzigerjahre. Ali kommt aus Fès und ihm eilt der Ruf voraus, eingebildet, zu hellhäutig und durchsetzungsfähig wie ein Jude zu sein. Und deshalb wäre er im Gymnasium ziemlich unter die Fäuste gekommen, hätte sich Mamed nicht vor ihn gestellt. Schmächtig zwar, dieser Mamed, aber bissig genug um einen Neuen zu schützen.
    Die Freundschaft nimmt ihren Lauf, Elternvorwürfe, Mädchen und ein Bordellbesuch schweissen die beiden zusammen, auch wenn sich ihre Pläne nicht ähnlich sind und sie damit rechnen, bald getrennte Wege zu gehen. Mamed ist im repressiven Klima des Algerienkrieges in die kommunistische Partei Frankreichs eingetreten, Ali hingegen lebt in westlichen Filmen. Doch wie das so geht im Leben unter der Macht schamloser Willkür despotischer Regierungen, landen beide im gleichen Erziehungslager. Vor den Verwandten getarnt als Militärdienst, ist es nichts anderes als eine neunzehnmonatige Haft unter grauenhaften Bedingungen. In dieser Zeit retten die Freunde einander das Leben, überzeugt, ab jetzt könne nichts und niemand je ihre Freundschaft zerstören.
    Das wird nicht einfach für ihre späteren Frauen. Diese sind beide eifersüchtig bemüht, die Männer gegeneinander auszuspielen. Mamed, der Arzt, wandert mit seiner Familie nach Schweden aus, Ali, der Lehrer, bleibt mit seiner Frau und einem adoptierten Kind in Tanger. Und die Art und Weise, wie die beiden Freunde ihre Biografie weiterhin zu teilen suchen, das kann fast nur Ben Jelloun erdichten. Aus tausend Stellen würde ich die seinen erkennen, keiner lässt den Freund „ein wenig Ostwind aus Tanger, 13. April 1990“ in hermetisch verschlossenen Plastikflaschen nach Schweden schicken, keiner lässt solche Briefe schreiben, keiner solche Telefonate schweigen. Die Schwermut auf der Suche nach Heimat, das ist Ben Jelloun.
    Neben seiner literarischen Güte ist das Buch auch von literarischer Formschönheit. Es beginnt mit einem Brief Mameds an Ali, der alles verändert, ohne dass wir Lesenden seinen Inhalt kennen. Erzählt wird aus drei Perspektiven: Ali, dem Zurückbleibenden, gesteht Ben Jelloun 19 Kapitel zu. Mamed, dem Ausgewanderten, 17 Kapitel. Und Ramon, dem Zeugen dieser Freundschaft, ein einziges. Abgeschlossen wird das Buch mit dem Wortlaut des Briefes, der die Freundschaft beendet und unsterblich macht.

    Sticheleien

    Marjane Satrapi, Sticheleien
    Satrapi, Marjane
    Sticheleien
    Editon Moderne 2005

    Satrapi hat sich mit ihrer Biografie in mein Herz erzählt, ich hatte sofort das Gefühl, sie zu kennen. Aber das war nicht wichtig, denn es ist vielen so ergangen, das Zutun der Buchhändlerinnen war nur am Anfang nötig. Ähnlich wie Spiegelman mit „Maus I + II“ gelang es Satrapi, die Leute mit einem Comic in Bann zu ziehen und gleichzeitig weltweit gute Rezensionen zu bekommen. Es ist nicht einfach, nach einem solchen Erfolg erneut ein richtig gutes Buch zu machen. Aber sie kann das eben.
    Die „Sticheleinen“ wirken im allerbesten Sinne aufklärerisch: Glaube nichts. Schau selber! Satrapi bleibt zwar bei ihrem autobiografischen Erzählstil, aber weil sie nicht die Protagonistin ist, macht sie den Vergleich mit ihren Bestsellern schwierig und schafft sich so ein altes neues Feld.
    Ein kleiner Prolog über den Samowar, dem morgens, mittags und abends eine völlig unterschiedliche Bedeutung zukommt und ein paar Betrachtungen über die Launen ihrer opiumsüchtigen Grossmutter, leitet die Rahmenerzählung ein. Nach einem Festessen waschen die Frauen gemeinsam ab, Marjane kümmert sich um den Tee, denn das ist ihre Aufgabe (daher auch der Samowar-Prolog). Danach sind alle bereit für ihre grosse Leidenschaft: das Gespräch. Jungfernhäutchenreparaturen, Heiratsschwindeleien, Schönheitsoperationen, missratene Kinder, Leben im Exil, Rache, Sex, Quacksalberei und Sehnsucht – das ist der Stoff, aus dem die hingebungsvollen Binnenerzählungen gemacht sind. Sie reihen sich trotz verschiedenster Erzählperspektiven nahtlos, ohne das kleinste Stolpern aneinander, als wären wir Lesenden ein Teil davon. Und das ist Satrapis Begabung für die sequenzielle Kunst.
    Wie gesagt, ist Marjane Satrapi eine kluge Autorin und Zeichnerin. Wenn sie gegen Klischees antritt, tut sie das ohne dass es auf ihrer Fahne steht. In „Sticheleien“ lässt sie Frauen bloss Kieselsteine auf das Glashaus der Vorurteile werfen. Aber sie treffen gut genug, um es zu zerbrechen.

    Das Komplott

    Will Eisner, Das Komplott
    Eisner, Will
    Das Komplott. Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion
    DVA 2005
    Originaltitel: The Plot. The Secret Story of the Protocols of the Elders of Zion

    Will Eisner hat kurz vor seinem Tod dem zähsten Machwerk, das mir in der Buchgeschichte je begegnet ist, die Stirn geboten.
    Ich mag gar nicht mehr zählen, wie oft diese Seite hier gewählt wird wegen meinem Eintrag zum Berner Prozess. Monate ist der Suchbegriff „Protokolle der Weisen von Zion“ oben auf der Hit-Liste, nur weil ich einmal mit freundlicher Genehmigung eine Zeitungsseite hier verlinkt habe.
    Täglich suchen Tausende diese Fata Morgana im Internet. Und damit bin ich bei Eisners Motivation, seinen letzten Effort in einen Comic oder – wie er es nannte – in eine „grafische Novelle“ über diese unsägliche Geschichte zu stecken.
    Ungeachtet aller Beweise sind die Protokolle noch heute weltweit im Handel und dienen nach wie vor als Quelle. Sowohl für andere üble Bücher wie für den Hass.
    Oder wie Umberto Eco es in seiner Einführung erklärt:

    Die Beweisführung [der Verleumder] ist makellos: „Die Protokolle bestätigen die Geschichte, die ich ihnen entnommen habe, und daher sind sie echt.“

    Weil ich weiss, dass dieser Eintrag wieder Verwirrte anziehen wird, sage ich gleich am Anfang klar, wer hier falsch gelandet ist und entweder verschwinden oder seine Hirntätigkeit ausnahmsweise auf „selber denken“ vorspulen muss.
    Eisner arbeitet in „Das Komplott“ Fakten auf. Er schreibt im Vorwort, er habe sich lange nicht darum gekümmert, er habe die Protokolle zusammen mit „mein Kampf“ in seine „Bücherei des Bösen“ gestellt und beinahe vergessen. Bis zum Netz. Gleichzeitig mit dem Einzug des Internets in die Welt der Privaten, erschienen 1999 erneut Beweise für die wahre Autorenschaft der Protokolle. Und da begann Eisner zu recherchieren und zu zeichnen. Eine einfache, anschauliche Geschichte darüber, wie aus einer Satireschrift des 19. Jahrhunderts der Beweis für die jüdische Weltverschwörung wurde. Eisner fungiert als Übersetzer, er gibt weiter, was historisch ohnehin mehrfach bewiesen, aber bei vielen nicht angekommen ist.
    Ich erzähle den Inhalt in chronologischer Reihenfolge aber stark gekürzt nach und gehe nicht auf die grossen Skandale ein (wie z.B. die aktive Beteiligung Henry Fords an der Diffamierung).
    Maurice Joly verfasste 1878 eine Schrift (laut Eco hat er die auch schon abgeschrieben), die die Mächtigen diffamieren sollte. Er liess in „Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu“ über die Weltherrschaft sinnieren, er wollte eine Metapher für den gierigen Kaiser. Natürlich war das für die Zensoren offensichtlich, er wurde verurteilt, sass lange im Gefängnis, schlug sich mit einem weiteren Buch „die Hungrigen“ durch und brachte sich schliesslich um. Niemand rechnete damit, dass er je wieder gelesen werden würde.
    Leider kam es anders. 1894 versuchten liberale Ratsmitglieder, den Zaren Nikolaj II, seinerseits bekannt als Fähnlein im Wind, von der Notwenigkeit der Modernisierung Russlands zu überzeugen. Da kam der konservativen Gegnerschaft die Idee, die Modernisierungspläne den Juden in die Schuhe zu schieben, im antisemitischen Klima so nahe liegend wie gefahrlos. Nun brauchte man noch einen Regisseur für das Komplott, den man im Aufsteiger Matwej Golowinski rasch fand. Golowinski begann erst einmal mit dem Fälschen von Statistiken (über den schändlichen Einfluss der Juden), die er locker in der Presse unterbrachte und geriet schliesslich – über Umwege – in Frankreich an Maurice Jolys Werk. Das schrieb er zufrieden ab, ersetzte die Machthungrigen Jolys durch die Zionisten und fertig waren „die Protokolle der Weisen von Zion“. Sie kamen 1905 zum ersten Mal als Buch auf den russischen Markt und sind seither millionenfach in mindestens zwanzig Sprachen erschienen.
    Bereits 1921 entlarvte die „Times“ die historische Fälschung zweifelsfrei. In dieser Sequenz im Comic stellt Eisner die einzelnen Stellen von Jolys Original über 15 Seiten den Protokollen gegenüber. Ein im Wortsinne ausgezeichnetes Stück Geschichte, das in dieser Klarheit noch nie einem breiten Publikum zugänglich war.
    Die Nazis haben die Protokolle selbstverständlich dankbar aufgenommen und in Massen vertrieben. Daran änderte auch der Berner Prozess nichts. Im April 1935 schloss ihn der Richter mit einem Verbot (Verstoss gegen das Schundliteraturgesetz) ab, aber nicht ohne die Protokolle als „lächerlichen Unsinn“ zu bezeichnen, der dem Antisemitismus Vorschub leiste. Das Gericht schlug sogar vor, dass „Mittel gefunden werden müssten, solche Diffamierung zu unterbinden“.
    Dass das nicht gelungen ist, wissen wir heute. Dass wir jeden einzelnen Tag dagegen antreten müssen, auch wenn es mit letzter Kraft ist, hat uns ein alter Zeichner vorgemacht.
    RIP Will Eisner.

    Die Geschichte der Anne Frank

    Anne Frank Haus (Hg.), Die Geschichte der Anne Frank
    Anne Frank Haus,
    Die Geschichte der Anne Frank
    Oetinger 2005

    Das ist ein Buch wie ein kleines Museum, ein ausgezeichnetes Dokument für die Schule, mit einmaligen Faksimiles von Anne Franks Notizen und Zettelkasten. Und einer grossen Sammlung Fotos. Das schätze ich, wenn mir Bücher sorgfältig Menschen, Sachen und Sachverhalte erschliessen.
    Wenn ich das Tagebuch der Anne Frank gelesen habe – und das waren seit meiner Kindheit etliche Male – so war ich jedes Mal überzeugt, dass jetzt die letzen Einträge nicht die letzten sein würden, dass niemand die Familien im Hinterhaus verraten würde, dass die Stecknadeln über das Vorrücken der Alliierten weiter in die Wand gesteckt würden, dass Anne und Margot dieses Mal überleben würden, dass es anders enden würde, als mit dem Nachwort voller Todesnachrichten.
    Vielleicht hat sich mit der neuen „Geschichte der Anne Frank“ meine Hoffnung für immer zerstreut. In dem kleinen Buch werden die letzten Tage der einzelnen Menschen aus dem Hinterhaus parallel dargestellt und es steht klipp und klar, dass deren Ermordung kaum mehr Aufwand bedurfte. Die vielen Jahre, in denen nichts anderes mehr professionalisiert worden war als Vernichtung, hatten ihren Zweck erfüllt. Niemand in den Lagern war mehr auf das Überleben eingestellt. Als Anne und Margot Frank starben, war ihr Vater bereits sechs Wochen befreit. Er und nicht die Mutter und nicht die Kinder. Ein Zufall unter Millionen.
    Otto Frank heiratete nach dem Krieg eine übrig Gebliebene, deren Mann und Kind ermordet worden waren. Er widmete sich Zeit seines Lebens dem Gedenken an das Versteck und an seine Familie. Nur einige wenige Stellen aus Annes Tagebuch wollte er erst nach seinem Tod (1980 in Basel) veröffentlicht haben.
    Das Museum „Anne Frank Haus“, das diese Buch herausgegeben hat, vergisst nicht, daran zu erinnern, dass Anne Frank auch für alle anderen steht.
    Vielleicht muss es ja so sein, dass eine Einzelperson wie Anne Frank mehr Anteilnahme erweckt als die Ungezählten, deren Bilder im Dunkeln geblieben sind. Müssten oder könnten wir die Leiden aller erleiden, könnten wir nicht leben.
    – Primo Levi (der nicht leben konnte)

    Hass

    André Glucksmann, Hass
    Glucksmann, André
    Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt
    Nagel & Kimche 2005
    Originaltitel: Le discours de la haine

    Dieses Buch war meine schwierigste und schlimmste Lektüre des Jahres. Der Untertitel „Die Rückkehr einer elementaren Gewalt“ ist etwas missverständlich, denn der Autor geht nicht davon aus, dass der Hass einst gezähmt gewesen wäre. Er schlägt aber den Bogen von der griechischen Mythologie zum 21. Jahrhundert, dies war wohl der Anlass die deutsche Ausgabe so zu nennen.
    Um die Gründe hemmungsloser Gewalt zu erklären, suchen Philosophen und Psychologen verschiedenste Ansätze. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir einen kurzen Exkurs über das Lektorat.
    Susan Sontag „Das Leiden anderer betrachten“ und Harald Welzer „Täter“ sind vergleichbare Titel, nicht nur inhaltlich, sondern auch vom Lektorat her. Viele denken, das Lektorat sei besonders bei Romanen wichtig. Falsch! Das Lektorat ist immer wichtig. Bei Büchern, die die brutalsten Sequenzen der Menschheitsgeschichte aufarbeiten, ist ein guter Lektor schlicht unabdingbar. In solchen Büchern steht, was visualisiert gar nicht existiert. Deshalb muss der Handlungsablauf, muss die Sprache erfassbar sein, deshalb dürfen die Autoren keine grossen Gedankensprünge machen und die Leser ratlos zurücklassen. Oder noch schlimmer, in einem Vakuum zurücklassen, das sie sich mit Fehlinformationen füllen. Ich kaufe Bücher zum Thema Vernichtung nur, wenn ich mich auf ein gutes Lektorat verlassen kann, diese Thematik in linken und anarchistischen Verlagen ist selbst bei guter Autorenschaft unlesbar. Leider, denn gerade diese Verlage stellen sich der Herausforderung oft als erste, wie zum Beispiel den Verbrechen Stalins und dem Genozid an den Armeniern. Ende des Exkurses.
    Glucksmann beginnt mit der Feststellung, die neuere Geschichte entwickle sich entlang unerwarteter Bruchlinien, wovon der 11. September 2001 nur eine darstelle. Weitere Beispiele leiten über zu seiner Beobachtung, die auch Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay „Der radikale Verlierer“ macht: Der heutige Terrorist schöpft Kraft aus dem Selbstmitleid, er nährt seinen Hass aus dem Verlust, an dem ein anderer schuld ist und der in vielen Fällen einen weiteren, gar nicht den Terroristen selber, getroffen hat. Sein Leben ist darauf ausgerichtet, präventiv zu vermeiden, was ihn von seinem Hass abbringen könnte (übrigens auch das Thema im umstrittenen Film Paradise Now). Auf diese Vermeidungsstrategie kommt Glucksmann immer wieder zurück und zwar nicht redundant, sondern aufschlussreich.
    Dieser Autor schreibt exakt wie es die Kapitelüberschrift ankündigt und er liefert Denk- und Lösungsansätze. Es ist deshalb ein Buch aus Essays, ein Stil, wie man ihn von Susan Sontag kennt. (Ich habe einiges von seinem Zahlenmaterial überprüft, es war derart verstörend. Und ja, alles richtig, hier ist Glucksmann, nicht Michael Moore.)
    Neben dem Irak-Krieg und dem Antiamerikanismus ist Glucksmanns Thema der Osten. Zu Tschetschenien hat er sehr viel recherchiert, einer Tschetschenin ist das Buch auch gewidmet. Glucksmann behauptet aber auch – und es ist schwierig, ihn zu widerlegen – der palästinensische Terrorist geniesse die grössten Sympathien und werde moralisch am wenigsten verurteilt. Und seine Erklärung dafür ist, dass der palästinensische Terrorist konsequent den Juden vernichtet. Viele seiner Überlegungen widmen sich dem heutigen Antisemitismus und das hat mich am allermeisten beelendet. Seine unzähligen Nachweise, dass wir dieses zweitausendjährige Motiv für Diskriminierung, Elend und Lüge nicht loswerden.
    Sollten Sie jemals in einer Buchhandlung oder Bibliothek auf diesen Titel stossen und noch unentschlossen sein: Seite 114 aufschlagen und Glucksmanns fünf Forderungen lesen. Das ist der einfache, klare, nicht zu umgehende Ansatz eines Philosophen, der sehr viel von Politik versteht. Solchen gehört die Zukunft. Das jedenfalls ist meine Hoffnung.

    Weihnachtswünsche in der 5. Klasse

    Das Kind geht seit diesem Schuljahr in eine neue Schule. In seiner alten Klasse war Weihnachten nicht zentral, in der neuen wird viel Wert auf das Fest und seinen Hintergrund gelegt. Die Klassenlehrerin hat den ganzen Dezember gemeinsam mit den Kindern Themen ausgewählt und sie haben dazu Texte geschrieben und gezeichnet. Daraus ist ein rührend schönes Heft geworden, in dem wir Erwachsenen lesen können, dass die Kinder viel Realitätssinn und ein gutes Gespür für die Herausforderungen unserer Zeit und selber viel Esprit haben. Möge das ihnen (und uns) erhalten bleiben, auch wenn sie gross sind.
    ***

    Weihnachten – Tag der Liebe

    An Weihnachten sollte man es mit der Familie geniessen. Ich will meinem Hasen das Licht in sein Herzlein schicken und meinen Eltern ebenfalls. Ich denke, meine Eltern wollen dasselbe bei mir machen.
    Ich wünsche mir, dass Arm und Reich Freunde sind, denn dann ist alles gleich. Es gibt keine Armen und Reichen mehr.
    ***

    Das soll an Weihnachten geschehen

    An diesem Tag sollen mein Bruder und ich nicht streiten. Und ich möchte bei meinen drei allerbesten Freundinnen sein können. Ich möchte, dass es keine schlechte Laune gibt in meiner geschiedenen Familie. Niemand soll krank sein auf der ganzen Welt.
    Ich hoffe, dass jeder mindestens vier Geschenke bekommt und Freude daran hat. Es soll niemand Streit anfangen oder mitmachen. Es soll niemand traurig sein. Es soll am Weihnachtsabend niemand arbeiten. Niemand soll allein Weihnachten feiern müssen.
    Ich wünsche mir, dass es auf der ganzen Welt viel Licht gibt und dass es auch alle Tiere gut haben an Weihnachten und im neuen Jahr!
    ***

    Weihnachten – das Fest der Liebe

    Manche denken, dass man an Weihnachten einfach nur Geschenke bekommt. Nein, das ist die Geburt Christi! Darum hat die Weihnacht sehr viel mit Liebe zu tun.
    Eigentlich könnte ja an Weihnachten vieles geschehen, zum Beispiel, dass es in der Welt viel Liebe und nichts Böses oder Fieses mehr gibt. Alles Gute, das bis jetzt die Welt beherrschat hat, soll bleiben. Und alles derzeit Schlechte soll verschwinden.
    Ich möchte, dass nur noch das Freundliche, Schöne, Liebe und die oberbeste Gesundheit Platz haben.
    In jeder Familie, selbst in meiner, soll das Gute herrschen, überall, wirklich! Wunderbar, das Fest der Liebe!
    ***
    Weihnachten
    Ich will, dass es keine Hungersnöte gibt wie zum Beispiel in Afrika. Es soll auch mehr Menschenrechte und Kinderrechte geben. Ich wünsche mir, dass es mehr Autos mit Biogas gibt anstatt Benzin und Diesel.
    Ich wünsche auch, dass es mehr Kinderheime in den armen Ländern hat, so dass es keine Strassenkinder mehr gibt.
    Ich wünsche Frieden für die ganze Welt und allen eine frohe Weihnacht!
    ***
    Weihnachten – ein Fest der Liebe
    Ich wünsche mir, dass auf der Welt alle gesund sind und freundlich zueinander, dass alle Menschen sich freuen und einander respektieren, dass an Weihnachten alle fröhlich sind und sich jeder über das schönste Fest des Jahres freut. Am Geburtstag von Jesus Christus sollen Wunder geschehen.
    Jedes Kind, jeder Vater, jede Mutter und alle anderen sollen sich über das Fest der Hoffnung, der Freude und der Liebe freuen.
    Das wünsche ich mir für die ganze Welt, für meine Familie und auch für mich: Frohe Weihnachten!
    ***

    Schule in der Einwanderungsgesellschaft

    Rudolf Leiprecht und Anne Kerber, Schule in der Einwanderungsgesellschaft
    Leiprecht Rudolf | Kerber, Anne (Hrsg.)
    Schule in der Einwanderungsgesellschaft
    WOCHENSCHAU Verlag 2005

    Dank Lisa Rosa brauche ich dieses Buch nicht ausführlich zu besprechen, weil sie das nämlich schon gemacht hat. Der Untertitel „ein Handbuch“ trifft zu. Und wie es sich für ein Handbuch gehört, werde ich nie wissen, ob ich es je komplett gelesen haben werde. Das Inhaltsverzeichnis ist detailliert und die Anmerkungen gibt es direkt nach jedem Beitrag. Leider fehlt das Register, wie so oft in dieser unserer schnell druckenden Zeit.
    Hervorheben will ich Folgendes: Ich schätze, dass sich im Buch gleich viele Beiträge von Männern und Frauen finden. Zu der immer grösser werdenden Gruppe von Menschen, die Erfahrungen mit Migrantinnen und Migranten gesammelt haben, gehören beiderlei Geschlechter und es braucht keine Genderdiskussion, um zu wissen, dass die Perspektiven unterschiedlich sind. Das Buch bemüht sich um geschlechtsneutrale Bezeichnungen und um explizite Erwähnung der weiblichen und männlichen Formen, was bei deutschen Publikationen selten der Fall, aber bei solchen Themen eben relevant für die Aussagen ist.
    Das Augenmerk gilt der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland. Das verleitet vielleicht in der Schweiz dazu, das Buch nicht anzuschaffen (vor allem Bibliotheken sind da oft zu zurückhaltend) oder nicht ausreichend davon Gebrauch zu machen. Das wäre aber falsch. Denn der grösste Teil ist auch für die Schweiz relevant. Und Themen, die vermeintlich besonders deutsche Themen sind, wie zum Beispiel die pädagogische Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazizeit, sind so aufgearbeitet, dass sie für alle lehrreich und übertragbar sind. Übertragbar auf andere Verbrechen, auf Verbrechen, die Fluchtgründe der Eltern unserer Schülerinnen und Schüler waren: Srebrenica, Kigali, Drenica, Darfur.
    Unbestreitbar gibt es im Verhältnis zur Vergangenheit viel Neurotisches: Gesten der Verteidigung dort, wo man nicht angegriffen ist; heftige Affekte an Stellen, die sie real kaum rechtfertigen; Mangel an Affekt gegenüber dem Ernstesten; nicht selten auch einfach Verdrängung des Gewussten oder halb Gewussten.
    – Adorno, 1960
    Dieses Buch hat bei mir noch einen zweiten Titel: Empathie ist ein Dauerauftrag. Und Untertitel: Gerade in der Schule.

    Farm der Tiere

    George Orwell, Farm der Tiere
    Orwell, George
    Farm der Tiere | Die Pressefreiheit
    Illustrationen: F.K. Waechter
    Diogenes 2005
    Originaltitel: Animal Farm | The Freedom of the Press

    Also diesen Klassiker zu besprechen käme mir zumindest etwas unnütz vor. Den findet man entweder gut oder hat ein Zwangslektüretrauma aus der Schulzeit.
    Ich selber kenne zum Glück zu dem Masterpiece keine Sekundärliteratur. Ich lese die Fabel immer wieder, immer wieder mit Aha-Erlebnissen.
    Schon als sie 1945 erschien, hätte sie als Warnung getaugt und mit jeder Neuauflage mehr. Gerade für die Linke, die mehrheitlich zu lange gebraucht hat, um der eigenen Sozialismusverblendung Herrin zu werden.
    Das schöne Büchlein aus dem lieben Schweizer Verlag ist vom ebenfalls lieben, begabten und leider jetzt toten Waechter wunderbar illustriert. Und der 1972 erstmals als Nachwort erschienene grandiose Essay „Die Pressefreiheit“ ist bis in alle Ewigkeit ein Wiederlesen wert.
    Ausser natürlich, die Presse wäre vorher frei.