Tagebüchliches am (Ab)Stimmungssonntag

Abstimmungssonntage, an denen ich auf ganzer Linie verlieren werde, gehe ich besonders ruhig an. Ich habe ein bisschen ausgeschlafen, erstmals seit Tagen nicht das Gefühl gehabt, mit einem Meissel an meine Stirnhöhlen zu müssen und noch vor dem Kaffee die erste Kerze am Kranz angezündet. Danach habe ich den zweiten Adventskalender übergabefertig gemacht und den Mann bei den Zahlungen und Abrechnungen und Kündigungen irgendwelcher unnützer Abonnemente und Versicherungen zu Jahresende unterstützt. Auch den Elan für eine klitzekleine Beschwerde zu Handen der Kind-Schule habe ich aufgebracht und ein wenig Wäsche gewaschen. Gleichzeitig ist es mir nicht gelungen, eine Stellvertretung für eine kranke Lehrerin zu organisieren, unter anderem wohl, weil die (zum Glück nur leicht) verunfallte ihrerseits schon eine Stellvertretung ist. Nachmittags dann erstmals Kommunikation mit anderen, die in Sachen Ausschaffungsinitiative zwar anders abgestimmt haben als ich, aber merkwürdigerweise schockierter sind (mein Tipp war – das Kind ist mein Zeuge – 52% für die Initiative und 46% für den Gegenvorschlag). Es folgte ein Spaziergang durch den Schnee, die Suche eines Briefkastens (ja, der Service Public), die Übergabe der Adventskalender und eine gemütliche Runde zum Zvieri mit aufgewecktem Nachwuchs >2 J., der hoffentlich dereinst alles ein wenig besser machen wird. Nach Gesprächen über Bücher und Bibliotheken, Politik und Weihnachtsbraten kehrte ich zurück an den PC und versuchte die Aktualisierung einer älteren Powerpoint-Grafik, die nur mühsam gelang und bei der ich mich gern von den Erkenntnissen im Lehrerzimmer über die lehrer’sche Buchauswahl ablenken liess. Am Ende des Tages machte ich beschwingt das Update der Quartierswebsite und hatte eine erbauliche Telefonsitzung, in der – obwohl rein beruflich – die gleiche Frage aufkam, über die wir uns vor dem heutigen Tag politisch so heftig gestritten hatten: Bekämpft man einen falschen Vorschlag bis zum bitteren Ende oder bis zum schwierigen Kompromiss? Ist es legitim nachzugeben, wenn ein Kampf nicht zu gewinnen ist? Ich finde, wir müssten uns trotz aller interlinken Feindseligkeiten etwas genauer überlegen, ob wir mit unserer Prinzipientreue nicht unsere Ziehkinder zerreissen. Denn uns, der politischen Minderheit in diesem Land, werden noch viele Kreidekreise vorgezeichnet werden.

Es schneit

es läuft die Nase
es schneit
es ist Elternabend
es schneit
es ist Weihnachtsessen
es schneit
es kratzt der Hals
es schneit
es ist Stellvertretung
es schneit
es ist Chorprobe
es schneit
es ist Abendverkauf
es schneit
es ist der Adeventskalender soweit
es schneit
es ist eine emsige Zeit

Junger Wein in neuen Schläuchen

Dieses Schuljahr ist für mich vom Unterrichten her anstrengender als andere, weil wir immer noch in der Übergangsphase zwischen der alten und der reformierten Ausbildung stecken. Viele denken, die Berufe würden nach neuen Berufsbildungsgesetz bloss ein wenig aufgepeppt und vor allem zu häufig umbenannt. Von Aussen mag das vielleicht scheinen, aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Ausser Sport hat jedes Fach, das ein neuer Buchhandels-Azubi besucht, mindestens einen neuen Lehrplan oder ist überhaupt neu. Für mich heisst das, dass ich

  • die zwei Klassen des 3. Lehrjahrs nach alter Ausbildung unterrichte und nächsten Juni praktisch, mündlich und schriftlich prüfe,
  • die vier Klassen des 1. und 2. Lehrjahres nach neuer Ausbildung unterrichte und sie am Ende der Lehrzeit mündlich prüfen werde.
  • Konkret bedeutet es, dass ich neu

  • Themen unterrichte, die ich noch nie zuvor unterrichtet habe (Prozessdarstellung zum Beispiel)
  • Themen unterrichte, die ich Jahre nicht mehr unterrichtet habe (Novitäteneinkauf zum Beispiel)
  • Themen, die ich bereits unterrichtet habe, auf anderem Niveau unterrichte (Kennzahlen ein Lehrjahr früher zum Beispiel)
  • keine Doppellektionen mehr habe, sondern nur noch Einzellektionen (45 Minuten), was didaktsich völlig etwas anderes ist.
  • Ich will gar nicht klagen, im Gegenteil, diese Reform war mir ein Riesenanliegen, ich kreiere sehr gerne neue Unterlagen aller Art. Gerade mein neuster Test in einem ersten Lehrjahr – die betreffenden Azubis sind gerade mal vier Monate im Beruf – war ein schöner Erfolg. Ich konnte schon viele ihrer Antworten für das Lösungsblatt verwenden. Damit ist allen gedient, denn was Azubis voneinander lernen merken sie sich einfach lieber (und schneller und besser).
    Doch es stört es mich mehr und mehr, dass es keine zusätzliche Minute Zeit für diese Veränderungen gibt und dass ich bloss immer wieder den Spruch vom „nur alter Wein in neuen Schläuchen“ höre. Wäre das die Methode unsere Berufsbildung aktuell zu halten, würden sich kaum zwei Drittel der Jugendlichen samt Eltern für diesen Weg ins Berufsleben entscheiden.
    „Junger Wein in neuen Schläuchen“ weiterlesen

    Meine Woche

  • Ich war an einem Geburtstagsfest und an einer Abdankung.
  • Ich habe McEwans „Solar“ fertig gelesen, aber auch Max Frischs Tagebuch 1946-1949.
  • Ich habe Unterricht besucht und Unterrichtsbesuch bekommmen.
  • Ich habe in der Schule Verbotenes (Schwänzen) geandet und Verbotenes (Hunde mitbringen) erlaubt.
  • Ich habe Jive getanzt und Dona Nobis Pacem gesungen.
  • Ich habe alle Termine mit mehr als einer Stunde Anreisezeit abgesagt, obwohl mir das schwer fiel.
  • „Meine Woche“ weiterlesen

    Swetlana Geier

    Ist gestern gestorben. Doch vorher hat sie ein Leben zwischen den Sprachen und uns allen auf kühnste Weise vor Augen geführt, was Übersetzen bedeutet: Nachdichtung. In einem kleinen, nicht minder mutigen Verlag konnte sie machen, was sie wollte: Die fünf Elefanten von Dostojewskji neu übersetzen. Und gleich dem ersten gab sie – fast ein Skandal damals – einen anderen Titel. Vor einem Jahr habe ich an der BuchBasel vis-à-vis von ihr Tee getrunken, sie hat angeregt vom Film über ihre Arbeit und den Interviews dazu erzählt. In solchen Momenten weiss ich immer ganz genau, warum ich Buchhändlerin geworden bin.

    Farewell

    „(…) Wirklich dankbar bin ich für etwas viel Simpleres: dafür nämlich, dass ich an dieser Schule und in diesem Umfeld tagtäglich, auf Schritt und Tritt und Jahr für Jahr der schnörkellosen Realität, dem prallen, zwiespältigen und widersprüchlichen Leben habe begegnen dürfen. Ich habe mir weder Romane noch Filme, weder Erbauungs- noch Horrorgeschichten „reinziehen“ müssen, um meinen Alltag mit Spannung, Hoffnung, Entsetzen, Entrüstung und Ängsten zu ergänzen. Die ganze unfassbare, unglaublich faszinierende, dürrenmattsche und fellinische Widersprüchlichkeit und farbige Gegensätzlichkeit des Menschen – hier habe ich sie begegnet, im wahrsten Sinne des Wortes erlebt. Genau das entspricht denn auch meinem Menschenbild. Wir sind keine vom Himmel gefallenen Engel, sondern immer auch zoologische Parvenus. (…)“
    – Niklaus Ludi (1944 – 2010) im Jahresbericht der BFF 2008/2009
    „Farewell“ weiterlesen

    Berufswahlsaison

    Gestern war ich zu einer Veranstaltung eingeladen, um den Beruf der Buchhändler/in vorzustellen. Neben dem meinigen waren auch noch andere Verkaufsberufe mit Fachlehrern, Verbandsleuten und Berufsbildnerinnen vertreten. Dazu erzählten Azubis im letzten Lehrjahr aus ihrem Alltag und gaben Tipps für die Bewerbung. In den Pausen hatte jeder Beruf Gelegenheit, seine Unterlagen an einem Marktstand zu präsentieren und zu verteilen.
    Die Harmonie, der ich am Tor zum Emmental in der Berufswahl begegnete, traf mich unvorbereitet. Es kamen so viele ausgesprochen freundliche Jugendliche mit vorbildlicher Selbsteinschätzung und flankiert von mindestens einem gut vorbereiteten Elternteil. Höchstens zwei Menschen im Publikum konnte ich Migrationshintergrund unterstellen. Ich musste immer mal wieder an Frau Freitag und ihre Berufswahlvorbereitung mit der leidlichen Beteiligung denken. Und ich verstand wieder einmal, weshalb das Emmental wählt, wie es wählt, denn hier kann man schon auf den Gedanken kommen, die Entwicklung sei noch aufzuhalten. (Nur zwei der Azubis, die am Anlass Fragen beantworteten, waren aus der Stadt, auch die Buchhändlerin. Eine trug einen spanischen, die andere einen vietnamesischen Namen.)
    Dass die Berufswahl Saison hat, merke ich auch daran, dass selbst das Kind beim BIZ war. Es wollte erfahren, was ausser dem Gymansium noch zu ihm passen würde? Nach drei Sitzungen gab der Berufsberater seine Empfehlung bekannt:
    1. Buchhändler mit Berfusmatura
    2. Informations- und Dokumentatiosassistent mit Berufsmatura
    Danach: Sozialarbeiter
    Ich glaube, einen grössere Motivation für den Verbleib im Gymnasium gibt es nicht für dieses Kind.

    Kriterien eines guten Gesprächs

    Kriterien eines guten Gesprächs (mindestens so wichtig wie eine gute Mahlzeit):
    1. Themen, die alle interessieren, Themen, die hin und wieder wechseln und deren Bedeutung auch gewissen objektiven Kriterien standhält;
    2. einander zum Denken zwingen, zum Beispiel durch Fragen (Sokrates), auch bei Abschweifungen;
    3. Abschweifungen beliebig zulassen, aber immer nach dem Gedanken fragen;
    4. wenn der andere erzählt, ihn fragen, was er genau gesehen, gehört, gefühlt hat, was auffällig war, was für allgemeine Schlussfolgerungen sich für ihn daraus ergeben;
    5. ausgeglichener Wechsel zwischen Reden und Zuhören, also auf die Herausgabe von Einfällen verzichten, wenn es den anderen in seinem Gedankengang unterbricht.
    6. sofort stoppen, wenn die Leute anfangen, einander Witze zu erzählen.
    Notiert von Peter Noll (1926-1982) am 21. März 1982.
    Publiziert in seinem Buch „Diktate über Sterben und Tod“
    (Piper TB 539 auf S. 140)