Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft

Swetlana Alexijewitsch, Tschernobyl
Swetlana Alexijewitsch
Tschernobyl
Eine Chronik der Zukunft
Aufbau 2000 (Neuauflage März 2006)

Im Buchhandel gibt es eine alte Regel: Publikationen zu Katastrophen brauchen Zeit. Sie besagt, dass Publikationen zu Katastrophen mit den Jahren besser werden. Leider ist dies auch einer der Widersprüche, mit dem wir uns täglich konfrontiert sehen: Die Kunden möchten das Buch zum Geschehen am Tag danach. Wenn es das Buch schon vor der Katastrophe gegeben hat, ist das gut für alle. Doch wenn extra schnell auf Katastrophe produziert wird ist das schlecht für die Qualität, selbst wenn es das Geschäft belebt.
Barfuss durch Hiroshima zum Beispiel wurde zwanzig Jahre nach dem Abwurf der Atombombe geschrieben und gezeichnet und ist erst kürzlich richtig gut übersetzt in Deutsch erschienen. Ich möchte diesen April noch drei von zahlreichen Titeln zu Tschernobyl vorstellen, die zwischen zehn und zwanzig Jahren nach der Katastrophe publiziert wurden.
Zuerst also „Eine Chronik der Zukunft“; übrigens einer der treffendsten Buchtitel, die mir je begegnet sind. Und wenn ich sehe, wie die Iraner um Urankapseln tanzen, hoffe ich sehr, dass sich das Paradoxon ins Farsi übertragen lässt.
Es handelt sich um Zeugenberichte, die Swetlana Alexijewitsch aufgezeichnet hat; eine begnadete, unverkennbar russische Rechercheurin und Meisterin der Worte von bleiderner Schwere.
Ich weiss nicht, wie oft ich dieses Buch gelesen habe, aber zuletzt war es vergangenen Sommer. Ich wollte mir möglichst alle Namen merken, um sie mit denen in den Neuerscheinungen dieses Gedenkjahres zu vergleichen und so meine unendliche Kenntnislosigkeit zu verringern. Wie Wunden klaffen die Informationslücken in der Tschernobyl-Katastrophe – seit der ersten Sekunde ihrer Geschichte.
Das Buch wurde gerade neu aufgelegt. Trotz der Gemeinsamkeiten sind die einzelnen Berichte sehr verschieden. Ich bin überzeugt, dass mindestens einer zu jedem passt und dass auch Lehreinnen und Lehrer gut mit diesem Buch arbeiten könnten.
Ich stelle kurz drei der Monologe vor:
Die Erzählung von Ljudmila Ignatenko, deren Ehemann bei der Feuerwehr war. Sie erzählt von ihrer jungen Liebe, von der ersten harmlosen Nachricht, dass es brenne, von seinem furchtbaren Sterben in Moskau und seiner Beerdigung, die eine Entsorgung war. Sie erzählt von ihrem gemeinsamen toten Kind und ihrem kranken Kind von einem andern Mann, von einem neuen Leben, in dem vom alten niemand mehr etwas hören will.
Die Erzählung einer Mutter und einer Tochter, die vor dem Krieg in Tadschikistan nach Tschernobyl geflüchtet sind. Vor einem Krieg, der junge Männer in den Bus einsteigen und lachend und willkürlich die Insassen niedermähen liess. Aus einem Krieg, nach dem Tschernobyl harmonisch erschien, als neue Heimat, als Erde, die niemadem mehr gehört, weil alle sie verlassen haben. Ein Gebiet, in dem man ohne Angst im Wald spazieren kann und in dem man mit den ebenfalls geflüchteten Nachbarn aus Tschetschenien in Frieden lebt.
Die Erzählung von Wassili Borissowitsch Nesterenko, dem ehemaligen Direktor des Instituts für Kernenergie an der Akademie der Wissenschaften Weissrusslands. Dies war die erste ausführliche Dokumentation über die Vertuschung des GAUs durch die russische Regierung, die so viele Menschen die Gesundheit oder das Leben gekostet hat. Ich halte es für eines der eindringlichsten Dokumente über die Art Zensur, die in den vergangenen hundert Jahren eine grosse Rolle gespielt hat: die Zensur durch gezielte Desinformation.

Vor dem Schlafengehen Inventur

– Ralf Rothmann, Junges Licht, Suhrkamp TB 2006*
– Bernhard Schlink, Die Heimkehr, Diogenes 2006*
– Bernhard Schlink, Liebesfluchten, Diogenes TB 2001*
– Jakob Arjouni, Hausaufgaben, Diogenes TB 2005**
– John Irving, Bis ich dich finde, Diogenes 2006
– Erhard Eppler, Auslaufmodell Staat, edition suhrkamp 2006*
– Klaus Holz, Gegenwart des Antisemitimus, Hamburger Edition 2005
– Mayer/Koberg, Elfriede Jelinek, ein Portrait, Rowohlt 2006*
– Manfred Mittelmeyer, Thomas Bernhard, Suhrkamp BasisBio 2006*
– Ernst Freud et al, Sigmund Freud, Suhrkamp 2006
– Robert Stockhammer, Ruanda, edition suhrkamp 2005*
– Mujawayo/Belhaddad, Ein Leben mehr, Hammer Verlag 2005
– Jeffrey D. Sachs, Das Ende der Armut, Siedler 2005
– Cay von Fournier, 10 Gebote für Unternehmen, Campus 2005
– Michel Houellebecq, Elementarteilchen, List-TB 2006
– Etgar Keret, Pizzeria Kamikaze, Sammlung Luchterhand 2002
– Etgar Keret, Gaza Blues, Sammlung Luchterhand 2002*
– Hubert Wolf, Index. Vatikan und die verbotenen Bücher, Beck 2006
– Swift/Jenkins, Gullivers Reisen, Sauerländer 2004
– Swetlana Alexijewitsch, Tschernobyl, Aufbau-TB 2000**
– Igor Kostin, Tschernobyl, Nahaufnahme, Kunstmann 2006**
– Robert Polidori, Sperrzone Pripjat und Tschernobyl, Steidl 2004**
– Paul Celan, Die Gedichte, Suhrkamp TB 2005
Gelesen (*) aber emotional nicht in der Lage, ins Gestell zu räumen. Gelesen und besprochen (**) in Entwürfen. Angelesen der Rest. Weiterlesen werde ich jetzt in Irving, Bis ich dich finde. Oder in Houellebecq, Elementarteilchen. Zwei Augen hätte ich ja, aber Hirn nur eines. Dashalb brauchen wir langfristig eine gute Balance vor dem Bett, meine Bücher und ich.

Barfuss durch Hiroshima 4

Keiji Nakazawa, Barfuss durch Hiroshima 4
Nakazawa, Keiji
Barfuss durch Hiroshima: Hoffnung
Carlsen 2004

Japan steht jetzt unter amerikanischer Besatzung, und immer noch sterben viele Menschen an der radioaktiven Strahlung. Auch Gens Schwester geht es nicht gut, sie leidet an starker Unterernährung, und schliesslich wird sie auch noch entführt! Gens zwei ältere Brüder sind aus der „Fliegerjugend“ und von der Evakuierung aufs Land zurückgekehrt und starten eine Suchaktion und finden sie schliesslich bei Verwandten von einem Jungen aus Gens Schulklasse. Sie behandeln sie dort wie eine Prinzessin, und sagen Sterbenden, es sei ihr verstorbenes Kind, damit sie wieder Lebensmut bekommen. Aber Tomoko ist immer noch sterbenskrank, und als Gen endlich die 10’000 Yen für amerikanische Medizin zusammenhat, ist sie schon tot. Gen trauert sehr um sie, er will nicht mehr sprechen. Aber als er die ersten Weizensprösslinge in Hiroshima sieht, fasst Gen wieder neue Hoffnung. Er denkt an seinen Vater und dessen Worte:

Gen! Du musst wie der Weizen sein. Treibe starke Wurzeln in die Wintererde. Trotze Wind und Schnee, so sehr man dich auch niedertritt, und wachse dick und gerade, wie der Weizen auf dem Feld!

[Das Original aus dem Lesetagebuch.]

Barfuss durch Hiroshima 3

Keiji Nakazawa, Barfuss durch Hiroshima 3
Nakazawa, Keiji
Barfuss durch Hiroshima: Kampf ums Überleben
Carlsen 2004

Die Überlebenden aus Hiroshima flüchten in die umliegende Provinz, wenn sie nicht an der Strahlenvergiftung sterben. Doch überall erwartet man sie mit Missgunst, so auch Gen und seine Mutter. Sie gingen zu ehemaligen Freunden, doch auch dort ist man nicht freundlich zu ihnen, beschuldigt sie als Diebe, und schlägt sie. Als Gen, um Essen kaufen zu können, jede Arbeit annimmt, muss er einen Mann pflegen, der von der Atombombe getroffen wurde, und kaum noch heile Haut am Körper hat. Er wird von seiner Familie gemieden, alle sagen er sei verseucht. Gen fängt an, ihn zu mögen, als er stribt ist Gen sehr traurig. Und jetzt kann er wieder kein Geld verdienen. Es ist ein harter Kampf ums Überleben, Tomoko hungert und bräuchte Milch.

Barfuss durch Hiroshima 2

Keiji Nakazawa, Barfuss durch Hiroshima 2
Nakazawa, Keiji
Barfuss durch Hiroshima: Der Tag danach
Carlsen 2004

Hiroshima ist sozusagen völlig zerstört, und innerhalb von Sekundenbruchteilen finden Tausende von Menschen den Tod, die Spitäler sind völlig überlastet, überall liegen Leichen, und jeder denkt nur an sich und sein Überleben. Doch war das Leben überhaupt besser als der Tod? Die Überlebenden haben nur noch Verwandte in anderen Städten oder gar keine, sie sind meistens schwer verletzt und haben kein Essen mehr. Sie erwartete ein Leben voller Leiden und Traurigkeit. Und jetzt kommt der zweite Horror der Atombombe: Die Strahlungsvergiftung.

Barfuss durch Hiroshima 1

Keiji Nakazawa, Barfuss durch Hiroshima 1
Nakazawa, Keiji
Barfuss durch Hiroshima: Kinder des Krieges
Carlsen 2004

[Die vier Besprechungen dieser Comic-Reihe sind aus dem Lesetagebuch des Kindes. Ich tippe sie ab und verlinke beim letzten Eintrag zum Original im PDF.]
„Barfuss durch Hiroshima“ ist die Geschichte einer Familie aus dem 2. Weltkrieg in Japan, sie spielt vor und nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima. Im ersten Band sieht man viel über die Familie Nakaoka. Schon vor der Atombombe haben sie zu wenig zu Essen, und streiten sich um ein Reiskorn. Der Vater ist gegen den Krieg, doch alle beschimpfen ihn und seine Familie als Verräter, und einmal muss er wegen angeblichem Verrat ins Gefängnis. Am Schluss dieses Bandes fällt die Atombombe und der Vater, die Schwester und der jüngere Bruder von Gen Nakaoka, der Hauptperson, finden den Tod. Gerade zu diesem Zeitpunkt gebärt die Mutter ein kleines Mädchen. Gens Schwester Tomoko.

Im Frühling vor 175 Jahren

Leise zieht durch mein Gemüt
Liebliches Geläute,
Klinge, kleines Frühlingslied,
King hinaus ins Weite.
Kling hinaus, bis an das Haus,
Wo die Blumen spriessen,
Wenn du eine Rose schaust,
Sag, ich lass sie grüssen.

Heinrich Heine, 1831
Muss man von einem Gedicht den Hintergrund kennen? Nein, man muss nicht, aber es kann – frei nach Reich-Ranicki – auch nicht schaden.
Wie kann einer, der zuvor nur leidend und ironisch über die Liebe geschrieben hatte, plötzlich so versöhnt dichten?
Wegen des Umzugs. Heinrich Heine hat sich just in jenem Frühling entschieden nach Frankreich zu gehen; nicht länger ein Ausgestossner, sondern nur noch ein Ausländer zu sein.
Er braucht sie nicht mehr zu besitzen, die Blume, er hat keinen Plan. Er schickt lediglich ein Lied aus, das frei ist zu verklingen oder anzukommen bei einer Rose – und nur als Gruss. So ist hier alles offen, auch der Dichter.
Publiziert in:
Marcel Reich-Ranicki
Ein Jüngling liebt ein Mädchen
Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen
Insel Verlag 2001

Supplemento al dizionario italiano

Bruno Munari, Supplemento al dizionario italiano
Munari, Bruno
Supplemento al dizionario italiano
Corraini Editore 2005

Madame Kaltmamsells Überlegungen zu italienischem Verhalten haben mich an ein wunderbares Oeuvre aus dem Jahre 1963 erinnert.
Italienische Gestik. Rechts auf der Doppelseite je eine schwarz-weiss Abbildung der Geste, links die Bedeutung in Italienisch, Englisch, Französisch und Deutsch samt Erklärung. In der viersprachigen Einführung wird darauf hingewiesen, dass die erste Sammlung bereits 1832 vom Kanoniker Andrea di Jorio zusammengestellt und Friedrich Wilhelm Erbprinz von Preussen gewidmet worden war, wohl damit dieser die Neapolitaner besser verstünde. Zur Erinnerung: Die ersten Wörterbücher erschienen erst 1856 – bei Langenscheidt.
Das Büchlein ist ein Schmuckstück. Angenehme Typografie, spannendes Bildmaterial, weil die Gesten von ganz verschiedenen Händen dargestellt werden. Der Einband in französischer Broschur zum Einklappen als Buchzeichen passt genau. Dass es immer noch Verleger gibt, die solche Neuauflagen wagen, ist eine Wohltat.
Und weil es so schön aussieht, gibt es noch zwei Bilder in den Kommentaren. Da ich aber Bücher weder in den Kopierer noch in den Scanner lege, sind es halt nur kleine Fotografien für einen ersten Eindruck.

Zur Geschichte der Religion und Philosophie

Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie
Heine, Heinrich
Zur Geschichte der Religion und Philosophie
In: Heines Werke in fünf Bänden, 5. Band
Bibliothek Deutscher Klassiker
Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1986

Auf den ersten Blick scheinen Heines Prosaschriften für historisch, literarisch oder philosophisch nicht speziell gebildete Leute anspruchsvoll. Ich kann nur raten, sie trotzdem zu lesen und garantieren, dass Nichtverstehen einzelner Passagen kein Vergnügen mindert. Schon die Vorrede zur zweiten Auflage „Zur Geschichte der Religion und Philosophie“ lädt ein, Dilemmata mit Sanftmut zu begegnen:

Das vorliegende Buch ist Fragment und soll auch Fragment bleiben. Ehrlich gestanden, es wäre mir lieb, wenn ich das Buch ganz ungedruckt lassen könnte. Es haben sich nämlich seit dem Erscheinen desselben meine Ansichten über manche Dinge, besonders über göttliche Dinge, bedenklich geändert, und manches, was ich behauptete, widerspricht jetzt meiner bessern Überzeugung. Aber der Pfeil gehört nicht mehr dem Schützen, sobald er von der Sehne des Bogens fortfliegt, und das Wort gehört nicht mehr dem Sprecher, sobald es seiner Lippe entsprungen und gar durch die Presse vervielfältigt worden.

Ach, was soll ich da ergänzen? Es war typisch für Heine, durch spritzige Prologe und hitzige Briefe die Leserschaft schon vor der eigentlichen Lektüre an sich zu binden. (Ich denke sowieso, Heine wäre heute weder im Journalismus noch in der Politik, sondern im Marketing.)
„Zur Geschichte der Religion und Philosophie“ besteht aus drei Büchern, insgesamt nicht mehr als 130 Seiten. Die drei Teile erschienen zwischen März und Dezember 1834 in der Zeitschrift „Revue des Deux Mondes“ und erst 1935 als Buch bei Hoffmann und Campe in Hamburg. Ich werde pro Buch ein paar Zeilen schreiben, daraus zitieren und von Interpretationen gänzlich lassen.
Im ersten Buch geht es um Luthers enormen Einfluss auf die deutsche Sprache, speziell auch die gebundene Sprache und das Liedgut. Ein Lieblingslied Heines war „Eine feste Burg ist unser Gott“ dessen „begeisternde Kraft“ er oft zu loben wusste.
Selbst Heines Kritik an Luthers Streitschriften ist voller Bewunderung: „plebejische Rohheit, die oft ebenso widerwärtig wie grandios ist.“ Für Heine waren Luthers Originalschriften die wichtigsten Beiträge zur Fixierung der deutschen Sprache. Mit Luther kamen die Persönlichkeit, die Subjektivität, die Reflexion ins Deutsche und das war Heine – dem Teilzeitromantiker – etliche Analysen und Vergleiche wert. Bis er schliesslich konstatieren konnte:

Ich habe gezeigt, wie wir unserem teuren Doktor Martin Luther die Geistesfreiheit verdanken, welche die neuere Literatur zu ihrer Entfaltung bedurfte.

Im zweiten Buch widmet sich Heine der Philosophie und ihrer Transformation vom Lateinischen ins Deutsche. Dabei spielen Christian Wolff (ich kenne ihn leider nicht) und Spinoza und vor allem Lessing zentrale Rollen. Heine weiss immer wieder Persönliches über die granz Grossen zu berichten, zum Beispiel, dass Descartes vom „bewegten, viel schwatzenden“ Frankreich ins „stille, schweigende“ Holland übersiedeln musste. Denn der französische Boden war für vieles gut, aber nicht für das Gedeihen des autonomen philosphischen Gedankens. Die Autonomie der Philosophie war Heine zu diesem Zeitpunkt im französischen Exil ein persönliches Anliegen, weil er bisweilen wünschte, die Religion – und übrigens auch die Schriftstellerei – an den Nagel zu hängen.

Von dem Augenblick an, wo eine Religion bei der Philosophie Hülfe begehrt, ist ihr Untergang unabweichlich. Sie sucht sich zu verteidigen und schwatzt sich immer tiefer ins Verderben hinein. Die Religion, wie jeder Absolutismus, darf sich nicht justifizieren. Prometheus wird an den Felsen gefesselt von der schweigenden Gewalt. Ja, Äschylus lässt die personifizierte Gewalt kein einziges Wort reden. Sie muss stumm sein. Sobald die Religion einen räsonierenden Katechismus drucken lässt, sobald der politische Absolutismus eine offizielle Staatszeitung herausgibt, haben beide ein Ende.

Das dritte Buch handelt hauptsächlich von Kant. Eingangs macht Heine sich lustig über die Kant’sche Disziplin: „Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte“. Besonders schön ist, dass Heine – quasi als Ersatz für Kants ereignisloses Dasein – eine Biografie der „Kritik der reinen Vernunft“ entwirft. Wann erschienen, wie lange unbeachtet geblieben, wo dann doch kurz rezensiert und so weiter bis zum durchschlagenden Erfolg.
Damit komme ich zu einem weiteren Aspekt von Heines Prosaschriften und Briefen: sie sind Publikationsgeschichte. Ich habe bis zu Reich-Ranicki nie wieder so umfassende Kenntnis der Verlagserzeugnisse und der Reaktionen darauf gelesen. Das ganz nebenbei. So setzte Heine Meilensteine.

Die deutsche Philosophie ist eine wichtige, das ganze Menschengeschlecht betreffende Angelegenheit, und erst die spätesten Enkel werden darüber entscheiden können, ob wir dafür zu tadeln oder zu loben sind, dass wir erst unsere Philosophie und hernach unsere Revolution ausarbeiteten. Mich dünkt, ein methodisches Volk wie wir musste mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen. Diese Ordnung finde ich ganz vernünftig. Die Köpfe, welche die Philosophie zu Nachdenken benutzt hat, kann die Revolution nachher zu beliebigen Zwecken abschlagen. Die Philosophie hätte aber nimmermehr die Köpfe gebrauchen können, die von der Revolution, wenn diese ihr vorherging, abgeschlagen worden wären.

Die Sterne über dem Land der Väter

Ko Un, Die Sterne über dem Land der Väter
Ko, Un
Die Sterne über dem Land der Väter
Suhrkamp 1996
Bibliothek Suhrkamp 2005

Von allen Gattungen verstehe ich von der Lyrik am meisten (und vom Drama am wenigsten). Ich kann mich an keinen Tag meines Lebens erinnern, an dem ich nicht ein Gedicht gedacht oder gelesen habe. Und meine Leseerfahrung hat mich gelehrt, dass gute Dichtung das Resultat der gnadenloser Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft ist.
Das trifft auch auf Ko Un zu. Biografie in Stichworten: 1933 geboren, 1947 Mitbegründer von „Chayusilchon Muninhyobuihoe“, dem „Verband koreanisch Schriftsteller für die Verwirklichung der Freiheit“, danach Hausarrest. 1979 Gündung von „Silchonmunhak“, der erfolgreichen Zeitschrift „Praxis und Literatur“. Im gleichen Jahr Organisator eines Arbeiterstreiks, bei dem die führende Arbeiterin Kim Kyong-Suk ums Leben kam (Ende des Gedichts „Kim Kyong-Suk“ am Schluss dieses Eintrags). 1980 als Rädelsführer des Volksaufstandes von Kwangju inhaftiert, nach Amnestie 1983 Heirat mit Lee San-Hwa, Anglistikprofessorin. 1987 Gründung von „Minchokmunhak Jakkahyobhoe“, dem „Schriftstellerverband für Volksliteratur“, der Treffen zwischen süd- und nordkoreanischen Autoren zum Ziel hat und erneute Festnahme. Seit 1992 als Professor für koreanische Sprache und Literatur in Seoul.
Dieser Gedichtband ist ein Meisterwerk, ich werde drei von vielen Gründen dafür aufzählen. Aus alter Buchhändlerinnengewohnheit noch rasch ein Vergleich mit einem deutschsprachigen Dichter: am ehsten Ko Un mit Erich Fried. Aber Frieds Gedichtsammlungen umfassten stets mehrere Schaffensjahre, während Ko Un sagt, er hätte die hier versammelten Gedichte in sechs Wochen geschrieben. Lyrik beginnt eben nicht erst, wenn man sie zu Papier bringt.
„Die Sterne über dem Land der Väter“ ist ein Meisterwerk:

  • Der Übersetzung. Der Japanologe Siegfried Schaarschmidt und der Übersetzerin Woon-Jung Chei, die Wort für Wort aus dem Koreanischen ins Deutsche übertragen hat. Auf Grund ihrer Übertragung und einer japanischen Übersetzung des Koreaners Kim Hak-Hyon, machte Siegfried Schaarschmidt die Nachdichtung. Alle drei disktuierten jede Zeile und recherchierten jeden Ort, jede Wendung, um perfekte Anmerkungen erstellen zu können.
  • Der politischen Lyrik, weil Lesende nicht dazu gezwungen werden. Weil sie noch viele anderen Facetten hat. Weil der Ton allein schon gut ist, weil Ko Un, selbst in der Emphase, nie „agitatorisch wirkt“ ( Schaarschmidt).
  • Der Stimme. Wenn Ko Un „ich“ sagt, klingt es wahr. Aber genau so klingt es auch, wenn „ich“ eine Frau ist, ein Kind, ein Reisbauer, eine Fabrikarbeiterin. Er komponiert ein Ich für verschiedene Stimmen, er verwandelt die Worte in Lieder eines Landes.
  • Dieses Buch ist unter meinen besten, weil es bremst und gleichzeitig anstösst. Man findet es zwar – dank dem Messeschwerpunkt – in Bibliotheken. Doch im Handel hat dieses Kleinod ohne Hilfe keine Chance. Es sind versteckte Orte, an denen es aufliegt, es wird selten entdeckt, noch seltener aufgemacht und – oh! 19.90! – meist wieder zurückgelegt.

    Nur eben: so ist es nicht,
    meine Kim Kyong-Suk;
    fest halte ich dich in mir umschlungen, wenn ich mich erhebe.