Neues Jahr vor neununzwanzig Jahren

Damals war ich in Südindien. Die Rückkehrroute auf dem Landweg erschien den Daheimgebliebenen langsam ziemlich risikoreich. Aber meine Mutter wusste Optimismus und Normalität zu verbreiten. Sie schreib nach Hause:

Kalangut, Anfang 1979
Sälü alli zäme! Heute ist Samstag. Draussen spaziert eine schwarze Fählimoore mit acht schwarzen Fährli. Da hier alle die Abfälle vor ihre Palmblatt-Hütten werfen, ist die Verpflegung für die grunzende Familie kein Problem. Wir haben hier im Palmenwald am Indischen Ozean wieder einen bescheidenen Haushalt. Zwei Stuben, einen Dusche, welche tatsächlich läuft und einen Steintisch als Küche. Manchmal schmettert eine Kokosnuss aufs Dach. P. ist zum Markt gegangen. Er hat indische, fideli-artige Spaghetti entdeckt und freut sich auf einen Schweizer-Frass. Auf dem Kerosin-Ofen habe ich z’Morge gemacht. Wenn’s tagt, beginnt es im Palmenwald zu hornen wie von Lastwagen, aber das ist nur der Brotmann, der sein Korb bepacktes Fahrrad durch den roten, tiefen Sand zu unserem Haus schiebt. Für 40 Rappen packt er frische Brotringli in die Tasche am Gartetööri. Unsere Vorräte verwahren wir in bauchigen Tonkrügen, da wir mit Ratten reich gesegnet sind. Ameisen gibt’s hier in vielen Arten von Riesen- bis zum muntzigen Zwergameisli. Sie können auch eine Plage sein. Die Skorpione haben wir vertrieben und die Eidechsen tun einem nichts. Auf die frechen Ratten, welche alles klauen und die Geissen und Wasserbüffel muss man auch aufpassen, sonst ist alles irgendwie Essbare weg. Dem Samstag zuliebe hebe ich heute mit einem stiellosen Binsenbesen die „Wohnung“ gefegt: Rückenweh – Ergebnis fast null. Das einzige Putzmittel für ausnahmslos alles = Vim in einem Kartonbüchse. P. liess sich für den Fischfang begeistern und fährt auf klobigem Boot mit den Fischern hinaus. Wenn er zurückkommt, hilft Tanja das Boot aus dem Wasser stossen und hat viel zu tun, das hintere Rugeli immer wieder vorne unterzuschieben.
Wir verbringen viele Stunden am und im warmen Wasser. Die Sonne brennt heiss und wir sind schon halbe Neger. Obwohl der Platz hier paradiesisch ist, werden wir uns anfangs Februar wieder auf die Reise nach Norden machen. Die Mütter sollen sich über unsere Rückreise nicht sorgen! Wir werden durch Russland zurückfahren, wenn alles klappt. Iran und Türkei können wir so umfahren. Ausserdem findet man an den Grenzen andere Europäer, die auch zurückfahren, so dass man nicht allein ist. Es sind noch sehr viele unterwegs. Eben haben wir Schweizer getroffen, die wir vor einem halben Jahr in Griechenland kennen lernten.
Seid alle lieb gegrüsst –

Tanja in Goa, Januar 1979

2 Gedanken zu „Neues Jahr vor neununzwanzig Jahren“

  1. Aus aktuellem Anlass:
    Als wir im Februar in den Bergen von Himachal Pradesh ankamen, sassen dort schon die Journalisten in den tibetanischen Restaurants und warteten in sicherer Distanz auf die Vollstreckung des Todesurteils an Ali Bhutto. Sie verschlangen viele Kessel voll Nudelsuppe, bis der Mann dann am 4. April in „Pindi“ gehängt wurde.

  2. Ich frage mich einfach dieser Tage und viele Tage zuvor, was für astronomische Sternkonstellationen diese kurze Zeit in der Menschheitsgeschichte ermöglicht haben, wo man vom Bosporus bis Goa durch alle diese Pulverfassgebiete auf dem Landweg reisen konnte und welcher Zufall ausgerechnet mich dahin katapultiert hat.

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