stressig, ist es nicht?

Frau Kaltmamsell hat mich an einen Schwur erinnert: irgend einmal vor ein paar Jahren habe ich mir geschworen, endlich zu begreifen, dass „Stress“ meistens individuell vorkommt. Natürlich gibt es auch generellen Stress wie Unsicherheit, Hunger, Existenzangst oder Heimweh. Aber wenn auf der Strasse davon gesprochen wird, ist meistens der Individuelle gemeint.
Im Lehrerzimmer ist die Akzeptanz des persönlichen Stresspegels besonders nützlich. Die einen lassen sich von Regeln stressen, die mich nicht einmal ein müdes Lächeln kosten, zum Beispiel, dass man E-Mails innerhalb von zwei Arbeitstagen beantworten muss. Die anderen können nicht verstehen, dass es mich an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt, wenn Schülerinnen einschlafen, weil das an ihnen schlicht abperlt.
Mich stresst Unterrichtsvorbereitung für Klassen, mit denen ich Probleme habe – jede Gruppenarbeit wird zur Gratwanderung, jede Rückgabe schlechter Tests zur Blutschwitzerei. Im Buchhandel stresst mich die seit Jahren unsichere Situation mit der Preisbindung. Der Haushalt stresst mich aus Zeitgründen, aber wenn ich mal dran bin, bin ich schnell und zelebriere gerne Perfektionismus. Dagegen lerne ich vermehrt Männer und Frauen kennen, die einfach nicht mehr wissen, dass Geschirrtücher gebügelt besser in den Schrank passen, es sehr praktisch wäre, schon ein Baby aus der Nähe gesehen zu haben, bevor man eines bekommt und die deshalb in häuslicher Situation schnell in Stress geraten.
Ich habe auch oft mit Leuten zu tun, die enorm gestresst werden, weil sie glauben, jede Erkenntnis brauche eine Sitzung und Sitzungen müssten zwischen 9.00 und 12.00 am Morgen oder zwischen 14.00 Uhr und 16.00 Uhr am Nachmittag stattfinden. Für mich hingegen ist eine effizienter Halbstünder beim Espresso um 7.00 nicht stressig und eine Telefonsitzung um 22.00 Uhr gut drin. Wenn’s um etwas mit Deadline geht, kann ich auch ab und zu um 24.00 Uhr telefonieren, das stresst mich sicher nicht mehr, als zu dieser Zeit durch ein bescheuertes TV-Programm zu zappen und den Zeitpunkt fürs Abschalten nicht zu finden. Aber wenn ich in der Nacht einen Anruf bekomme, dass eine Kollegin zusammengeklappt ist und ich sie am nächsten Tag vertreten muss, dann bin ich sofort völlig im Stress, während andere sich auf eine solche Stellvertretung, für die sie Dank und Lohn bekommen, richtig freuen.
Doch professionell ist, wem man den Stress nicht anmerkt. Noch professioneller ist, wer weiss, wann er Ruhe braucht. Gemäss Arbeitszeugnissen bin ich beruflich professionell, gemäss Familienfeedback eher eine Niete. Jetzt weiss ich halt nicht, ob das schon für das Umgang-mit-Stess-Abzeichen „semi-professionell“ reicht.

4 Gedanken zu „stressig, ist es nicht?“

  1. Das reicht für ein Diplom, ganz sicher. Wenn man merkt, dass man Stress hat, ist es ein erster Schritt. Wenn man sich überlegt, was stresst und was nicht, ist man bereits fortgeschritten. Und es ist auch legitim, sich den Stress manchmal anmerken zu lassen. Das kann man ja auf verschiedene Arten tun. Stress ist eigentlich nichts so negatives, als dass man sich dafür schämen müsste.

  2. Du hast sehr anschaulich beschrieben, wie individuell der Streß ist! Jeder sozusagen seine eigene Streßpersönlichkeit. Aber ich sehe hinter Deiner Beschreibung auch eine Verallgemeinerung leuchten: Streß gibt es für jeden da, wo es ihm ans Eingemachte, an den persönlichen Sinn geht. Mich streßt Bügeln z.B. überhaupt nicht, weil es sowas bei mir nicht gibt. Und wenn die Küchentücher nicht mehr in den Schrank passen würden, dann würde ich meinen, ich hätte zuviele.
    Und was die Professionalität angeht: Professionell ist vielleicht nicht nur, wenn man weiß, daß man Ruhe braucht, sondern auch noch weiß, wie man sie sich dann verschaffen kann. ;-( Deinem Famielienfeedback würde ich in dieser Hinsicht eher halb vertrauen. 😉

  3. @Silvia: Das mit dem „professionell“ war ein wenig ironisch und aus Human-Resources-Büchern, die du ja bestens kennst. Nein, ich finde Stress auch nicht so negativ, aber so richtig darüber klönen kann ich nicht sooo gut (und es gibt wohl noch andere hier, die nicht zum Klönen neigen :-)) Anmerken lassen tue ich mir Stress nicht gerne, weil sich das ja mit Lernenden oder mit Kunden in Windeseile multipliziert.
    @Lisa Rosa: Vielleicht hat es mit der Schrankgrösse zu tun? Daneben liebe ich es sehr, ein frisch gebügeltes Küchentuch aufzufalten, ich habe keine Abwaschmaschine und trockne oft ab. Ich würde aber auch sonst bügeln, weil eine gut sitzende Bluse in manchen Situationen durchaus zu meinem Selbstvertrauen beitragen kann. Ja, mit den Familienfeedbacks ist das so eine Sache – wie du richtig schreibst, stresst, was einen ans „Eingemachte“ geht und da ist die Familie schon vorne mit dabei.

  4. Ich mag Bügeln… da kann ich Musik hören und mich entspannen (also grad das Gegenteil von Stress). Küchentücher natürlich auch, aber es geht nichts über das Auffalten eines gebügelten Nastuchs, am liebsten elegant-einhändig 🙂

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