Wissen rettet

Tilly Smith gibt es wirklich. Sie hat einen Strandabschnitt evakuiert, und damit erst noch meine grossen Zweifel ein wenig verkleinert. Und ihren Geografielehrer hat sie auch verdankt. Der hat allen Grund, stolz zu sein.

Girl’s sea warning saved a hundred
A GIRL aged ten saved a hundred fellow tourists from the tsunami
because of a geography lesson about the giant waves. Tilly Smith urged
her family to get off Maikhao beach in Thailand after seeing the tide
rush out and boats on the horizon begin to bob violently.
The youngster, recalling a recent school project on quakes, turned to
her mother Penny and said: „Mummy, we must get off the beach now. I
think there is going to be a tsunami.“ Penny and her husband Colin
alerted others and they cleared the Phuket beach just in time. It was
one of the few beaches where no one has been reported killed or
seriously injured.
Last night Tilly, from Oxshott, Surrey, told The Sun that credit for
her quick-thinking should go to Andrew Kearney, her geography teacher
at Danes Hill Preparatory School.

[Quelle]

Und dieses Projekt wurde rasch realisiert. Eine ausgezeichnete Website. Ich sage ja, die UNO macht gute Arbeit, war peinlich genug, so lang nicht Mitglied zu sein. (Through TR, thank you.)

Kinder von Beslan

Susan Sontag ist gestorben. Ich könnte einen wundervollen Nachruf schreiben, die Frau hat mich geprägt, an ihren Essays habe ich gelernt.
Und die Kaltmamsell hat ein wunderschönes Bild aus einer alten Altjahrswoche in ihrem Weblog. Auch das könnte ein Anstoss sein für ein Lieblingsthema von mir: Kinder lesen.
Aber heute geht es nicht. Die Tamilien, die nicht wie gewohnt an der Kasse stehen, nicht bedienen im Restaurant, die Thailänderin, die nicht vorbeigejoggt ist und die Familie aus Madras, die vier Stöcke unter mir wohnt, von denen niemand die Wohnung verlassen hat. Es ist das Raunen des Leidens, das auch mich erreicht. Ein Echo von Hunderten, die sich über geknickte Kinderköpfe beugen, von Tausenden, die tote Hände halten und zu verdursten drohen mitten im Wasser.
Und „Die Kinder von Beslan“ – sie lagen heute als neuer SPIEGEL-Titel (Heft 53/2004) im Briefkasten. Ein unerträglicher Bericht. Von sechs Journalistinnen und Journalisten ausgezeichnet recherchiert.
Unerträglich, weil ich nicht wissen will, dass man dem Vater ein Formular mit dem Namen seiner Tochter, Alana Kazanowa, geboren am 23. Februar 1989, zur Unterschrift hinhält, um ihren Tod zu bestätigen. Ausser wenn er für 300 Euro eine Genprobe machen lassen möchte natürlich. Weil ich nicht wissen will, dass er aufgefordert wird, zwei Decken und sieben Meter Zellophan zu beschaffen, bevor er die Leiche, die vielleicht sein Kind ist, erhält. Weil ich nicht wissen will, dass Spediteure Kühllaster vorfahren und Stauraum verkaufen, pro Leiche und Nacht für 300 Rubel und nicht wissen will, dass der Vater einen Platz kauft für seine Alana.
Ausgezeichnet recherchiert, weil das sehr schwierig ist in Russland. Weil viel Aufwand betrieben wurde, um eine Chronik der Ereignisse zu erstellen und damit wenigstens einen Teil der minutiösen Arbeit zu leisten, die russische Behörden und Presse hätten leisten sollen. Aber solche Arbeit wird nur auf öffentlichen Druck hin gemacht, und den gibt es nicht in Russland.
Mich hat Tschernobyl politisiert. Und deshalb habe ich mich immer wieder mit der Informations-Tradition in Russland beschäftigt. „Schweigen und Verschweigen sind über die Jahrhunderte zum festen Bestand der Kultur geworden, zu einem Schutzschirm vor den Zumutungen (..)“ schreibt der SPIEGEL. „Unsere Geschichte ist eine Geschichte des Leidens. Leiden ist unsere Zuflucht, unser Kult. Wir sind von ihm hypnotisiert. Aber ich wollte (…) nach etwas anderem fragen – nach dem Sinn des menschlichen Lebens, unserer Existenz auf Erden, “ schreibt Swetlana Alexijewitsch zu ihren Interviews mit Überlebenden von Tschernobyl.
Ich brauche wenige Fotos, das meiste erlese ich mir. Im Wortsinn, ich brauche guten Journalismus, gute Bücher, gute Bilder. Denn nur Qualität gibt der Information Kraft. Die Opfer haben keinen Schund verdient, was sie brauchen, ist eine Stimme.
Und also finde ich doch noch zurück zum Anfang: Susan Sontag war eine klare Denkerin in humanistischer Tradition und keine mit Wortverschleiss. Ich werde sie vermissen. Und ich war ein Buch-Kind. Lange auch ein Ein-Buch-Kind. Denn auf der Reise nach Indien hatte ich ein Jahr lang nur ein einziges. Viele seiner Seiten sind angesengt von flackernden Kerzen. An elektrisches Licht kann ich mich nicht erinnern in Bam, Madras, Goa, Amritsar, Kabul und Teheran.

Information is Power

Meine Katastrophenbilder sind solche aus Zeitungen, vom Internet und aus Büchern, denn ich habe seit sieben Jahren keinen Fernseher mehr und schaue auch sonst niergends TV.
Aus Büchern wie James Nachtweys Inferno kenne ich jedes Bild, vielleicht fast jeden Bildausschnitt. Über das Einstürzen der WTC-Türme bin ich online wie offline so umfassend dokumentiert, dass mir an den Jahrestagen kleinste Fehler in Bildunterschriften sofort ins Auge stechen.
Ich weiss nicht, ob diese Meldung stimmt. Indische Online-Medien berichten bis jetzt nichts davon, aber ich hoffe sehr, dass es rasch gelingt, Alarmwege einzurichten.
Diese Katastrophe ist einmal mehr eine der Armut und der mangelnden Information. Wissen wird nicht verteilt, es wird nicht geteilt. Man möchte ja schon, aber der Transfer lässt sich nicht schnell genug umsetzen. Der von mir hoch geschätzte Freire hat Grundsteine gelegt, die von mir ebenfalls sehr geschätzte UNO hat alles deklariert, zu den Konferenzen wurde geladen. Aber es hilft nichts. Eine Welle bricht los, viele Wissenschaftler sehen sie kommen, es bleiben eineinhalb Stunden für die Flucht, aber keiner vor Ort weiss es. Wie in Tschernobyl. Ein Reaktor explodiert und die Bevölkerung hat keine Ahnung, was Strahlung ist.
Seit Jahren begleitet mich die schriftliche Aufforderung einer Gruppe von Frauen, mit denen ich einmal zusammengearbeitet habe:

„Information is Power. Use it. Share it.“

Doch ich sitze hier und kann verzweifeln darüber, dass es nicht funktioniert. Oder aufstehen und mithelfen, dass es wenigstens ein bisschen funktioniert. Auch wenn es Generationen dauert, bis man es merkt.

Schusterskind

Wenn das Kind eine grosse Lernkontrolle hat, schreibe ich ihm auf Wunsch eine Übung dazu, die es ausfüllen kann. Am nächsten Tag schreibt das Kind in der Schule die (meistens einfachere) Lernkontrolle. Wenn es sie zurückbekommen hat, vergleichen wir das Ergebnis und damit auch unsere Fähigkeiten: Meine, der Lehrerin ihre Fragen vorauszusehen und seine, die Antworten auch beim zweiten Mal richtig und sorgfältig zu geben.
Und weil meine Freundin [Thanks, A., for encouraging me!] findet, solches gehöre auch in die eigene Lehr- und Lernerfahrung, steht das nun halt hier. Aber es soll sich ja niemand blenden lassen, das klingt viel einfacher als es ist, es geht nie ohne Knatsch und Wutanfälle und gibt auch ab und an schlechte Noten.
In den letzten Jahren bin ich eher zur Überzeugung gelangt, dass die Schusterskinder manchmal in voller Absicht die schlechtesten Schuhe tragen. Weil sie nämlich nicht erkannt werden wollen.

Kollegenlob

Aufheller des Tages: Mein lieber Kollege Grafiker und Lehrer hat mich extra aufs Handy angerufen, um mir – quasi im Rundumschlag – zum Weblog zu gratulieren. Er hat es heute entdeckt und auf der Stelle von A-Z gelesen, samt aller Kommentare. Er findet Idee und Inhalt innovativ und gut geschrieben und brauchbar und noch anderes. Und er wusste erst noch, was er gelesen hatte.
Und weil er das als Werbe- und Schulzimmermensch alles beurteilen kann, muss ich grad ein bisschen aufpassen, dass ich mir nicht zuviel darauf einbilde. Am Auftritt (den Äusserlichkeiten) werde ich nach Abschluss von DIK1 arbeiten, sollte ich mich für das Weiterbloggen entscheiden. Bis dahin ist wieder Sommer.

Lehrerinnen-Politik

Bern: Nicht nur eine rot-grüne, sondern auch eine Frauenmehrheit. Und 40% des neuen Gemeinderates sind von Haus aus Lehrerinnen der Volksschule. Mein Wahlkampf und mein Abstimmungsverhalten waren darauf ausgerichtet, das Darben dieser Stufe zu mildern. Und darum bin ich heute Abend zufrieden mit dem Ausgang der Berner Gemeinderatswahl. Ob die Zuversicht berechtigt ist, hängt natürlich von Verschiedenem ab. Zum Beispiel von mir.
UPDATE 29.11.2004: Und natürlich noch die Resultate von den Stadtratswahlen. Wenn schon Buchhändlerinnen dabei sind!