Vergessener Juni

Der Juni ist ein arbeitsreicher, belastender aber auch lustiger Monat. Ich habe permanent das Gefühl, etwas vergessen zu haben und leider stimmt das Gefühl. Zum Beispiel wusste ich neulich nicht mehr, bei welcher Ampelfarbe man über die Strasse geht. Ich war in Schulhausnähe und wollte mich entsprechend vorbildlich verhalten. Mir fielen nur die Amplen mit den Zahlen und der blinkenden Hand aus den USA ein. Aber das stehende rote und das gehende grüne Männchen sagte mir nichts mehr. Irgendwann kam ein anderer Lehrer und ich tat, was er tat.
Vorgestern hatte ich wieder einmal Gelegenheit, in Spezialgeschäften einzukaufen, ich konnte am frühen Abend in die Stadt. Ich hatte schon lange einen Zettel gemacht. Ich ging ins naheliegenste Geschäft für den Erwerb von zwei der notierten Gegenstände, kriegte die erwartete fachmännsiche Beratung und kaufte beide. Vor dem Laden nahm ich den Einkaufszettel wieder zur Hand. Leider wusste ich nicht mehr, was ich vor einer Minute gekauft hatte und demnach auch nicht weiter. Ich musste in die Tüte schauen: Velohelm und Veloschloss.
Passend zur Vergesslichkeit las ich das neue Buch Keller fehlt ein Wort, einen Débutroman von einem Schweizer, erschienen in einem österreichischen Verlag. Nach zwei Hirnschlägen sind Keller, dem Kommunikator von Berufes wegen, die Wörter entfallen, er kann weder sprechen noch schreiben. Mit seinem Arzt telefoniert er mit Klopfzeichen aufs Handymikro, seinem Sohn schreibt er einen Brief rührend fertig, den er begonnen hatte, als er noch gesund war, zu seiner Freundin wird eine Depressive, die sein Gebrabbel bestens versteht. Ohne mir Gedanken über den literarischen Wert des Werkes gemacht zu haben – was ja eigentlich bei einem neuen Schweizer Autoren Pflicht wäre – erlaube ich mir, das Buch wärmstens zu empfehlen. Mich hat es sehr berührt – aber vielleicht liegt’s am Juni.

Lesefluss

Meine Vorsätze fürs Jahr waren, mehr Röcke zu tragen und die Titel der Bücher zu notieren, die ich 2011 lese. Ersteres ist – auch dank Klimawandel – gut erfüllbar und bewährt sich. Das Zweite geht nicht so recht. Gemäss meinen Aufzählungen im Buchtagebuch hätte ich bis jetzt siebzehn Bücher gelesen (Comics, Gedichtbände und Kinderbücher u.ä. zählen nicht). Das fand ich mickrig, denn ich lese wieder eher mehr Bücher, also weniger online und Zeitungen und Zeitschriften als vor einem Jahr.
Also bin ich der Sache nachgegangen. Ich kann mich ungefähr einen Monat an konkrete Titel erinnern, danach verschwimmt alles: Inhalte und Emotionen aus den Büchern fliessen dann neben mir her in einem breiten Fluss, dessen Zuflüsse längst vereint.
Ich notierte offenbar nur die Titel im Buchtagebuch, die mindestens einmal vor meinem Bett lagen. Die anderen gingen unter. Letzten Monat waren dies:

  • Wolfgang Hässner, Anna Achmatowa (vergriffene Rowohlt-Monographie, gelesen auf dem heimischen Balkon im Zusammenhang mit dem Stalin-Epigramm, das ich hingegen notiert da im Bett gelesen habe)
  • Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil (gelesen in einer Mittagspause und bei einer Aufsicht)
  • Däpp/Trachsel, Vom Traum, reich zu sein (gelesen im Zug)
  • Das Bücherlesen ist eine merkwürdige Tätigkeit. Eigentlich verständlich, dass es vielen suspekt ist.

    Mich nicht wiederholen. Sparsamer sein

    1. Mich nicht wiederholen
    2. Nicht versuchen, amüsant zu sein
    3. Weniger lächeln, weniger reden. Andererseits, und am wichtigsten: es ernst meinen, wenn ich lächle, und glauben, was ich sage + nur sagen, was ich wirklich glaube
    4. Meine Knöpfe annähen (+ selbst zugeknöpfter sein)
    5. Sachen, die nicht funktionieren, zu reparieren versuchen
    6. Jeden Tag baden und alle zehn Tage die Haar waschen. Bei David* genauso.
    7. Darüber nachdenken, warum ich im Kino an den Fingernägeln kaue
    8. Mich nicht über andere Leute lustig machen, nicht gehässig sein, nicht das Aussehen anderer Leute kritisieren etc. (das ist alles vulgär und eitel)
    9. Sparsamer sein (denn dadurch, dass ich so unbekümmert Geld ausgebe, bin ich darauf angewiesen, so viel zu verdienen)
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    Jack Taylor: (m)eine Neuentdeckung

    Der Dezember ist ein harter Monat. Scheiss auf die ganze Festvorbereitung. Wenn man allein ist, foppt sie einen an jeder Ecke. Man schlägt ein altes Buch auf und findet eine Liste von Freunden, denen man einst Karten geschickt hat. Jetzt sind sie alle tot oder verschwunden.
    Selbst wenn man (noch) Adressaten hat, selber gesund und nicht besonders einsam ist, kann der Dezember einen hart ankommen. Die klirrende Kälte treibt die Kranken und Süchtigen in die Trams, die Warteräume, die öffentlichen Toiletten, in die Windfänge der Restaurants und Entrées der Schulhäuser und führt einem mehr gesellschaftliche Mängel vor Augen, als man ertragen möchte.
    Der Fernseh ist mit Spielsachen für Kinder vollgestopft, die man nie hatte, und jetzt ist es ein bisschen spät dafür, ein bisschen sehr spät. Das Radio spielt Balladen, die einst mit Bedeutung oder gar Hoffnung befrachtet waren.
    Aufrufe, sich um Bedürftige zu kümmern oder für sie zu spenden schwirren durch den Äther. Vorangegangen ist ein Jahr demokratischer Lieblosikeit, in dem Menschen mit ein wenig Geld auf Menschen mit wenig Geld gehetzt und Menschen mit dem meisten Geld hofiert wurden. Saisongerechtes Mitleid ist folgerichtig.
    Es heisst, das ganze Ausmass der Einsamkeit erschliesse sich erst in der Küche, wenn man eine Einzelmahlzeit bereite. Alles nur Einzelstücke: eine Tasse, ein Besteck, ein Teller und höchstwahrscheinlich auch nur ein einziger lausiger Plan.
    Das ist das Besondere der Jack-Taylor-Romane: Man braucht nicht reinzukommen. Man ist von Anfang an drin, kriegt mehr als genug Gelegenheit, sich Gedanken zu machen ums Dasein. Ich habe den zweiten Band zum Geburtstag erhalten, fühlte mich unerklärlicherweise angesprochen von diesem verkoksten, heimatlosen, lesenden Säufer, der widerwillig Fälle löst oder vermurkst. Habe dann den ersten Band sofort nach-gelesen und bin jetzt am dritten, aus dem auch die obige (kursiv geschriebene) Stelle stammt.
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    Kriterien eines guten Gesprächs

    Kriterien eines guten Gesprächs (mindestens so wichtig wie eine gute Mahlzeit):
    1. Themen, die alle interessieren, Themen, die hin und wieder wechseln und deren Bedeutung auch gewissen objektiven Kriterien standhält;
    2. einander zum Denken zwingen, zum Beispiel durch Fragen (Sokrates), auch bei Abschweifungen;
    3. Abschweifungen beliebig zulassen, aber immer nach dem Gedanken fragen;
    4. wenn der andere erzählt, ihn fragen, was er genau gesehen, gehört, gefühlt hat, was auffällig war, was für allgemeine Schlussfolgerungen sich für ihn daraus ergeben;
    5. ausgeglichener Wechsel zwischen Reden und Zuhören, also auf die Herausgabe von Einfällen verzichten, wenn es den anderen in seinem Gedankengang unterbricht.
    6. sofort stoppen, wenn die Leute anfangen, einander Witze zu erzählen.
    Notiert von Peter Noll (1926-1982) am 21. März 1982.
    Publiziert in seinem Buch „Diktate über Sterben und Tod“
    (Piper TB 539 auf S. 140)

    Chwila

    Als ich gestern in meiner Tageszeitung den Titel zum Jahrestag 9/11 Der Tag, als die Furcht zur Angst wurde las, ist mir mein Litetaraturlehrer aus der Buchhhändlerschule eingefallen. Dieser zitierte nämlich zu verschiedensten Gelegenheiten (von Prüfungsbammel bis Politikversagen) Kierkegaard mit den immer gleichen Worten „Angst geht tiefer als Furcht“. Ich weiss nicht, ob das Zitat so korrekt ist und ich möchte es auch nicht herausfinden. Kirkegaard kommt im lesenswerten Artikel dann auch nur am Rande vor. Aber das Zitat ist mir in den letzten zweiundzwanzig Jahren häufig im Zusammenhang mit der Schule, Freiwilligenarbeit, Erziehung des eigenen Kindes eingefallen.
    So konsequent, wie Res Strehle das in seinem Artikel zu 9/11 tut, habe ich noch nie zu Ende gedacht. Ich habe Kierkegaard zwar stets so vestanden, dass Furcht ein Ergebnis der Vernunft ist, während Angst von Innen kommt und der Verdrängung, Entschuldigung (Rechtfertigung) oder Begründung bedarf. Da es sich dabei um unangenehm anstrengende Tätigkeiten handelt, ist verständlich, dass Angst oft aggressiv macht und der Ängstliche schnell nach dem Schuldigen sucht. Wie sehr das heute im Zusammenhang mit fehlender Aufklärung und Abgeklärtheit steht, war mir weniger bewusst. Dabei hätten die Schweiz, Deutschland und die USA je eine in dieser Hinsicht absolut taugliche Verfassung. Was ich ähnlich wie Strehle neun Jahre nach 9/11 als übermässig empfinde, sind Empörung und Verklärung. (Deshalb hoffe ich sehr, dass deutsche Buchhändlerinnen und Buchhändler nicht aufhören, Heisig zu empfehlen. Sarrazin läuft sowieso von selber.)
    Dieser Tage las ich mehrmals das Gedicht von Wisława Szymborska „Fotografie vom 11. September“, in dem der letzte Satz ungeschrieben bleibt. Publiziert wurde es in Deutsch erstmals im Dezember 2001 in der ZEIT, aber es gehört zu der Gegenwartslyrik die eben keine direkt politische und deswegen zeitlos ist. Es ist in ihrem Gedichtband „Der Augenblick“ zu finden:
    Umschlag Szymborska, Chwila
    „Chwila“ weiterlesen

    Empor aus schweren Träumen*

    Ich sehe den Untergang nahen, wenn der gute Mensch zum Schimpfwort wird und Vorurteile derart gemainstreamt sind, dass sie es nur noch als Konzentrat in die Charts schaffen. Dass die Zukunft des Buches eine Elektronische sein soll und die Papierproduzenten auf den Tissue-Bereich umrüsten (der Wachstumsmarkt in dieser Sparte: Ultra Soft, With Lotion, Anti-Viral) stimmt auch nicht zuversichtlich.
    Aber Lesen hilft. Ich lese seit ich denken kann mindestens eine Stunde pro Tag in einem Buch. In diesen Wochen jedoch lese ich viel mehr Bücher und weniger Zeitung und Internet. Im Moment parallel Jonathan Franzen, Anleitung zum Alleinsein (How to Be Alone) und Ferdinand von Schirach, Schuld und dazwischen in meiner Lieblingsballadensammlung. So hebt denn – langsam – der eine Untergang den anderen auf.
    * „Empor aus schweren Träumen*“ weiterlesen

    Das Leben beginnt im Banalen

    Die Schweizer Werke, die ich liebe, sind meist kleine Würfe in den See deutscher Literatur, welche für mich alles bezeichnet, was in einer der vielen Facetten deutscher Sprache geschrieben worden ist. Autoren wie Beat Brechbühl („Kneuss“), Beat Gloor („staat sex amen“), Beat Sterchi („Blösch“), Pedro Lenz („Der Goalie bin ig“), Verena Stefan („Fremdschläfer“) sind weniger bekannt als Peter Bichsel, Fritz Dürrenmatt, Franz Hohler, Max Frisch (aber nur seine Fragebögen sind so richtig alltäglich), Jeremias Gotthelf, Ruth Schweikert, Urs Widmer. Jeder von ihnen zeigt die Brüche im Alltag, die feinen, unauffälligen ganauso wie die endgültigen:
    Kochen erinnert mich. Beim Schälen von Knoblauch denke ich an meinen längst verstorbenen Freund Schmapi Gerwig. Als ich ihm mal sagte, dass sich Knoblauch besser schälen lässt, wenn man ihn halbiert, sagte er, dass das nur mit frischem Knoblauch funktioniert. Ich vergass mich zu wehren – es funktioniert auch mit altem Knoblauch. Und Schampi starb, bevor ich es ihm mitteilen konnte. (Max Frisch: „Wenn Sie an Verstorbene denken: wünschen Sie, dass der Verstorbene zu Ihnen spricht, oder möchten Sie lieber dem Verstorbenen noch etwas sagen?“) Würde Schampi eines Tages plötzlich vor mir stehen, ich würde ihm sagen, dass ich ihm vergessen habe zu sagen, dass das durchaus auch mit altem Knoblauch gelingt.
    Ja, das ist banal. Aber das Leben beginnt im Banalen.

    Aus: Peter Bichsel „Die Linsen meiner Mutter“ (In: Über Gott und die Welt, Suhrkamp 2009)

    Buchbestand am 22. Juli 2010

    Ich wollte für einmal nicht Lesende fotografieren, sondern den Bücherbe- und -zustand zum Zeitpunkt x in unserem Mini-Mobil-Home aufnehmen. Das war nur während einer Siesta möglich, sonst kam es eigentlich höchstens in der fortgeschrittenen zweiten Hälfte der Nacht vor, dass keiner von uns las. Wir lasen natürlich auch die Abgesänge auf das Buch (nicht das Lesen, wohlgemerkt! Zeitungen trennen das gern und illustieren dann doch mit einer jungen Buchleserin).
    Ferienlektüre am 22. Juli 2010, Mobil Home 74B Ferienlektüre am 22. Juli 2010, Mobil Home 74B
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