Zettelkasten fürs Wahljahr (1)

(…) Einstweilen sitzt der Politik- und Informationskonsument im heimatlichen Sessel, begutachtet mit dem wählerischen Trotz eines verwöhnten Kindes die Angebote der Parteien und reagiert mit beleidigter Politikverdrossenheit, wenn seine persönliche Bedürfnispalette nicht abgedeckt wird. Ursprünglich war Demokratie als ein Verfahren gedacht, das es den Bürgern ermöglicht, sich in Interessengemeinschaften zu organisieren, um ihren Anliegen Ausdruck zu verleihen. Erwartet wurde, dass ein Mensch, der unzufrieden ist und sich für oder gegen etwas einsetzen will, das Ruder in die Hand nimmt. Dass er einer Partei beitritt, seinen Abgeordneten aufsucht, an einer Gewerkschaftssitzung teilnimmt, zur Demonstration geht, eine Bürgerinitiative gründer oder wenigstens einen wütenden Leserbrief schreibt. Menschen, die das tun, gibt es glücklicherweise immer noch. Viele andere aber erwarten von der Politik, dass sie „abgeholt“ und „mitgenommen“ werden. (…)

Juli Zeh in einem Vortrag im Wintersemester 2011/2011 im Rahmen der 24. Tübinger Poetik-Dozentur unter dem Titel „Aufgedrängte Bereicherung“. Heute in gekürzter Fassung in Der Bund.
Das ist der erste Beitrag zu meinem bloggischen Zettelkasten, den ich für das kommende Wahljahr anlege. Wir wählen 2011 in der Schweiz unsere Vertreterinnen und Vertreter ins Parlament.

Weihnachtsgruss

Ich bin in den letzten Tagen viel gereist und konnte deswegen so schön in einem Zug(e) lesen. In Basel und in Sarnen habe ich Buchhandlungen besucht, die neu mit der Ausbildung begonnen haben oder beginnen werden. Beides buchhändlerische Leckerbissen!
Nasobem, Basel
Dillier, Sarnen
Auf dem Weg habe ich mich natürlich nach weitern Buchhandlungen umgschaut, die auch ausbilden könnten und ein paar meiner fleissigen Azubis in grossen Geschäften besucht. Ich mache solche Visiten am allerliebsten in der Hochsaison, dann sehe ich die verschiedene Abläufe in den Buchhandlungen im Zeitraffer und lerne schnell, wie ein Laden funktioniert. Das ist für mich als Buchhändlerin, Buchhändlerinnen-Lehrerin und Leserin gleichermassen eine Wonne.
Jetzt aber Weihnachten!
Ignorieren Sie die ungelösten Konflikte in der Familie und auf der Welt, geniessen Sie ein paar analoge Tage mit lieben Leuten, feinem Essen und guten Büchern.

Jack Taylor: (m)eine Neuentdeckung

Der Dezember ist ein harter Monat. Scheiss auf die ganze Festvorbereitung. Wenn man allein ist, foppt sie einen an jeder Ecke. Man schlägt ein altes Buch auf und findet eine Liste von Freunden, denen man einst Karten geschickt hat. Jetzt sind sie alle tot oder verschwunden.
Selbst wenn man (noch) Adressaten hat, selber gesund und nicht besonders einsam ist, kann der Dezember einen hart ankommen. Die klirrende Kälte treibt die Kranken und Süchtigen in die Trams, die Warteräume, die öffentlichen Toiletten, in die Windfänge der Restaurants und Entrées der Schulhäuser und führt einem mehr gesellschaftliche Mängel vor Augen, als man ertragen möchte.
Der Fernseh ist mit Spielsachen für Kinder vollgestopft, die man nie hatte, und jetzt ist es ein bisschen spät dafür, ein bisschen sehr spät. Das Radio spielt Balladen, die einst mit Bedeutung oder gar Hoffnung befrachtet waren.
Aufrufe, sich um Bedürftige zu kümmern oder für sie zu spenden schwirren durch den Äther. Vorangegangen ist ein Jahr demokratischer Lieblosikeit, in dem Menschen mit ein wenig Geld auf Menschen mit wenig Geld gehetzt und Menschen mit dem meisten Geld hofiert wurden. Saisongerechtes Mitleid ist folgerichtig.
Es heisst, das ganze Ausmass der Einsamkeit erschliesse sich erst in der Küche, wenn man eine Einzelmahlzeit bereite. Alles nur Einzelstücke: eine Tasse, ein Besteck, ein Teller und höchstwahrscheinlich auch nur ein einziger lausiger Plan.
Das ist das Besondere der Jack-Taylor-Romane: Man braucht nicht reinzukommen. Man ist von Anfang an drin, kriegt mehr als genug Gelegenheit, sich Gedanken zu machen ums Dasein. Ich habe den zweiten Band zum Geburtstag erhalten, fühlte mich unerklärlicherweise angesprochen von diesem verkoksten, heimatlosen, lesenden Säufer, der widerwillig Fälle löst oder vermurkst. Habe dann den ersten Band sofort nach-gelesen und bin jetzt am dritten, aus dem auch die obige (kursiv geschriebene) Stelle stammt.
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Notiz in kollegialen Zeiten

Wir haben in der Schule meistens ein gutes Klima untereinander, in der Regel gelingt uns eine Kollegialität, die ihren Namen verdient, aber nicht permanent beim Namen genannt werden muss. Aber eben halt nicht immer. Deswegen sei hier und heute notiert, dass ich einige kollegial gesehen perfekten Schulwochen hinter mir habe, die letzten Freitag ein in jeder Hinsicht bekömmliches Weihnachtsessen mit über hundert Kolleginnen und Kollegen krönte. Heute war ich zusammen mit dem Mann privat bei einem Lehrerkollegen eingeladen und habe es erneut sehr genossen. Wir redeten ein wenig über die Schule, ein wenig über das Leben, ein wenig über das Essen und ein wenig über die Welt, schauten in die Nacht hinaus auf das beleuchtete Schloss und den schwarzen See, in dem sich die Weihnachtsdekoration des Berner Oberlandes spiegelte.
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Panta rhei

Seit gestern habe ich – beruflich – sechzig Karten zum Jahresende geschrieben. Und das richtig gern. Die heurige Jahresendkarte meines Arbeitgebers kam dem sehr nahe, was ich gemacht hätte, wenn ich selber hätte wählen können. Entstanden war sie aus einem Wettbewerb für alle Lernenden unserer Schule. Ich fand den ersten Preis von 700 Sfr zwar attraktiv, aber mit fünfzig Einsendungen hätte ich nicht gerechnet. Das ist ein schönes Ergebnis für eine kaufmännische Schule, in der diese Art Kreativität wahrlich ein Schattendasein fristet. Alle fünfzig Einsendungen bleiben noch bis Weihnachten ausgestellt, die drei besten wurden prämiert.
Aber ich schreibe grundsätzlich gerne Weihnachts- und Neujahrswünsche, weil ich dann einen guten Grund habe, mein Berufsjahr und die Menschen darin Revue passieren zu lassen. (Bei anderen Arbeitsstellen musste ich jeweils Jahresberichte schreiben. Erst kostete mich das Überwindung, heute fehlt es mir fast.) Ich klicke bei der Gelegenheit also mit Elan durch meine Agenda 2010, schaue, mit welchen amtlichen Stellen ich viel zu tun gehabt habe, wem ich besonders oft begegnet bin oder mit wem ich in einer Arbeitsgruppe oder Kommission war. Und ich sehe in meiner Weihnachtskarten-Datei, wem ich im Vorjahr geschrieben habe und kann daraus ableiteten, mit wem ich ein Jahr keinen Kontakt hatte. So ist das:
Alles fliesst.
Jahresendkarte WKS 2010

Ab(schied) in den Weihnachtsverkauf

Wir haben schulfreie Zeit, weil die Azubis seit dieser Woche voll in den Buchhandlungen arbeiten. Dort werden sie nämlich immer gebracht. Wenn das Geschäft schlecht läuft, sind in der Spitzenzeit zu wenig Leute angestellt und es gibt viel Putz- und Einpackarbeit, welche die Azubis verrichten. Und wenn der Laden gut läuft, braucht es in dieser Zeit erst recht jeden und jede.
In der letzen Stunde durften die Klassen des ersten Lehrjahres bei mir wünschen, was sie machen wollten. Sie haben – etwas ungläubig wie mir schien – gefragt, ob sie wirklich ganz frei wählen dürften? Da wurde ich selbst unsicher und dachte, sie würden wohl einfach länger Pause machen oder früher nach Hause gehen wollen. Ich lag jedoch völlig falsch! Die eine Klasse wünschte sich, das Geschenkpakete machen zu üben, die andere wollte…
… Weihnachtslieder singen! Beide Klassen brachten das Material von Einpackpapier bis Notenblätter selber mit. Ich musste fast nichts machen und es sind traumhafte Stunden geworden.
Päckli-Stunde BB1A_2010 Päckli-Stunde BB1A_2010
Päckli-Stunde BB1A_2010 Päckli-Stunde BB1A_2010
Päckli-Stunde BB1A_2010 Päckli-Stunde BB1A_2010

Unterrichtsthema: Der Verlagsvertreter

Handelsreisende geniessen keinen uneingeschränkt guten Ruf, doch ihre Berufung ist in Literatur, auf Theaterbühnen und im Kino schon erfolgreich verarbeitet worden. Nicht nur in Tod eines Handlungsreisenden; noch sehenswerter zum Thema wäre Glengarry Glen Ross und sogar das mathematische Traveling Salesman Problem bleibt ein Dauerbrenner.
Besser ist das Renommé des Verlagsvertreters. Er gilt uns im Buchhandel mehr als vielseitiger Kollege denn als einseitiger Verkäufer. Buchhändlerinnen und Buchhändler, die ihr Metier verstehen, pflegen die Geschäftsbeziehungen zu Verlagsvertreterinnen und -vertretern sorgfältig und langfristig. Niemand kennt die regionalen Absatzmöglichkeiten so gut, niemand hat die Termine, zu denen Autorinnen und Autoren in der Gegend, im Radio oder Fernsehen auftauchen, früher in seiner Agenda notiert, niemand weiss so genau Bescheid über die Absatzzahlen der Bücher eines Verlages in einem bestimmten Markt. Und kaum einer ausserhalb der Buchhandlung ist so interessiert an deren Erfolg wie ein Verlagsvertreter, denn er ist immer am Umsatz beteiligt. Und zwar – strenger als andere Handelsreisende – an dem Umsatz mit den Büchern, den die Buchhandlungen wirklich den Endkunden verkaufen. Rücksendungen von Buchhandlungen werden dem Verlagsvertreter wieder vom Umsatz abgezogen. Er verdient also nichts an Büchern, für die Buchhandlungen keine Kundschaft finden.
Weil die Geschäftsbeziehung mit Verlagsvertretungen für uns im Buchhandel so wichtig ist, steht sie natürlich in der Ausbildung prominent in den Lernzielen, sowohl in denen der Lehrfirma wie auch in denen der Schule. Ich achte deshalb darauf, dass jeder Jahrgang von Azubis mindestens einmal genug Zeit bekommt, einem Verlagsvertreter zuzuhören und Fragen zu stellen. Verlagsvertreterinnen und Vertreter kommen gern bei uns vorbei. Umgekehrt sollen dabei natürlich auch die Azubis etwas tun. Dieses Jahr war Anfang November ein Vertreter bei uns. Nach dem Besuch haben wir in der Klasse die Notizen zusammengetragen und daraus ein kleines Dossier Der Verlagsvertreter gemacht.
Diesen Stoff habe ich nun letzte Woche zusammen mit zwei anderen Themen des Wareneinkaufs geprüft. Auch wenn es vielleicht mehr Arbeit gibt: Es lohnt sich in der Berufsfachschule, die Azubis etwas entwickeln zu lassen, man kann das gut für Tests verbindlich erklären. Erstens arbeiten die meisten Azubis gerne so und zweitens laufe ich als Lehrerin nicht Gefahr, Veraltetes zu prüfen.