Empfehlungen online

Intro:
Mein ganzes Buchhändlerinnenleben lang habe ich Buchempfehlungen geschrieben. Meistens für Websites oder Organe von Schulen und Vereinen. Es kommt vermehrt vor, dass sich Leute bei mir melden, die persönliche Beratung per E-Mail möchten, vielleicht verdinge ich mich mal als virtuelle Buchhändlerin und mache meinen Schülerinnen ernsthaft Konkurrenz.
Ich erinnere mich lebhaft, dass ich einmal – noch ehe ich überhaupt mit Bloggen begonnen hatte – einem Historiker im bostoner Exil Jens Rehn und Feridun Zaimoglu empfahl (Tipps am Ende dieses Eintrages). Ich kannte diesen Leser zu dem Zeitpunkt im realen Leben nicht. Und deswegen war er etwas schockiert über die Tatsache, dass es möglich ist, den Geschmack eines Kunden trotzdem genau zu treffen. Vielleicht hat er auch nur geschmeichelt, ich werde es nicht erfahren, denn es ist eine Weile her und vor allem lebt er nicht mehr.
Deshalb erlaube ich mir das:

> Nachdem ich mich nun beide Bücher fertig gelesen habe, will ich mir nun endlich deine buchhändlerische Einschätzung meiner Person darlegen lassen, die dich zu dieser treffenden Wahl geführt hat.

> Eigentlich sollte ich die Berufsgeheimnisse bewahren, vor allem einem Akademiker gegenüber, wo bleibt denn sonst mein Selbstvertrauen? Also halt: Erfolgreicher Buch-Handel heisst Verkauf. Der optimale Fall ist jetzt eingetroffen, du hast beide Bücher gekauft. Um zu diesem Ziel zu kommen, gibt es etliche Möglichkeiten, aber die Voraussetzung ist, dass man rasch ein Kundenprofil erstellt. Das Autoren- und Verlagsprofil hat man schon (jedenfalls die Buchhandels-Generation zu der ich noch gehöre) und dann gilt es nur noch „richtig“ abzustimmen.

Und dein Kundenprofil wäre jetzt das, wonach du fragst. Online-Bekanntschaft bringt ja auch Vorteile, ich weiss, dass du stilsicher bist und darum Ansprüche an die Sprache stellst, ich weiss, was dir gefallen hat (eine der esten Fragen, die man Kunden stellt) und ich kenne deinen Beruf (kann man Kunden nicht so direkt fragen). Du bist Historiker, du kannst einem Buch wie „Nichts in Sicht“ etwas abgewinnen, auch wenn es dir vielleicht nicht gefällt. Jens Rehn schrieb deutsch und literarisch gute Qualität. Auch ist er selber eine historisch interessante Figur, von der es sich lohnt, sie zu kennen. Du wirst die Lektüre also kaum als Zeitverschwendung abtun, selbst wenn dich die Geschichte nicht überzeugt. Ein Tipp mit geringem Risiko also.

Der andere Tipp ist heikler, aber weil du das Grossstädtische magst, Zaimoglu auch original deutsch schreibt und Kiepenheuer & Witsch nicht allzu schlecht lektoriert, könnte es dir trotzdem gefallen. Risiko: Du findest ihn ein Grossmaul und meinst, dass er sich wiederholt, denn du machst mir einen akribischen Eindruck, nicht prinzipiell wohlwollend einem neuen Stil gegenüber. Ich kann mein Risiko mindern, indem ich deines erhöhe. Also, indem ich gleich von Anfang an sage, ich finde das Buch bringt Neues, das dich auch interessieren könnte, aber es ist möglich, dass dir die Verpackung nicht gefallen wird. Bist du „mutig“ und liest es trotzdem? Warst du.


Tipp 1:
Jens Rehn
Nichts in Sicht
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2003
1943: Ein amerikanischer und ein deutscher Soldat in einem Schlauchboot. Fünf Kapitel über die verschiedenen Stadien der Einsamkeit, das erste und das fünfte enden mit dem Tod. Es gibt keinen Aspekt der Literaturkritik, dem dieses Buch nicht gerecht würde. Es ist seine eigene Erläuterung, eine Fiktion zwar und dennoch ein Beweis. Ein Beweis dafür, was Literatur vermag.
Wenn ich vor dem Einschlafen darin gelesen hatte, meinte ich noch nach dem Aufwachen, ich läge sterbend im Boot. Es war eine Überraschung, dass das Herz schlug, ein Luxus, dass die Zunge feucht im Gaumen lag. Wilkomirski hätte nicht zu lügen brauchen, gut zu schreiben reicht.
Tipp 2:
Feridun Zaimoglu
Zwölf Gramm Glück
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004
Short Cuts Deutschland: Ein paar Auszüge aus dem Leben der Urbanen, Alltagsgeschichten mit Wendepünktchen und Schicksalsschläglein. Ich sage nicht, dass das etwas Neues ist, im Gegenteil, das Moderne wie Krisenhafte der Grossstadt zu beschreiben, hat lange Tradition, nicht nur in Deutschland.
Aber Zaimoglu beschreibt von zwei Seiten, hier für einmal auch formal sichtbar. Dass die zweite Perspektive vermehrt in Büchern, Filmen und Songs vorkommt, ist ihm zuzuschreiben, auch wenn er das ungerne hört. Er war der Türöffner („Kanaksprak“, „Abschaum“) für die türkischen Secondos, die heute Filme, Musik und – zusammen mit der Generation aus dem Osten – einen Grossteil von Deutschlands urbaner Kultur machen. Er scheut keine Lesereisen, ist rhetorisch wie politisch ein gewiefter Gesprächsparter. Er schafft so Platz in den gehobeneren deutschen Medien, nicht nur für sich, sondern als Stimme einer Generation, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Türkei gehört werden sollte.
[Tipps verfasst für Münstergass-Buchhandlung, Frühjahr 2004.]

8 Gedanken zu „Empfehlungen online“

  1. Hmm… virtuelle (bezahlte!) Buchratgebertante … das könnte auch was für mich sein, bin ja eh noch auf der Suche nach einem neuen Standbein. Oder Du fängst damit an und da das Angebot bestimmt der Hit wird, brauchst Du bald Unterstützung um allen Anfragen gerecht zu werden und dann falle rein zufällig ich Dir ein! ;o)
    Aber mal im Ernst jetzt: ich weiß nicht mal, ob ich für so was wirklich geeignet wäre. Ich kenne zwar sehr viel Literatur aber ich glaube, ich würde „zuviel“ denken dabei und das würde es schwer machen, fremden Menschen etwas für sie Passendes zu empfehlen. Außerdem täte ich mich bei einer ganzen Menge an dem, was heute unter „Literatur“ läuft wirklich schwer diese weiterzuempfehlen. *räusper*

  2. Na, Liisa, virtuell könnten wir suggestiver wirken. Im Laden zeigen ja die Leute auf etwas und möchten Bestätigung. Zum Glück bin ich seit jeher überzeugt, dass es zu den Grundrechten des Lesers gehört, zu lesen, was er will. Dass ich hier Kinder explizit einschliesse, ist eigentlich das einzige, was mir bei der Beratung Probleme bereitet(e).
    Ich möchte das mit der virtuellen Beratung nie machen. Dazu sind Buchhandlungen da, die müssen bestehen können. Sonst wird es auch für mich schwierig, die guten Bücher zu finden und aus der Masse zu filtern; selbst Bibliotheken müssen sich inspirieren lassen.
    (Sollte ich mal Buchtipps gegen Bezahlung brauchen, wäre kein Zufall nötig, damit du mir einfällst 🙂

  3. könnte ich von dir mal mein kundenprofil erhalten, bitteschön? das wäre bestimmt praktisch, mich in buchhandelstauglichen floskeln vorstellen zu können, wenn mir mal nicht selbst einfiele, was ich lesen möchte.
    aber im ernst: dieser eintrag wird mich in zukunft wohl eher davon abhalten, mir im laden helfen zu lassen, wenn es um mich selber geht, denn ich werde förmlich sehen, wie die damen oder evtl. mal herren ein profil erstellen – nicht bös gemeint, aber gerate grad arg ins dilemmieren ;-( denn sogar simple compiprogramme machen diese profile gar nicht so schlecht. es geschieht öfter, dass ich in onlinebuchläden nicht das finde, was ich suche. dann gehe ich nach amazonien, das nümmerli holen und subito findet es mein quartierladen auch… aber amazonien bringt ja bei einer suche immer so etwas im stil, leute wie sie lesen sonst auch noch blabla. das kostet nach meiner einschätzung gar nichts und ist möglicherweise ziemlich effizient.
    heute lauert irgendwie überall der „effet pervers“. ‚tschuldigung –

  4. Nun aber die Gegenfrage, lizamazo (die sich nicht zu tschuldigen braucht): Was machst du denn im Kopf, wenn dich auf Arbeit z.B. jemand anruft und dich was fragt? Behandelst du jedes Alter, jeden Dialekt gleich – alles profillos?
    Konsumieren ist ein permanenter, täglicher Akt der Freitheit, der Politik, der Einflussnahme in das Weltgeschehen – aber dafür sollte nicht Tanja Messerli gelesen werden, sondern lieber Noreena Hertz.
    Wer seine Daten lieber bei Amazon verwalten und ausgewerten lässt und eine individualisierte Oberfläche, die auf genau diese Resultate baut und einem das vermeindlich Passende um die Ohren haut als allgemeine Plattform missverstehen möchte, der ist frei, das zu tun.
    Ich selber bin 1000x lieber im Hirn meiner Stammbuchhändlerinnen aufbewahrt. Mit Profil. Damit ich kein Zeugs angeboten kriege, das mich nicht interessiert, aber dafür die schönsten Prospekte und besten Empfehlungen bekomme. Und in einen Laden gehe (oder dort online bestelle), der Buchhändlerinnen eine interessante Stelle bietet und erst noch selber ausbildet. Klingt moralisch, ist aber praktisch.

  5. @ lizamazo : Als Buchhändler, Vielleser – und Käufer hilft mir Amazoniens Empfehlungsliste selten weiter. Allein die Tips nach dem Einloggen (die ich inzwischen meide wie der Teufel das Weihwasser) könnten mich über Stunden mit Korrekturen beschäftigen, weil ich vieles davon schon lange besitze oder absolut inadäquat finde. Inzwischen ist ja selbst die Suchmaschine so programmiert, daß neben dem gewünschten Titel oder Autor teilweise vollkommen irrelevante oder redundante Alternativergebnisse anhäufen.
    Ein Programm, eine Maschine können nicht das Dialogische und den Augenschein ersetzen, außer sie setzen in großem Maße auf Stereotypien. Die kann ein Mensch / Buchhändler zum Teil durch das Fragen und Profil – Erstellen gleich mit abhaken.
    Auf der anderen Seite lasse ich mich allerdings in Buchhandlungen nicht beraten, denn ich kann meist gut abschätzen, was vom Präsenzbestand mir zusagt bzw. welche Risiken ich bereit bin, einzugehen…
    Als Buchhändler sehe ich auch das Profil – Erstellen nicht ganz so technokratisch/schubladierend (ich liebe neue Wörter 😉 ), sondern in einem gewissen Maße auch zwischenmenschlich – beziehungsbildend, denn neben einem momentanen Verkaufserfolg ist (war) mir auch daran gelegen, eine (dauerhafte) Bindung aufzubauen, ein gewisses Maß an Vertrauen und Austausch. Es ist nämlich gleichermaßen befriedigend, einem Kunden sein Bedürfnis zu erfüllen wie auch später einmal beinahe unentdeckte nischen zugänglich zu machen oder schlicht die eigene Begeisterung mit ihm / ihr zu teilen. (Ich hatte allerdings den nicht zu unterschätzenden Vorteil fast ausschließlich in kleinen Läden zu arbeiten, in denen Kundenbindung auch bedeutete, ab und an bei einem Kaffee plauschen zu können, Rückmeldungen über empfohlene Bücher zu bekommen und evtl. selbst noch Tips zu erhalten…).
    das eigentliche Karteikästchen ist da eher auf der Seite der Autoren und Bücher : etwa hier Querverbindungen zwischen Autoren herzustellen, thematisch, von der Story, vom literaturhistorischen oder stilistischen Kontext, vom Genre (und nicht zuletzt vom Preis bzw. der Ausstattung), denn einfach etwa denselben Autor zu empfehlen, den ein Kunde seit etlichen Jahren regelmäßig und gern liest (außer eine Neuerscheinung dieses Schriftstellers ist gerade ausgeliefert worden) oder die naheliegende Alternative (du liest Updike, dann solltest Du auch P. Roth lesen) hilft selten weiter, außer man hat es mit einem Gelegenheitsleser zu tun oder mit einem per Zufall hereingewehten Laufkunden. (So aber in etwa funktioniert das Amazonien – Programm, weil es nicht nachhaken, weiterfragen kann…).
    LG rollblau

  6. danke für die ausführliche aufklärung. sehr interessant! möchte bloss noch bemerken, dass ich bei amazonien, seit es das gibt, vielleicht 3mal etwas bestellt habe, und noch nie so eine nebenherempfehlung. ich erwähne diese gratisvariante lediglich, um anzudeuten, dass wer sich überlegt, onlineberatung anzubieten, solches schon bedenken müsste , denn auch bei den schlecht erzogenen leserInnen (will heissen, die sich maschinell beraten lassen) wäre ein markt.
    und in einer gewissen weise bin auch ich schlecht erzogen, weil ich mich nicht von jedem und jeder beraten (oder therapieren ;-)) lassen kann. je nach dem, wer auf mich zu kommt, werde ich eher abwimmeln und „bloss ein wenig schauen“. insofern eigentlich: onlineberatung ja gern! tz, hätte ich wohl auch gleich sagen können sollen 😉

  7. rollblau: Vielen Dank. Das Dialogische kommt einfach nur Face2Face zum Tragen – in der Schule und virtuell bleibt die Verkaufskunde ziemlich technokratisch, das stimmt auf jeden Fall.
    lizamazo: Es ist gut, dass Leute von heute die Wahl haben zwischen Dialog und Beratung per Mail oder auch nur Links zu Plattformen wo sie die Infos holen können. Eine Buchhandlung von heute sollte allen drei Kundentypen gerecht werden.
    Eine aufschlussreiche Studie, wer du bist, lizamazo, gibt es schon. Ich liebe diese Studie (nix zynisch.)

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