Die Welt war schwarzweiss

als ich darauf ankam. In unserem Freundeskreis befand sich meistens ein Fotograf. Ich erinnere mich an den ersten meiner Kindheit nicht mehr, aber immerhin hat er mir ein Portraitbild hinterlassen. Aus dieser Zeit in den frühen Siebzigern gibt es hauptsächlich Fotos in Serien von mir. Aufnahmen vor dem gleichen Hintergrund und in den gleichen Kleidern. Die Kamera war selten im Einsatz und die Ergebnisse blieben lange ein Gesprächsthema.

  • Ich mag dieses Bild wegen der Diagonalen.
  • Ich mag dieses Bild, weil ich alles denken könnte.
  • Ich mag dieses Bild, weil die Erwachsenen und der Mond verschwommen sind, ich aber klar und skeptisch.
  • Ich mag dieses Bild, weil es ausgewogen ist und den Überseekoffer zeigt, an dem ich demnächst laufen lernen werde.
  • Je älter ich wurde, desto farbiger wurde die Bilderwelt. Ich erinnere mich gut an mein erstes Kinderbuch „Die Legende von Sankt Nikolaus“, an dem ausser dem Titel weissgott nichts Farbiges zu finden war. Aber danach wurde die Farbigkeit modisch, weil sie zur ersehnten Vielseitigkeit passte und vor allem, weil sie erschwinglich wurde. Sicher begegneten die meisten meiner Generation der Werbung für die Kodacolor-Filme, die die anderen natürlich zuerst hatten, genauso wie das Farbfernsehen.
    Was mich an den Fotoalben der Siebziger fasziniert, ist deren Sorgfalt. Viele Mütter – wie beispielsweise die von der kaltmamsell – führten den Erinnerungsrealismus ein, indem sie begannen, die Kinder mit dem geschenkten Dreirad, vor der neuen Wohnung, am ersten Schultag und auf dem Osterspaziergang abzulichten. Wir verdanken ihnen wundervolle Dokumentationen, die in ihrer Summe eine eigene Kunstform ausmachen: fern von der Steifheit der früheren Portraits und ebenso weit weg von dem heutigen Sekundenschnappschüssen. Für ihr gutes Auge und die dazu gehörige kreative Arbeit an zahlreichen Fotoalben bewundere ich diese Müttergeneration.

    Adventskranzkerzen

    Weil ich letztes Jahr weder Adventkranzkerzen erworben noch solche gezogen habe, ist mein diesjähriger Adventskranz ein Resten-Kranz aus selber gemachten und gekauften Kerzen in drei Farben. Und weil mir das schon zu bunt ist habe ich das weihnächtliche Dekor ganz weggelassen.
    Dafür habe ich heute in Bethlehem vier passende Bienenwachkerzen gezogen. (Vor dem Quartierzentrum Tscharnergut wird jährlich extra eine Holzhütte dafür aufgestellt; das sonntägliche Kerzenziehen dort sei frohgemut empfohlen.) Den nächsten ersten Advent sollte ich also wieder stilecht begehen können. So Gott will und wir leben – wie meine Grossmutter zu sagen pflegte.
    >Adventskranz 2007<

    Tischgespräch [30]

    Kind:
    Ist es wirklich soooo peinlich mit seinen Eltern über Sex zu sprechen?
    Mutter:
    Ich fand es.
    Vater:
    Ich auch.
    Kind:
    Aber gerade so wie bei Zits? Jeremy hat so einen Sexfilm „ab 16“ geschaut. Seine Mutter sagt dann, es sei Zeit, dass sie sich zusammen über das Thema Sex unterhalten. Jeremy fleht um eine mildere Strafe, zum Beispiel eine Tracht Prügel.
    [Allgemeines Grinsen.]
    Mutter:
    Was findest du denn? Peinlich oder nicht peinlich?
    Kind:
    Also seit Kurzem finde ich es auch peinlich. Aber zum Glück haben wir schon vorher drüber gesprochen. Ich weiss ja alles, was ich bis 16 brauche. Ich habe schon alles gefragt. Alle Bücher sind gekauft.
    Vater:
    Lesen kannst du sie ja später immer noch.

    Mitten unter uns

    Ich habe viele Jahre bei einem Integrationsprojekt des Roten Kreuzes mitgemacht. Es hiess und heisst noch „mitten unter uns“. (Der Mann im Haus nannte es fälschlicherweise immer „Kraft durch Freude“ und ich fand das gar nicht so schlimm wie man meinen könnte, aber darum geht es jetzt nicht.)
    Ich habe die Fortschritte der Kinder stets so gut dokumentiert, wie es zwischen Pizzateig und Abfalltrennung, Verkehrsregeln und Hausaufgaben eben ging. Einige Kinder haben es geschafft sich soweit zu integrieren, dass ihnen mindestens die Türen zu den unteren Stockwerken offen stehen. Andere sind weiter gezogen und ich habe den Kontakt verloren. Wieder andere sind in Sonderklassen oder gar in Heimen gestrandet. Ganz abgestürzt ist meines Wissens keines meiner Mitten-unter-uns-Kinder.
    mitten unter uns 1mitten unter uns 2mitten unter uns 3
    mitten unter uns 4mitten unter uns 5mitten unter uns 6
    mitten unter uns 7mitten unter uns 8mitten unter uns 9
    Wenn ich meine Unterlagen heute anschaue, muss ich lachen über meine Pedanterie in solch einem erklärt niederschwelligen Projekt. Was ich notiert habe, ist hingegen oft zum Heulen. Am 17.10.2003, am 24.10.2003, am 31.10.2003 und am 7.11.2003 hat ein Kind immer geweint, kaum hatte es die Türe hinter sich geschlossen. So lautlos, wie ich es vorher und nachher nie erlebt habe. Es stand einfach stocksteif, während die Tränen in kleinen Bächen endlos an ihm herunterrannen und schliesslich auf den Boden tropften. Trost und Ablenkung war durch die heldenhafte Yugiho-Charaktere möglich, allen voran durch den weissen Drachen, welchen ich jeweils via Scanner von Karten- auf A4-Format vergrösserte. Am 14.11.2003 hat das Kind erstmals seit einem Monat nicht geweint, da hatte ich es nämlich von der Schule abgeholt und bin mit ihm Yugiho-Karten-Mäppchen kaufen gegangen. Am 21.11.2003 hat es dann wieder geweint.
    Im Dezember 2003 wurde die Lage einfacher, weil ich endlich begriffen hatte, dass das Kind in jedem Raum volle Beleuchtung brauchte. Die Lehrerin hingegen unterrichtete von da an hauptsächlich bei Adventskranz-Kerzenlicht und das Kind schmiss kurz vor Weihnachten mit dem Locher eine Scheibe des Schulzimmers ein. Es wurde im Februar darauf in eine Sonderklasse in einem anderen Quartier überwiesen.

    Glass Onion

    I told you about strawberry fields
    You know the place where nothing is real
    Well here’s another place you can go
    Where everything flows.
    Looking through the bent backed tulips
    To see how the other half live
    Looking through a glass onion.
    I told you about the walrus and me-man
    You know that we’re as close as can be-man
    Well here’s another clue for you all
    The walrus was Paul.
    Standing on the cast iron shore-yeah
    Lady Madonna trying to make ends meet-yeah
    Looking through a glass onion.
    I told you about the fool on the hill
    I tell you man he living there still
    Well here’s another place you can be
    Listen to me.
    Fixing a hole in the ocean
    Trying to make a dove-tail joint-yeah
    Looking through a glass onion.

    Glass Onion, Track 3, Disc 1, „The Beatles“ 1968 by EMI Records Ltd.
    Er: „Das weisse Album ist gar nicht Musik.“
    Ich: „Beatles ist etwas anderes. Aber was?“
    Er: „Es ist.“
    Die waren überall und gehörten dazu, sie waren uns eigen. Ich schaute als Kind durch ein Glas Silberzwiebeln in die bunte Ob-La-Da-Welt der Erwachsenen, die im Tränenmeer der Gitarre schwammen und leise von kleinen Mondsicheln überzogen wurden bis ich aufwachte, weil der Waschbär grunzte.
    Ich war längst selber erwachsen, als ich merkte, dass das einsame Geräusch zu den Piggies und nicht zu Rocky Raccoon gehörte. But it never really mattered, I will always feel the same.

    Diversifikation

    Diversifikation ist das, was den Nischen-Buchhandlungen gemeinhin geraten wird, wenn sie Existenzangst äussern. Auch ich lasse die Kunst der „Ausweitung des Waren- oder Produktionssortiments eines Unternehmens“ natürlich in den Unterricht einfliessen, wo ich kann.
    Allerdings halte ich immer noch am Schwerpunkt Bücher fest, weil ich der Meinung bin, dass wer ein Buch verkaufen kann, jedes andere Produkt auch losbringt. Denn Waren zu verkaufen, die sich mechanisch und äusserlich kaum voneinander unterscheiden – Waren, bei welchen der Verkäufer nur mit dem Inhalt trumpfen kann – Waren, die vom Käufer erst noch eine lautlose und unteilbare Eigenleistung erfordern bevor sie ihren Wert preisgeben – das ist anspruchsvoll.
    Aber eigentlich wollte ich etwas anderes notieren. Den neusten Diversifikationsbeweis aus einer Branchen-Nische. Seit Wochen suche ich eine geeignete Aufhängevorrichtung für den Adventskalender für meine noch ziemlich kleine Nichte. Falls sie an den Säckchen reissen würde, möchte ich, dass die Eltern diese höher hängen können. Falls sie das System „nur-ein-Säckchen-pro-Tag“ schon begreift, sollte das aktuelle Säckchen in Reichweite präsentiert werden.
    Bin ich im Bastelzentrum fündig geworden? Oder bei IKEA? Nein. In einer Buchhandlung.

    Kartenaufhänger -Adventskalender 2007

    Ich habe bei Weyermann einen erstaunlich stabilen und kostengünstigen Aufhänger für spirituelle Energiekarten erworben und der funktioniert wunderbar.
    Ich bin eine Buchhandelspatriotin, ich weiss.

    Je leichter das Leben

    Hannah Arendt fotografiert von Lotte Köhler

    Je leichter das Leben in einer Arbeits- und Konsumentengesellschaft wird, desto schwerer ist es, den Druck und Zwang des Notwendigen, die das gesellschaftliche Leben treiben und antreiben, auch nur wahrzunehmen, weil die äusseren Kennzeichen der Notwendigkeit, die Mühe und Plage, fast verschwunden sind. Die Gefahr einer solchen Gesellschaft ist, dass sie, geblendet von dem Überfluss ihrer wachsenden Fruchtbarkeit und gefangen in dem reibungslosen Funktionieren eines endlosen Prozesses, vergisst, was Vergeblichkeit ist.

    Vorhin habe ich in meinem Tagebuch von 1992 geblättert. Ich hatte vor fünfzehn Jahren offenbar Arendt gelesen, Eichmann und gleich darauf Vita activa.
    (Die Lektüre hat mich gemäss eigener Tagebuchaussage sehr beeindruckt. Heute wüsste ich kaum mehr, dass ich die Bücher überhaupt je gelesen hatte. So ist Lesen vielleicht doch lediglich ein Bluff aus der Vergangenheit oder ein Hirntraining, das man auch in anderer Form absolvieren könnte.)
    Für die Quellenangabe „Je leichter das Leben“ weiterlesen

    Umfrage bei Ehemaligen

    Lehrerinnen und Lehrer arbeiten vielleicht nicht alle gleich, aber Ähnlichkeiten gibt es entweder weil etwas gut ist oder weil es einfach alle so machen. Ich dachte zum Beispiel, ich könne mich dieser blöden Planung mit Kalenderwochen entziehen – aber mitnichten. Das geht nicht im Schulwesen. Ich halt jetzt auch.
    Das Wochende der Kalenderwoche 46 ist reserviert für eine Umfrage. Ich schicke allen, die die Lehre vergangenen Juni abgeschlossen haben, ein Wie-geht-es-denn-so?-E-Mail. Darin frage ich auch Konkretes. Und das geb ich dann dem Jahrgang, der nächsten Juni abschliessen wird, weiter. Zu dem Zweck mache ich mit meiner Kollegin einen Perspektive-Halbtag im Februar (ich berichtete).
    Weil niemand von mir eine lückenlose Erhebung erwartet und weil ich mich nicht langweilen mag, stelle ich nicht immer genau die gleichen Fragen. Heuer habe ich gefragt:
    1. Ihre momentane Arbeits- und Lernsituation?
    2. Wie und warum sind Sie dort hingekommen? (Umwege, Anfragen?)
    3. Gefällt es Ihnen? Zukunftspläne?
    Innerhalb weniger Stunden hatte ich bereits acht Antworten. Jemand schrieb aus Amerika, zwei aus England, alle hatten beeindruckend konkrete Pläne für die Zukunft, zwei auf mehrere Jahre hinaus. Fast alle machen bereits eine Weiterbildung oder planen eine solche: Fremdsprache, Berufsmaturität, Detailhandelsspezialistin.
    Klar versuche ich im Voraus zu erraten, was die Lernenden ungefähr machen. Von vielen weiss ich es, weil wir sowieso in der Branche den Kontakt pflegen. Doch dieses Jahr hatte ich erstmals ein Reply von jemandem, der unverzüglich aus der „Mailingliste“ gelöscht werden wollte. Ich gebe gerne zu, dass ich ein wenig beleidigt war. Üblicherweise antworten Ehemalige die der Meinung sind, was sie täten ginge mich nichts an, einfach nicht und kriegen natürlich nie wieder eine Anfrage. Doch mehrheitlich melden sie sich wohl wissend, wie froh sie selber um diese konkreten Perspektiven gewesen sind.