Tischgespräch [10]

Kind:
Ich fand „Maus“ weniger schlimm als „Barfuss durch Hiroshima“. Und du?
Mutter:
Das ist schwierig zu sagen. „Maus“ ist eine dunkle Erzählung, die mich schon lange prägt und begleitet. „Barfuss“ finde ich furchtbar, weil mich der Protagonist an dich erinnert. Vielleicht ist das der Grund, warum du es schlimmer findest – weil Gen dir nahe kommt.
Kind:
Das kann vielleicht schon sein. Ich möchte immer noch wissen, ob diese Atombombe wirklich nötig war, um den Krieg zu beenden. Ich kann das nicht glauben.
Mutter:
Und ich kann es dir nicht sagen. Du solltest mit deiner Grossmutter recherchieren und nach dem neusten Stand des Stichworts Japanische Kapitulation fahnden.
Kind: [schweigt]
Mutter:
Weisst du, unsere Bibliotheken sind wirklich gut. Gerade seit du auf der Welt bist, ist sehr viel geforscht worden. Wir haben unverzeihliche Fehler gemacht im 2. Weltkrieg, aber keine Bücherverbrennung. Das Buchzentrum konnte sogar einige ganze Verlagsprogramme von Verlagen, die in Deutschland von den Nazis geschlossen wurden, retten. Archivieren ist wichtig und es wird auch heute gut gemacht.
Kind:
Warum sagst du „wir“, wenn du die Schweiz meinst?
Mutter:
Weil ich mich identifiziere, wie du mit Gen.
Kind:
Aber du warst ja gar nicht dabei im 2. Weltkrieg!
Mutter:
Das spielt keine Rolle. Mit der Schuld der Generationen ist es wie mit der Gastfreundschaft. Wenn du einen Gast hast, dann musst du dich auf jede erdenkliche Art auf ihn einstellen. Wenn du ein Gast bist, dann musst du dem Gastgeber möglichst weit entgegenkommen. So funktioniert der Frieden. Das kannst du schon in der Odyssee nachlesen…
Kind:
… das sagst du immer!
Mutter:
…und mit den Verbrechen, die vor unserer Geburt begangen wurden, ist es auch so. Die Schuld müssen wir eingestehen, mittragen und unser Ziel ist, die Fehler niemals zu wiederholen. Aber andere für die Fehler ihrer Vorfahren verantwortlich machen – das dürfen wir nicht.
Kind:
Das ist gemein.
Mutter:
Nein, nur so kann es Frieden geben.
Kind:
Das sagst du immer und hältst dich selber nicht daran! Dich nervt es, wenn Kinder wunderlich tun beim Essen, manchmal schimpfst du schon im Voraus.
Mutter:
Aber ich bin freundlich und serviere trotzdem nur etwas, das sie mögen und belehre sie nicht, wenn sie es dann doch nicht essen.
Kind:
Aber mich!
Mutter:
Klar! Du bist ja auch nicht bei mir zu Besuch. Als ich ein Kind war, lasen viele Eltern ständig in so einem Buch mit Weisheiten, „Der Prophet“. Dort stand ungefähr: „Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen.“ Ich war damals noch jünger als du und fand das schon saublöd.
Kind: [lacht prustend]

5 Gedanken zu „Tischgespräch [10]“

  1. *seufz* … was hätte ich als Kind dafür gegeben, solche Gespräche mit meiner Mutter/meinen Vater führen zu können! beneidenswert Dein Kind! Darf ich mal nach der Altersklasse des Kindes fragen? Wenigstens so ungefähr? Ist von den Gesprächen her schwer einzuschätzen.
    Ansonsten wünsche ich Euch allen ein schönes Wochenende! Liebe Grüße, Liisa

  2. Liisa, das Kind wird diesen Monat 11 und liest seit es 4 Jahre alt war, bilderlos seit 6. Und das ist ein ziemlicher Luxus, da hat Katia absolut Recht, wir haben es wirklich gut.

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