Drei Hinweise

Politisch: Esther hat „Liberalismus mit Links“ gemacht. Dralle Lippen contra Designerschwung. Aktuell mit einem schönen und lehrreichen „Versuch über die Freiheit.“
Poetisch: Frau Kaltmamsell hat eine Fee getroffen, auf ihrem Weg zur Arbeit. Und der war schon oft sehr pötisch. Ich weiss ja auch nicht, warum die Frau nie unter den literarischen Blogs auftaucht, während es dem Don Dahlmann dazu locker reicht.
Persönlich: Ich wurde im Magazin der Mediengewerkschaft comedia „prominent“ erwähnt, wie mir der Journalist Daniel Bouhafs schreibt, der mir freundlicherweise auch ein PDF davon zur Verfügung stellt. Danke schön.

Religion als Springform

Krippe 2005

Religion ist kein Bedürfnis, Religion – jede – ist ein Antwortsystem auf komplizierte Fragen. Und offensichtlich nicht das beste.

Schreibt shift. Geprägt von Glitzerpapier, Tannenbaumerwerb und Backen, würde ich ergänzen, dass Religion auch die Form um einen Rest Tradition ist. Obwohl unsere Familie ungetauft und wir Eltern weder konfirmiert noch verheiratet sind, sind unsere Abweichungen von der Tradition marginal. Das Kind hat dieses Jahr zum Beispiel die Beteiligung der Piraten an der Krippe durchgesetzt, während ich fand, die drückten zu sehr auf die Frauenquote. Es wäre aber weder mir noch dem Kind eingefallen, keine Krippe aufzustellen.

Grossmama packt aus

Irene Dische, Grossmama packt aus
Dische, Irene
Grossmama packt aus
Hoffmann und Campe 2005
Originaltitel: Pious Secrets

Doch, ich bin mit Korrigieren im Hintertreffen und mit der Wäsche auch, danke der Nachfrage. Die Hauptschuld trifft ein Buch oder noch besser, seine Autorin. Denn Irene Disches „Grossmama packt aus“ hat mich am 15. Dezember kalt erwischt und hat nicht nur meine Zeit gestohlen, sondern sich selbst auch gleich in die Liste meiner diesjährigen Favoriten.
Eigentlich ist Lob für das Buch und die Autorin entbehrlich, selbst vor Matthias Matussek haben die beiden bestanden. Aber ein paar Ausschweifchen kann die Buchhändlerin sich nicht verkneifen.
Irene Dische wurde von Hans Magnus Enzensberger für den deutschsprachigen Raum entdeckt. „Fromme Lügen“ schaffte es dank der „Anderen Bibliothek“ zum Geheimtipp zu werden, verkaufte sich über lange Zeit erfreulich und machte Dische hier zum Begriff. So ehrenvoll gestartet, hat sie sich weiter eine treue Leserschaft erschrieben und zusammen mit ihrem Entdecker und Michael Sowa eines der schönsten Kinderbücher gemacht. Seit dem Roman, den ich vor zehn Minuten beendet habe, weiss ich auch, dass „Esterhazy“ ziemlich viel mit Disches Familie gemein hat. Es gelingt dem kleinen, von Pralinen und Intelligenz degenerierten Hasen eine grosse, Möhren fressende Häsin im Niemandsland der Berliner Mauer zu angeln und – durch einen mutigen Schritt Richtung Mischehe – seine Erbanlagen aufzupolieren. Och, ich bin ja in der falschen Buchbesprechung. Entschuldigung.
Die begnadete Erzählerin hier ist Irene Disches Grossmutter mütterlicherseits. Die aufrechte Katholikin hatte vor dem zweiten Weltkrieg und zum Missfallen ihrer Familie einen konvertierten ehemals jüdischen Chirurgen geheiratet, Irenes Grossvater. Zusammen hatten sie ein einziges Kind, Disches Mutter Renate. Den dreien gelang gestaffelt und knapp rechtzeitig die Flucht nach Amerika, während der jüdische Teil der Familie mit Ausnahme eines missratenen Bruders in Australien, gänzlich ausgelöscht wurde. Die Eltern blieben auch in Amerika gradlinige Katholiken, ja sie flohen vor den Juden New Yorks sobald wie möglich in die Peripherie. Dies mit dem Ergebnis, dass Renate im Laufe ihres Lebens drei jüdische Männer ehelichte, wovon der erste und für die Eltern Verabscheuenswürdigste, der Vater ihrer beiden Kinder wurde. Die Grosseltern liebten Irene und ihren Bruder Carlchen, aber der Dische-Anteil wurmte die Grossmutter bis zum Urenkel und über ihren eigenen Tod hinaus.
Das ist der Handlungsfaden. Er führt durch das Eheleben, dessen Mischcharakter tunlichst verschwiegen wird, durch die ersten Kriegsjahre, durch die Emigration, durch Geschlechterkampf, den Aufstand des Nachwuchses zweier Generationen, durch einen absolut verdrängten Holocaust, der erst in den Todesstunden wieder sichtbar wird.
Das Herausragende ist die Erzählperspektive, die Schwermut wird konsequent weggelassen, aber nicht etwa auf Kosten der Emotionen, mit denen sich die Autorin spielend meine höchste Konzentration holte. Dieses Buch ist ein weiterer Beweis für meine These, dass in der zeitgenössischen Literatur Frauen die Tragikomödie dominieren, in sämtlichen Gattungen.

L’Unité d’habitation de Marseille

Jacques Sbriglio, Le Corbusier: L'Unité d'habitation de Marseille
Sbriglio, Jacques
Le Corbusier:
L’Unité d’habitation de Marseille
The Unité d’Habitation in Marseilles
Birkhäuser 2004

Müsste ich dieses Buch beschlagworten, gehörte es zu den Architekturführern. Es zeigt – zweisprachig – die Geschichte der ersten Wohnsiedlung, die Le Corbusier nach dem zweiten Weltkrieg gebaut hat. Das Buch ist ausgezeichnet gemacht. Dank reichem Dokumentationsmaterial sowie Ergänzungen, Quellen, Bauchronologie und technische Daten im Anhang, ist es genau von der Qualität, die ich an Birkhäuser so schätze.
Aber da ist noch viel mehr drin als Architektur, nämlich Geschichte und Soziologie. Die „Unité“ (auch „Le Corbu“ genannt) wurde von 1945 bis 1952 erbaut, 1955 wurde die dazugehörige Schulanlage eröffnet.
Es ging damals einerseits um Wiederaufbau, andererseits waren in Kriegszeiten Projekte hängen geblieben, die so, wie ursprünglich geplant, gar nicht mehr umgesetzt werden konnten. Vieles hatte sich verändert, der Wohnungsbedarf war enorm, allein in Marseille waren 32’000 Familien auf Wohnungssuche. Der französische Staat war sich der Probleme bewusst und gründete 1945 ein Ministerium, das sich allein mit dem Städtebau beschäftigen sollte, das MRU (Ministère de la Reconstruction et de l’Urbanisme). Und de Gaulle waren klug genug, sich die Besten zu holen. Er übergab die Führung Raoul Dautry, der Le Corbusier für ein erstes Projekt gewinnen konnte, indem er ihm versprach, er hätte nichts mit dem Einholen von Bewilligungen zu tun.
Der Bau der „Unité“ wurde samt seiner durchdacht gestalteten Umgebung zu einem Vorbild, sowohl für weitere Bauten Le Corbusiers sowie für die ersten Elementbauten, wie ich in einem aufgewachsen bin und heute noch wohne. Nicht dass das ohne Pannen und Konflikte gegangen wäre. Das beste Beispiel dafür sind die schriftlichen Anweisungen des Architekten, wie sein Bau zu bewohnen und zu nutzen sei. Er verfasste sie, als das Ministerium 1952 gegen seinen Willen etnschied, die Wohnungen auf dem freien Markt zu verkaufen und mich erinnert der Akt an Luthers Thesenanschlag. Es war der Beginn eines neuen architektonischen Zeitalters.
Ich möchte nicht behaupten, wenn man sich an Le Corbusiers Thesen gehalten hätte, wäre alles gut. Aber ich bin sicher, die Entwicklung in den Vorstädten (ob Plattenbau oder Banlieu) wäre besser verlaufen. Le Corbusiers Spielplatz auf dem Dach der „Unité“ ist etwas vom Schönsten und Sorgfältigsten, das je für Kinder gebaut worden ist.

Exquisite pain

Sophie Calle, Exquisite pain
Calle, Sophie
Exquisite pain
Thames & Hudson 2004
Originaltitel: Douleur exquise

Dieses Buch ist ein Gesamtkunstwerk. Es verbindet Inhalt und Ausstattung zu einem zeitgenössisches Faksimile. Die autobiografische Geschichte ist schlicht. Sophie, verliebt in den viel älteren Freund ihres Vaters, bekommt auf eigenen Wunsch ein Stipendium für drei Monate Tokyo. Weil sie Tokyo gewählt hat, ohne den Ort auch im Geringsten interessant zu finden, verkürzt sie ihren Aufenthalt, indem sie die Reise verlängert. Sie dokumentiert, angefangen am Gare du Nord, jeden Tag ihrer Bildungsreise akribisch in Worten, Briefen, Quittungen, Zetteln und Fotos.
Fünfzehn Jahre später macht sie damit dieses Buch, zwei Drittel davon sind Vorspann auf ihr unglücklichstes Erlebnis. Sie beginnt mit „92 DAYS TO UNHAPPINESS“ und zählt Seite für Seite rückwärts bis zum Tage null. Jeder Tag ist wunderschön beschrieben, allein mit dem Material, das sie in Asien gesammelt hat. Am Tage null trifft sie nicht wie vereinbart ihren Liebhaber in Delhi, sondern bekommt eine Nachricht, sie solle in Frankreich anrufen. Als sie endlich zu ihm durchdringt, verlässt er sie. Und in diesem Moment schrumpfen alle die Erlebnisse und Erfahrungen zusammen auf dieses Ende.
Da beginnt das letzte Drittel des Buches „After Unhappiness“. Sophie schreibt 94 Varianten des Telefongesprächs, das sie am 25. Januar 1985 im Imperial Hotel in New Delhi von einem roten Wählscheibenapparat aus geführt hat. Dies immer auf der linken einer Doppelseite. Auf der rechten Seite erzählen Sophies Freunde vom Moment in ihrem eigenen Leben, an dem sie am meisten gelitten haben. Diese kurzen Erklärungen sind einmalig, sie ergänzen Sophies Liebeskummer, sie relativieren ihn, sie erzählen ihn neu. Dieses Buch hat Geschichte in sich, persönlich, künstlerisch, literarisch.

kritzelig

Die erste Bloggerin meines Lebens, die Frau Buschheuer, wünscht sich zum 40. nichts als weitergelesen zu werden. Ein Wunsch mit bestechender Logik drin, wie ihn andere der Schreiberzunft oft schmerzlich vermissen lassen, ja, gar negieren und auch noch stolz drauf sind.
Oder vielleicht auch bloss unsicher, wie viele, die etwas schreiben, in die grosse weite Welt hinaus, lauter kleine Hänschens, der Goldklumpen am Ende ein Mühlstein von Glück, jawohl, das wünsch‘ ich der Frau Else.
Und ihren Wunsch kann ich auch machen. Und weitersagen. Zum Beispiel den Text über Schönschreiben in der DDR, vor gut einem Jahr in kult erschienen. Über das Bedürfnis nach der eigenen Schrift und das phasenweise unbändige Verlangen, mikroskopisch klein zu schreiben. Über das Handwerk.

Mit Stil

Comixworkshop im Dezember 2005
Derweil ich heute die Feedbacks der Lernenden zum dezemberlichen Comicworkshop ausgewertet habe, haben viele schon den ersten Sonntagsverkauf hinter sich gebracht, auch die Workshop-Leiterin vom Comix Shop in Basel.
Die Resonanz war sehr gut. Weil ich ja zuerst fundraisen muss, bevor ich solche Sachen machen kann, muss sollte ich danach auch einen Bericht für unsere Schulzeitung „Pegasus“ verfassen und die Spender gebührend verdanken. Und da bin ich gerade dabei.
Wussten Sie, dass Comics „sequenzielle Kunst“ sind und dass ein Comic mindestens zwei Bilder mit Zusammenhang braucht, um ein Comic zu sein? Wussten Sie, dass der erste Comic von einem Schweizer gezeichnet wurde, von Rodolphe Töpffer (1799-1846) ? Und dass die ersten Sprachblasen keine Blasen, sondern das gelbe Nachthemd von „Yellow Kid“ waren? Und dass Hergé für „R“ und „G“ und das wiederum für Rémis, Georges steht? Und dass Hergé sich, genau wie Kästner, ins innere Exil begeben musste? Eben. Solche Sachen haben wir gelernt und über die verschiedenen Stilrichtungen und Mangas, die im Moment 70% der Verkäufe ausmachen, auch noch eine ganze Menge.
Wenn der Artikel geschrieben ist, korrigiere ich noch die ersten fünf Semesterarbeiten von 40, das ist der Preis für meine Langschläferei heute Morgen. Täglich fünf, und ich bin nächsten Sonntag fertig. Es sind interessante Arbeiten, der Auftrag war ein „Verlagsprofil aus Sortimenterinnen-Sicht“ mit dem Ziel, einen Verlag nicht nur vom Programm her, sondern seinen ganzen Auftritt im Buchhandel zu erfassen. Samt seiner Performance an Messen und in der Branchenpresse, samt Vorschauen und Vertretungen in der Schweiz.
Dies alles, damit die angehenden Buchhändlerinnen und Buchhändler auf die guten Taten ihrer Kundschaft angemessen reagieren, den Zusatznutzen des stationären Buchhandels völlig natürlich demonstrieren und so – dank Sorgfalt, Geist und Nähe – der Gang in den Buchladen für alle zum Beginn einer wunderbaren Freundschaft werde.

Lesemotiv

Wenn ich nach eine Motiv in meiner Buchwahl fahnde, so komme ich zum Schluss, dass diese neben Unterhaltung, neben Ästhetik von Sprache und Bild vor allem von Menschenrechten geprägt wird. Die Frage, was Menschen denn sonst dazu treiben sollte, gute Bücher zu machen und zu verbreiten, ist natürlich berechtigt.
Jedenfalls habe ich den internationalen Tag der Menschenrechte zum Anlass genommen, mich auf die besten Bücher 2005 festzulegen. Da ich sie zum ersten Mal im Leben nicht verkaufen muss, sondern jedes veraltete Billigbuch hochloben könnte, habe ich beschlossen, aus der neuen Freiheit etwas zu machen und die Millionste Bücher-Kategorie in die virtuelle Welt zu setzen.
Etwas später als bei anderen und nicht festgelegt auf eine bestimmte Menge (im Vorjahr hatte ich nur acht) hier also meine gelesenen Meisterstücke des ausklingenden Jahres:

  • Tahar Ben Jelloun, Der letzte Freund / Berlin Verlag 2004
  • Sopie Calle, Exquisite pain / Thames & Hudson 2004
  • Will Eisner, Das Komplott, die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion / DVA 2005
  • Anne Frank Haus, Die Geschichte der Anne Frank / Oetinger 2005
  • André Glucksmann, Hass / Nagel & Kimche 2005
  • George Orwell, Farm der Tiere & Die Pressefeiheit / Neuauflage illustriert von F.K. Waechter, Diogenes 2005
  • Charlotte Rivers, Corporate Design / steibner 2003
  • Marjane Satrapi, Sticheleien / Edition Moderne 2005
  • Rudolf Leiprecht und Anne Kerber (Hrsg.), Schule in der Einwanderungsgeselschaft / Wochenschau Verlag 2005
  • Jacques Svriglio, Le Corbusier: L’Unité d’habitation de Marseille / Birkhäuser 2004
  • Ko Un, Die Sterne über dem Land der Väter / Suhrkamp 2005
  • Kaspar Wolfensberger, Glanzmann / Appenzeller Verlag 2004
  • Ich werde diese Titel nach und nach bis Jahresende besprechen. Die Freunde der Belletristik möchte ich warnen, denn es sind nur zwei Romane dabei.
    Weiter lesen: Das bereits 2004 erschienene Buch Bild der Menschenrechte kann ich jedem nur nahe legen. Bei mir gehört es neben den Wörterbüchern zu den meist benutzen Büchern. Es ist Humanwissenschaft, Lexikon, Geografie und Geschichte in einem. Es ist heute noch einmal von Swissinfo besprochen worden. Dort hat es auch eine Bildgalerie, die jeden Grundsatz der Menschenrechte einzeln illustriert.