Der letzte Freund

Tahar Ben Jelloun, Der letzte Freund
Ben Jelloun, Tahar
Der letzte Feund
Berlin Verlag 2004
Originaltitel: Le dernier ami

Die Verlagswerbung schreibt – wie sie es vom Kinderbuch bis zur Sterbebegleitungslektüre oft tut – das sei ein Buch über Freundschaft. Und sie hat Recht.
Dieses schmale Buch ist opulent, weil der Autor für jede Regung Platz fand, die dieser grosse Begriff in sich birgt. Ben Jelloun ist der berühmteste Vertreter französischer Literatur aus dem Maghreb, er ist ein begabter, emsiger Schriftsteller und ein wunderbarer Lyriker. Dieses Buch hat nicht viel Beachtung gefunden. Doch ich habe es geliebt und gelesen als Exzerpt seines Gesamtwerkes.
Mamed und Ali sind Freunde im Tanger der Fünfzigerjahre. Ali kommt aus Fès und ihm eilt der Ruf voraus, eingebildet, zu hellhäutig und durchsetzungsfähig wie ein Jude zu sein. Und deshalb wäre er im Gymnasium ziemlich unter die Fäuste gekommen, hätte sich Mamed nicht vor ihn gestellt. Schmächtig zwar, dieser Mamed, aber bissig genug um einen Neuen zu schützen.
Die Freundschaft nimmt ihren Lauf, Elternvorwürfe, Mädchen und ein Bordellbesuch schweissen die beiden zusammen, auch wenn sich ihre Pläne nicht ähnlich sind und sie damit rechnen, bald getrennte Wege zu gehen. Mamed ist im repressiven Klima des Algerienkrieges in die kommunistische Partei Frankreichs eingetreten, Ali hingegen lebt in westlichen Filmen. Doch wie das so geht im Leben unter der Macht schamloser Willkür despotischer Regierungen, landen beide im gleichen Erziehungslager. Vor den Verwandten getarnt als Militärdienst, ist es nichts anderes als eine neunzehnmonatige Haft unter grauenhaften Bedingungen. In dieser Zeit retten die Freunde einander das Leben, überzeugt, ab jetzt könne nichts und niemand je ihre Freundschaft zerstören.
Das wird nicht einfach für ihre späteren Frauen. Diese sind beide eifersüchtig bemüht, die Männer gegeneinander auszuspielen. Mamed, der Arzt, wandert mit seiner Familie nach Schweden aus, Ali, der Lehrer, bleibt mit seiner Frau und einem adoptierten Kind in Tanger. Und die Art und Weise, wie die beiden Freunde ihre Biografie weiterhin zu teilen suchen, das kann fast nur Ben Jelloun erdichten. Aus tausend Stellen würde ich die seinen erkennen, keiner lässt den Freund „ein wenig Ostwind aus Tanger, 13. April 1990“ in hermetisch verschlossenen Plastikflaschen nach Schweden schicken, keiner lässt solche Briefe schreiben, keiner solche Telefonate schweigen. Die Schwermut auf der Suche nach Heimat, das ist Ben Jelloun.
Neben seiner literarischen Güte ist das Buch auch von literarischer Formschönheit. Es beginnt mit einem Brief Mameds an Ali, der alles verändert, ohne dass wir Lesenden seinen Inhalt kennen. Erzählt wird aus drei Perspektiven: Ali, dem Zurückbleibenden, gesteht Ben Jelloun 19 Kapitel zu. Mamed, dem Ausgewanderten, 17 Kapitel. Und Ramon, dem Zeugen dieser Freundschaft, ein einziges. Abgeschlossen wird das Buch mit dem Wortlaut des Briefes, der die Freundschaft beendet und unsterblich macht.

Sticheleien

Marjane Satrapi, Sticheleien
Satrapi, Marjane
Sticheleien
Editon Moderne 2005

Satrapi hat sich mit ihrer Biografie in mein Herz erzählt, ich hatte sofort das Gefühl, sie zu kennen. Aber das war nicht wichtig, denn es ist vielen so ergangen, das Zutun der Buchhändlerinnen war nur am Anfang nötig. Ähnlich wie Spiegelman mit „Maus I + II“ gelang es Satrapi, die Leute mit einem Comic in Bann zu ziehen und gleichzeitig weltweit gute Rezensionen zu bekommen. Es ist nicht einfach, nach einem solchen Erfolg erneut ein richtig gutes Buch zu machen. Aber sie kann das eben.
Die „Sticheleinen“ wirken im allerbesten Sinne aufklärerisch: Glaube nichts. Schau selber! Satrapi bleibt zwar bei ihrem autobiografischen Erzählstil, aber weil sie nicht die Protagonistin ist, macht sie den Vergleich mit ihren Bestsellern schwierig und schafft sich so ein altes neues Feld.
Ein kleiner Prolog über den Samowar, dem morgens, mittags und abends eine völlig unterschiedliche Bedeutung zukommt und ein paar Betrachtungen über die Launen ihrer opiumsüchtigen Grossmutter, leitet die Rahmenerzählung ein. Nach einem Festessen waschen die Frauen gemeinsam ab, Marjane kümmert sich um den Tee, denn das ist ihre Aufgabe (daher auch der Samowar-Prolog). Danach sind alle bereit für ihre grosse Leidenschaft: das Gespräch. Jungfernhäutchenreparaturen, Heiratsschwindeleien, Schönheitsoperationen, missratene Kinder, Leben im Exil, Rache, Sex, Quacksalberei und Sehnsucht – das ist der Stoff, aus dem die hingebungsvollen Binnenerzählungen gemacht sind. Sie reihen sich trotz verschiedenster Erzählperspektiven nahtlos, ohne das kleinste Stolpern aneinander, als wären wir Lesenden ein Teil davon. Und das ist Satrapis Begabung für die sequenzielle Kunst.
Wie gesagt, ist Marjane Satrapi eine kluge Autorin und Zeichnerin. Wenn sie gegen Klischees antritt, tut sie das ohne dass es auf ihrer Fahne steht. In „Sticheleien“ lässt sie Frauen bloss Kieselsteine auf das Glashaus der Vorurteile werfen. Aber sie treffen gut genug, um es zu zerbrechen.

Das Komplott

Will Eisner, Das Komplott
Eisner, Will
Das Komplott. Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion
DVA 2005
Originaltitel: The Plot. The Secret Story of the Protocols of the Elders of Zion

Will Eisner hat kurz vor seinem Tod dem zähsten Machwerk, das mir in der Buchgeschichte je begegnet ist, die Stirn geboten.
Ich mag gar nicht mehr zählen, wie oft diese Seite hier gewählt wird wegen meinem Eintrag zum Berner Prozess. Monate ist der Suchbegriff „Protokolle der Weisen von Zion“ oben auf der Hit-Liste, nur weil ich einmal mit freundlicher Genehmigung eine Zeitungsseite hier verlinkt habe.
Täglich suchen Tausende diese Fata Morgana im Internet. Und damit bin ich bei Eisners Motivation, seinen letzten Effort in einen Comic oder – wie er es nannte – in eine „grafische Novelle“ über diese unsägliche Geschichte zu stecken.
Ungeachtet aller Beweise sind die Protokolle noch heute weltweit im Handel und dienen nach wie vor als Quelle. Sowohl für andere üble Bücher wie für den Hass.
Oder wie Umberto Eco es in seiner Einführung erklärt:

Die Beweisführung [der Verleumder] ist makellos: „Die Protokolle bestätigen die Geschichte, die ich ihnen entnommen habe, und daher sind sie echt.“

Weil ich weiss, dass dieser Eintrag wieder Verwirrte anziehen wird, sage ich gleich am Anfang klar, wer hier falsch gelandet ist und entweder verschwinden oder seine Hirntätigkeit ausnahmsweise auf „selber denken“ vorspulen muss.
Eisner arbeitet in „Das Komplott“ Fakten auf. Er schreibt im Vorwort, er habe sich lange nicht darum gekümmert, er habe die Protokolle zusammen mit „mein Kampf“ in seine „Bücherei des Bösen“ gestellt und beinahe vergessen. Bis zum Netz. Gleichzeitig mit dem Einzug des Internets in die Welt der Privaten, erschienen 1999 erneut Beweise für die wahre Autorenschaft der Protokolle. Und da begann Eisner zu recherchieren und zu zeichnen. Eine einfache, anschauliche Geschichte darüber, wie aus einer Satireschrift des 19. Jahrhunderts der Beweis für die jüdische Weltverschwörung wurde. Eisner fungiert als Übersetzer, er gibt weiter, was historisch ohnehin mehrfach bewiesen, aber bei vielen nicht angekommen ist.
Ich erzähle den Inhalt in chronologischer Reihenfolge aber stark gekürzt nach und gehe nicht auf die grossen Skandale ein (wie z.B. die aktive Beteiligung Henry Fords an der Diffamierung).
Maurice Joly verfasste 1878 eine Schrift (laut Eco hat er die auch schon abgeschrieben), die die Mächtigen diffamieren sollte. Er liess in „Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu“ über die Weltherrschaft sinnieren, er wollte eine Metapher für den gierigen Kaiser. Natürlich war das für die Zensoren offensichtlich, er wurde verurteilt, sass lange im Gefängnis, schlug sich mit einem weiteren Buch „die Hungrigen“ durch und brachte sich schliesslich um. Niemand rechnete damit, dass er je wieder gelesen werden würde.
Leider kam es anders. 1894 versuchten liberale Ratsmitglieder, den Zaren Nikolaj II, seinerseits bekannt als Fähnlein im Wind, von der Notwenigkeit der Modernisierung Russlands zu überzeugen. Da kam der konservativen Gegnerschaft die Idee, die Modernisierungspläne den Juden in die Schuhe zu schieben, im antisemitischen Klima so nahe liegend wie gefahrlos. Nun brauchte man noch einen Regisseur für das Komplott, den man im Aufsteiger Matwej Golowinski rasch fand. Golowinski begann erst einmal mit dem Fälschen von Statistiken (über den schändlichen Einfluss der Juden), die er locker in der Presse unterbrachte und geriet schliesslich – über Umwege – in Frankreich an Maurice Jolys Werk. Das schrieb er zufrieden ab, ersetzte die Machthungrigen Jolys durch die Zionisten und fertig waren „die Protokolle der Weisen von Zion“. Sie kamen 1905 zum ersten Mal als Buch auf den russischen Markt und sind seither millionenfach in mindestens zwanzig Sprachen erschienen.
Bereits 1921 entlarvte die „Times“ die historische Fälschung zweifelsfrei. In dieser Sequenz im Comic stellt Eisner die einzelnen Stellen von Jolys Original über 15 Seiten den Protokollen gegenüber. Ein im Wortsinne ausgezeichnetes Stück Geschichte, das in dieser Klarheit noch nie einem breiten Publikum zugänglich war.
Die Nazis haben die Protokolle selbstverständlich dankbar aufgenommen und in Massen vertrieben. Daran änderte auch der Berner Prozess nichts. Im April 1935 schloss ihn der Richter mit einem Verbot (Verstoss gegen das Schundliteraturgesetz) ab, aber nicht ohne die Protokolle als „lächerlichen Unsinn“ zu bezeichnen, der dem Antisemitismus Vorschub leiste. Das Gericht schlug sogar vor, dass „Mittel gefunden werden müssten, solche Diffamierung zu unterbinden“.
Dass das nicht gelungen ist, wissen wir heute. Dass wir jeden einzelnen Tag dagegen antreten müssen, auch wenn es mit letzter Kraft ist, hat uns ein alter Zeichner vorgemacht.
RIP Will Eisner.

Die Geschichte der Anne Frank

Anne Frank Haus (Hg.), Die Geschichte der Anne Frank
Anne Frank Haus,
Die Geschichte der Anne Frank
Oetinger 2005

Das ist ein Buch wie ein kleines Museum, ein ausgezeichnetes Dokument für die Schule, mit einmaligen Faksimiles von Anne Franks Notizen und Zettelkasten. Und einer grossen Sammlung Fotos. Das schätze ich, wenn mir Bücher sorgfältig Menschen, Sachen und Sachverhalte erschliessen.
Wenn ich das Tagebuch der Anne Frank gelesen habe – und das waren seit meiner Kindheit etliche Male – so war ich jedes Mal überzeugt, dass jetzt die letzen Einträge nicht die letzten sein würden, dass niemand die Familien im Hinterhaus verraten würde, dass die Stecknadeln über das Vorrücken der Alliierten weiter in die Wand gesteckt würden, dass Anne und Margot dieses Mal überleben würden, dass es anders enden würde, als mit dem Nachwort voller Todesnachrichten.
Vielleicht hat sich mit der neuen „Geschichte der Anne Frank“ meine Hoffnung für immer zerstreut. In dem kleinen Buch werden die letzten Tage der einzelnen Menschen aus dem Hinterhaus parallel dargestellt und es steht klipp und klar, dass deren Ermordung kaum mehr Aufwand bedurfte. Die vielen Jahre, in denen nichts anderes mehr professionalisiert worden war als Vernichtung, hatten ihren Zweck erfüllt. Niemand in den Lagern war mehr auf das Überleben eingestellt. Als Anne und Margot Frank starben, war ihr Vater bereits sechs Wochen befreit. Er und nicht die Mutter und nicht die Kinder. Ein Zufall unter Millionen.
Otto Frank heiratete nach dem Krieg eine übrig Gebliebene, deren Mann und Kind ermordet worden waren. Er widmete sich Zeit seines Lebens dem Gedenken an das Versteck und an seine Familie. Nur einige wenige Stellen aus Annes Tagebuch wollte er erst nach seinem Tod (1980 in Basel) veröffentlicht haben.
Das Museum „Anne Frank Haus“, das diese Buch herausgegeben hat, vergisst nicht, daran zu erinnern, dass Anne Frank auch für alle anderen steht.
Vielleicht muss es ja so sein, dass eine Einzelperson wie Anne Frank mehr Anteilnahme erweckt als die Ungezählten, deren Bilder im Dunkeln geblieben sind. Müssten oder könnten wir die Leiden aller erleiden, könnten wir nicht leben.
– Primo Levi (der nicht leben konnte)

Hass

André Glucksmann, Hass
Glucksmann, André
Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt
Nagel & Kimche 2005
Originaltitel: Le discours de la haine

Dieses Buch war meine schwierigste und schlimmste Lektüre des Jahres. Der Untertitel „Die Rückkehr einer elementaren Gewalt“ ist etwas missverständlich, denn der Autor geht nicht davon aus, dass der Hass einst gezähmt gewesen wäre. Er schlägt aber den Bogen von der griechischen Mythologie zum 21. Jahrhundert, dies war wohl der Anlass die deutsche Ausgabe so zu nennen.
Um die Gründe hemmungsloser Gewalt zu erklären, suchen Philosophen und Psychologen verschiedenste Ansätze. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir einen kurzen Exkurs über das Lektorat.
Susan Sontag „Das Leiden anderer betrachten“ und Harald Welzer „Täter“ sind vergleichbare Titel, nicht nur inhaltlich, sondern auch vom Lektorat her. Viele denken, das Lektorat sei besonders bei Romanen wichtig. Falsch! Das Lektorat ist immer wichtig. Bei Büchern, die die brutalsten Sequenzen der Menschheitsgeschichte aufarbeiten, ist ein guter Lektor schlicht unabdingbar. In solchen Büchern steht, was visualisiert gar nicht existiert. Deshalb muss der Handlungsablauf, muss die Sprache erfassbar sein, deshalb dürfen die Autoren keine grossen Gedankensprünge machen und die Leser ratlos zurücklassen. Oder noch schlimmer, in einem Vakuum zurücklassen, das sie sich mit Fehlinformationen füllen. Ich kaufe Bücher zum Thema Vernichtung nur, wenn ich mich auf ein gutes Lektorat verlassen kann, diese Thematik in linken und anarchistischen Verlagen ist selbst bei guter Autorenschaft unlesbar. Leider, denn gerade diese Verlage stellen sich der Herausforderung oft als erste, wie zum Beispiel den Verbrechen Stalins und dem Genozid an den Armeniern. Ende des Exkurses.
Glucksmann beginnt mit der Feststellung, die neuere Geschichte entwickle sich entlang unerwarteter Bruchlinien, wovon der 11. September 2001 nur eine darstelle. Weitere Beispiele leiten über zu seiner Beobachtung, die auch Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay „Der radikale Verlierer“ macht: Der heutige Terrorist schöpft Kraft aus dem Selbstmitleid, er nährt seinen Hass aus dem Verlust, an dem ein anderer schuld ist und der in vielen Fällen einen weiteren, gar nicht den Terroristen selber, getroffen hat. Sein Leben ist darauf ausgerichtet, präventiv zu vermeiden, was ihn von seinem Hass abbringen könnte (übrigens auch das Thema im umstrittenen Film Paradise Now). Auf diese Vermeidungsstrategie kommt Glucksmann immer wieder zurück und zwar nicht redundant, sondern aufschlussreich.
Dieser Autor schreibt exakt wie es die Kapitelüberschrift ankündigt und er liefert Denk- und Lösungsansätze. Es ist deshalb ein Buch aus Essays, ein Stil, wie man ihn von Susan Sontag kennt. (Ich habe einiges von seinem Zahlenmaterial überprüft, es war derart verstörend. Und ja, alles richtig, hier ist Glucksmann, nicht Michael Moore.)
Neben dem Irak-Krieg und dem Antiamerikanismus ist Glucksmanns Thema der Osten. Zu Tschetschenien hat er sehr viel recherchiert, einer Tschetschenin ist das Buch auch gewidmet. Glucksmann behauptet aber auch – und es ist schwierig, ihn zu widerlegen – der palästinensische Terrorist geniesse die grössten Sympathien und werde moralisch am wenigsten verurteilt. Und seine Erklärung dafür ist, dass der palästinensische Terrorist konsequent den Juden vernichtet. Viele seiner Überlegungen widmen sich dem heutigen Antisemitismus und das hat mich am allermeisten beelendet. Seine unzähligen Nachweise, dass wir dieses zweitausendjährige Motiv für Diskriminierung, Elend und Lüge nicht loswerden.
Sollten Sie jemals in einer Buchhandlung oder Bibliothek auf diesen Titel stossen und noch unentschlossen sein: Seite 114 aufschlagen und Glucksmanns fünf Forderungen lesen. Das ist der einfache, klare, nicht zu umgehende Ansatz eines Philosophen, der sehr viel von Politik versteht. Solchen gehört die Zukunft. Das jedenfalls ist meine Hoffnung.

Schule in der Einwanderungsgesellschaft

Rudolf Leiprecht und Anne Kerber, Schule in der Einwanderungsgesellschaft
Leiprecht Rudolf | Kerber, Anne (Hrsg.)
Schule in der Einwanderungsgesellschaft
WOCHENSCHAU Verlag 2005

Dank Lisa Rosa brauche ich dieses Buch nicht ausführlich zu besprechen, weil sie das nämlich schon gemacht hat. Der Untertitel „ein Handbuch“ trifft zu. Und wie es sich für ein Handbuch gehört, werde ich nie wissen, ob ich es je komplett gelesen haben werde. Das Inhaltsverzeichnis ist detailliert und die Anmerkungen gibt es direkt nach jedem Beitrag. Leider fehlt das Register, wie so oft in dieser unserer schnell druckenden Zeit.
Hervorheben will ich Folgendes: Ich schätze, dass sich im Buch gleich viele Beiträge von Männern und Frauen finden. Zu der immer grösser werdenden Gruppe von Menschen, die Erfahrungen mit Migrantinnen und Migranten gesammelt haben, gehören beiderlei Geschlechter und es braucht keine Genderdiskussion, um zu wissen, dass die Perspektiven unterschiedlich sind. Das Buch bemüht sich um geschlechtsneutrale Bezeichnungen und um explizite Erwähnung der weiblichen und männlichen Formen, was bei deutschen Publikationen selten der Fall, aber bei solchen Themen eben relevant für die Aussagen ist.
Das Augenmerk gilt der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland. Das verleitet vielleicht in der Schweiz dazu, das Buch nicht anzuschaffen (vor allem Bibliotheken sind da oft zu zurückhaltend) oder nicht ausreichend davon Gebrauch zu machen. Das wäre aber falsch. Denn der grösste Teil ist auch für die Schweiz relevant. Und Themen, die vermeintlich besonders deutsche Themen sind, wie zum Beispiel die pädagogische Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazizeit, sind so aufgearbeitet, dass sie für alle lehrreich und übertragbar sind. Übertragbar auf andere Verbrechen, auf Verbrechen, die Fluchtgründe der Eltern unserer Schülerinnen und Schüler waren: Srebrenica, Kigali, Drenica, Darfur.
Unbestreitbar gibt es im Verhältnis zur Vergangenheit viel Neurotisches: Gesten der Verteidigung dort, wo man nicht angegriffen ist; heftige Affekte an Stellen, die sie real kaum rechtfertigen; Mangel an Affekt gegenüber dem Ernstesten; nicht selten auch einfach Verdrängung des Gewussten oder halb Gewussten.
– Adorno, 1960
Dieses Buch hat bei mir noch einen zweiten Titel: Empathie ist ein Dauerauftrag. Und Untertitel: Gerade in der Schule.

Farm der Tiere

George Orwell, Farm der Tiere
Orwell, George
Farm der Tiere | Die Pressefreiheit
Illustrationen: F.K. Waechter
Diogenes 2005
Originaltitel: Animal Farm | The Freedom of the Press

Also diesen Klassiker zu besprechen käme mir zumindest etwas unnütz vor. Den findet man entweder gut oder hat ein Zwangslektüretrauma aus der Schulzeit.
Ich selber kenne zum Glück zu dem Masterpiece keine Sekundärliteratur. Ich lese die Fabel immer wieder, immer wieder mit Aha-Erlebnissen.
Schon als sie 1945 erschien, hätte sie als Warnung getaugt und mit jeder Neuauflage mehr. Gerade für die Linke, die mehrheitlich zu lange gebraucht hat, um der eigenen Sozialismusverblendung Herrin zu werden.
Das schöne Büchlein aus dem lieben Schweizer Verlag ist vom ebenfalls lieben, begabten und leider jetzt toten Waechter wunderbar illustriert. Und der 1972 erstmals als Nachwort erschienene grandiose Essay „Die Pressefreiheit“ ist bis in alle Ewigkeit ein Wiederlesen wert.
Ausser natürlich, die Presse wäre vorher frei.

Grossmama packt aus

Irene Dische, Grossmama packt aus
Dische, Irene
Grossmama packt aus
Hoffmann und Campe 2005
Originaltitel: Pious Secrets

Doch, ich bin mit Korrigieren im Hintertreffen und mit der Wäsche auch, danke der Nachfrage. Die Hauptschuld trifft ein Buch oder noch besser, seine Autorin. Denn Irene Disches „Grossmama packt aus“ hat mich am 15. Dezember kalt erwischt und hat nicht nur meine Zeit gestohlen, sondern sich selbst auch gleich in die Liste meiner diesjährigen Favoriten.
Eigentlich ist Lob für das Buch und die Autorin entbehrlich, selbst vor Matthias Matussek haben die beiden bestanden. Aber ein paar Ausschweifchen kann die Buchhändlerin sich nicht verkneifen.
Irene Dische wurde von Hans Magnus Enzensberger für den deutschsprachigen Raum entdeckt. „Fromme Lügen“ schaffte es dank der „Anderen Bibliothek“ zum Geheimtipp zu werden, verkaufte sich über lange Zeit erfreulich und machte Dische hier zum Begriff. So ehrenvoll gestartet, hat sie sich weiter eine treue Leserschaft erschrieben und zusammen mit ihrem Entdecker und Michael Sowa eines der schönsten Kinderbücher gemacht. Seit dem Roman, den ich vor zehn Minuten beendet habe, weiss ich auch, dass „Esterhazy“ ziemlich viel mit Disches Familie gemein hat. Es gelingt dem kleinen, von Pralinen und Intelligenz degenerierten Hasen eine grosse, Möhren fressende Häsin im Niemandsland der Berliner Mauer zu angeln und – durch einen mutigen Schritt Richtung Mischehe – seine Erbanlagen aufzupolieren. Och, ich bin ja in der falschen Buchbesprechung. Entschuldigung.
Die begnadete Erzählerin hier ist Irene Disches Grossmutter mütterlicherseits. Die aufrechte Katholikin hatte vor dem zweiten Weltkrieg und zum Missfallen ihrer Familie einen konvertierten ehemals jüdischen Chirurgen geheiratet, Irenes Grossvater. Zusammen hatten sie ein einziges Kind, Disches Mutter Renate. Den dreien gelang gestaffelt und knapp rechtzeitig die Flucht nach Amerika, während der jüdische Teil der Familie mit Ausnahme eines missratenen Bruders in Australien, gänzlich ausgelöscht wurde. Die Eltern blieben auch in Amerika gradlinige Katholiken, ja sie flohen vor den Juden New Yorks sobald wie möglich in die Peripherie. Dies mit dem Ergebnis, dass Renate im Laufe ihres Lebens drei jüdische Männer ehelichte, wovon der erste und für die Eltern Verabscheuenswürdigste, der Vater ihrer beiden Kinder wurde. Die Grosseltern liebten Irene und ihren Bruder Carlchen, aber der Dische-Anteil wurmte die Grossmutter bis zum Urenkel und über ihren eigenen Tod hinaus.
Das ist der Handlungsfaden. Er führt durch das Eheleben, dessen Mischcharakter tunlichst verschwiegen wird, durch die ersten Kriegsjahre, durch die Emigration, durch Geschlechterkampf, den Aufstand des Nachwuchses zweier Generationen, durch einen absolut verdrängten Holocaust, der erst in den Todesstunden wieder sichtbar wird.
Das Herausragende ist die Erzählperspektive, die Schwermut wird konsequent weggelassen, aber nicht etwa auf Kosten der Emotionen, mit denen sich die Autorin spielend meine höchste Konzentration holte. Dieses Buch ist ein weiterer Beweis für meine These, dass in der zeitgenössischen Literatur Frauen die Tragikomödie dominieren, in sämtlichen Gattungen.

L’Unité d’habitation de Marseille

Jacques Sbriglio, Le Corbusier: L'Unité d'habitation de Marseille
Sbriglio, Jacques
Le Corbusier:
L’Unité d’habitation de Marseille
The Unité d’Habitation in Marseilles
Birkhäuser 2004

Müsste ich dieses Buch beschlagworten, gehörte es zu den Architekturführern. Es zeigt – zweisprachig – die Geschichte der ersten Wohnsiedlung, die Le Corbusier nach dem zweiten Weltkrieg gebaut hat. Das Buch ist ausgezeichnet gemacht. Dank reichem Dokumentationsmaterial sowie Ergänzungen, Quellen, Bauchronologie und technische Daten im Anhang, ist es genau von der Qualität, die ich an Birkhäuser so schätze.
Aber da ist noch viel mehr drin als Architektur, nämlich Geschichte und Soziologie. Die „Unité“ (auch „Le Corbu“ genannt) wurde von 1945 bis 1952 erbaut, 1955 wurde die dazugehörige Schulanlage eröffnet.
Es ging damals einerseits um Wiederaufbau, andererseits waren in Kriegszeiten Projekte hängen geblieben, die so, wie ursprünglich geplant, gar nicht mehr umgesetzt werden konnten. Vieles hatte sich verändert, der Wohnungsbedarf war enorm, allein in Marseille waren 32’000 Familien auf Wohnungssuche. Der französische Staat war sich der Probleme bewusst und gründete 1945 ein Ministerium, das sich allein mit dem Städtebau beschäftigen sollte, das MRU (Ministère de la Reconstruction et de l’Urbanisme). Und de Gaulle waren klug genug, sich die Besten zu holen. Er übergab die Führung Raoul Dautry, der Le Corbusier für ein erstes Projekt gewinnen konnte, indem er ihm versprach, er hätte nichts mit dem Einholen von Bewilligungen zu tun.
Der Bau der „Unité“ wurde samt seiner durchdacht gestalteten Umgebung zu einem Vorbild, sowohl für weitere Bauten Le Corbusiers sowie für die ersten Elementbauten, wie ich in einem aufgewachsen bin und heute noch wohne. Nicht dass das ohne Pannen und Konflikte gegangen wäre. Das beste Beispiel dafür sind die schriftlichen Anweisungen des Architekten, wie sein Bau zu bewohnen und zu nutzen sei. Er verfasste sie, als das Ministerium 1952 gegen seinen Willen etnschied, die Wohnungen auf dem freien Markt zu verkaufen und mich erinnert der Akt an Luthers Thesenanschlag. Es war der Beginn eines neuen architektonischen Zeitalters.
Ich möchte nicht behaupten, wenn man sich an Le Corbusiers Thesen gehalten hätte, wäre alles gut. Aber ich bin sicher, die Entwicklung in den Vorstädten (ob Plattenbau oder Banlieu) wäre besser verlaufen. Le Corbusiers Spielplatz auf dem Dach der „Unité“ ist etwas vom Schönsten und Sorgfältigsten, das je für Kinder gebaut worden ist.

Exquisite pain

Sophie Calle, Exquisite pain
Calle, Sophie
Exquisite pain
Thames & Hudson 2004
Originaltitel: Douleur exquise

Dieses Buch ist ein Gesamtkunstwerk. Es verbindet Inhalt und Ausstattung zu einem zeitgenössisches Faksimile. Die autobiografische Geschichte ist schlicht. Sophie, verliebt in den viel älteren Freund ihres Vaters, bekommt auf eigenen Wunsch ein Stipendium für drei Monate Tokyo. Weil sie Tokyo gewählt hat, ohne den Ort auch im Geringsten interessant zu finden, verkürzt sie ihren Aufenthalt, indem sie die Reise verlängert. Sie dokumentiert, angefangen am Gare du Nord, jeden Tag ihrer Bildungsreise akribisch in Worten, Briefen, Quittungen, Zetteln und Fotos.
Fünfzehn Jahre später macht sie damit dieses Buch, zwei Drittel davon sind Vorspann auf ihr unglücklichstes Erlebnis. Sie beginnt mit „92 DAYS TO UNHAPPINESS“ und zählt Seite für Seite rückwärts bis zum Tage null. Jeder Tag ist wunderschön beschrieben, allein mit dem Material, das sie in Asien gesammelt hat. Am Tage null trifft sie nicht wie vereinbart ihren Liebhaber in Delhi, sondern bekommt eine Nachricht, sie solle in Frankreich anrufen. Als sie endlich zu ihm durchdringt, verlässt er sie. Und in diesem Moment schrumpfen alle die Erlebnisse und Erfahrungen zusammen auf dieses Ende.
Da beginnt das letzte Drittel des Buches „After Unhappiness“. Sophie schreibt 94 Varianten des Telefongesprächs, das sie am 25. Januar 1985 im Imperial Hotel in New Delhi von einem roten Wählscheibenapparat aus geführt hat. Dies immer auf der linken einer Doppelseite. Auf der rechten Seite erzählen Sophies Freunde vom Moment in ihrem eigenen Leben, an dem sie am meisten gelitten haben. Diese kurzen Erklärungen sind einmalig, sie ergänzen Sophies Liebeskummer, sie relativieren ihn, sie erzählen ihn neu. Dieses Buch hat Geschichte in sich, persönlich, künstlerisch, literarisch.