Tischgespräch [11]

Kind:
Deutschland hat ein Problem mit den NDHs.
Mutter:
Was sind NDHs?
Kind:
Die nicht deutscher Herkunft.
Mutter:
Woher weisst du das?
Kind:
Aus dem SPIEGEL-Artikel über Gewalt an Schulen. Aber auch alle anderen Zeitschriften sind voll davon, sogar BRAVO.
Mutter:
Ist mir auch schon aufgefallen. Genau ein Jahr nachdem uns die Schulleitung deiner Ex-Schule gesagt hat, dass du übertreibst, dass Gewalt an Schulen ein Modethema sei und Mobbing ein Modewort, ist die ganze Presse voll davon.
Kind:
Dann hatten wir ja Recht!
Mutter:
Das sagen die sicher auch: „Seht nur! Gewalt an Schulen ist einfach Mode, alles voll davon!“
Kind:
Aber ich habe gelesen, dass nun alle mehr dagegen machen müssen und dass sei mehr überprüft werden, das finde ich auf jeden Fall sehr gut. Wenn das bei mir schon gewesen wäre, hätte ich nicht wechseln müssen.
Mutter:
Kann sein. Ich bin auch froh, dass jetzt öfter Berichte über Schulen erscheinen, die etwas tun und nicht immer nur über solche, die nichts tun. Die Gleichung n.d.H. = gewalttätig stimmt sowieso nicht.
Kind:
Das hat einer in seinem Leserbrief auch geschrieben. Es liegt nur an der Disziplin. Was sind Achtundsechziger?
Mutter:
Ich weiss genau, welchen Brief du meinst. Die Achtundsechziger waren 1968 jung und wollten den Zwang abschaffen. Sie dachten, was freiwillig ist, gerät besser. Dem verdanken wir viele Fortschritte an den Schulen, sie haben die Körperstrafen abgeschafft und mit den Gruppenarbeiten, dem Unterricht ausserhalb des Schulzimmers und dem Wochenplan angefangen. Du weisst ja, dass deine Grossmutter immer schweigen und gerade sitzen musste und an ihren eigenen Zöpfen am Stuhl festgebunden wurde. In den Fünfzigerjahren war es normal, dass die Lehrer die Kinder vermöbelt haben. Ich habe gerade ein Buch gelesen über einen, der sich die Hand zerschnitten hat, weil er die Mathe-Hausaufgaben nicht geschafft hat und mit der Ausrede „konnte nicht schreiben“, die Prügel des Lehrers verhindern wollte. Aber blöderweise hat er sich als Rechtshänder die Linke zerschnitten und so versuchte er also aus der Schule zu fliehen, bevor ihn der Lehrer bestrafen konnte. Das hat ihm auch nicht geholfen, denn daheim schlug ihn die Mutter mit dem Kochlöffel bis der zerbrach. So wurde er gleich doppelt verletzt und konnte die Mathe noch immer nicht.
Kind:
Aber heute schlagen nicht mehr die Lehrer und weniger die Mütter, sondern die Kinder!
Mutter:
Aber das liegt nicht an den Achtundsechzigern und nicht an den n.d.Hs. Es liegt daran, dass man Geld und Zeit für die Unterstufe immer weniger werden liess obwohl sich die Gesellschaft sehr verändert hat und sie eine immer stärkere anstatt eine immer schwächere Grundschule gebraucht hätte. Man investierte eher oben in die Bildung, bei der Uni und der Forschung und vielleicht noch im Gymnasium. Aber nicht in der Volksschule und auch nicht in die Ausbildung der Frauen und Männer, die dort unterrichten und diese Schule in Zukunft lenken sollten…
Kind:
(wendet sich definitiv seinen Fussballbildern zu)
Mutter:
Warum fragst du mich etwas und hörst dann nicht bis am Ende zu?
Kind:
Weil mir das Ende zu weit weg ist.
(Ende des Mutter-Monologes im Kommentar)

15 Gedanken zu „Tischgespräch [11]“

  1. Mutter:
    Ich finde es einfach lächerlich, so zu tun, als wären die, die sich gegen Gewalt an Schulen gewehrt haben, Schuld an der Gewalt an Schulen. Lernen ist ein Prozess! Auch die Achtundsechziger – die notabene in den grässlichen Fünfzigern Schülerinnen und Schüler waren – mussten lernen, dass Disziplin immer nötig ist, auch für die Organisation von Friedensdemos und die Olivenzucht in der Toscana. Aber wenn du heute eine neue Idee hast, musst du ihren Erfolg quasi schon beweisen, bevor du überhaupt damit anfangen konntest sie umzusetzen. Umsetzen musst du sowieso allein, bezahlen auch. Mit deiner Kraft und deinem Geld. Kreativ-Projekte sind entweder etwas für Stargeiger (was ja gut ist) oder aber etwas, wofür man eher ausgelacht wird. Ausser die Schule kommt in der Presse, dann setzt man sich an den runden Tisch und erfindet das Rad neu. Zum Kotzen ist das.

  2. Mobbing war „schon“ zu meiner Zeit ein Thema. Ich erinnere mich an diverse Opfer in meinen Klassen, an Familienmitglieder und an das Mädchen, das sich in unserem Gymnasium oben auf das Treppengeländer gesetzt hatte, woraufhin ihre Mobber von unten „Spring! Spring“ riefen. Mir braucht da keiner erzählen, so etwas wäre ein Modethema…
    Über die 68er halte ich mich vornehm zurück. Einerseits weiß ich dafür zu wenig über die 68er und andererseits liegen mir Fischer und Schily noch zu schwer im Magen…

  3. Lieber Hokey, ich weiss – als Kind solcher – (fast) alles über die Achtundsechziger und ich habe meine Hass-Phasen schon durch 😉 Ich bin jetzt einigermassen in der Lage, diese Sache rein aus der pädagogischen Warte zu sehen. Darum geht es ja im Moment den Leserbriefschreibern, die meinen, die Achtundsechziger wären Schuld an der Misere weil sie mit Antiautorität die Disziplin begraben hätten. Ihre übrigen (Miss)Erfolge sowie Schily und Fischer sind ein anderes Thema, oh lala!

  4. Leider ist es vermutlich doch ein Modethema : Das wird jetzt durch die Presse geschleust, die Verschärfung des Einwanderungsgesetzes wird diskutiert und eventuell durchgesetzt. Das Ergebnis : die Mittel für Integrationsarbeit werden gekürzt (gerade passiert) und nach und nach verschwindet das alles wieder im Nirgendwo, bis es nach Jahren den nächsten Aufschrei gibt. 🙁
    Die 68iger sind da wohl am wenigsten Schuld, denn die war eine Sache der Intellektuellen. Die hier agierenden Kids entstammen samt und sonders eher den bildungsfernen Schichten, deutschen und ausländischen, bei denen solche Konzepte wie Antiautoritäre Erziehung ohnehin nie angekommen sind. Sondern da herrscht eher eine explosive Mischung aus Autoritärer Erziehung, Überforderung und schlichter Vernachlässigung. Verstärkend kommt hinzu, daß in D das Lehrerstudium, speziell für Oberschulen, eher auf Wissensvermittlung angelegt ist als auf Erziehung. Diese gehörte allzu lange – in Verkennung der Realität – zur exklusiven Domäne der Familie.
    OT: Leider mußte ich Kommentare und GB bei mir schließen – siehe : Über dieses Weblog. Kommunikation ist nur hier oder über email möglich.
    Ich wünsche Dir und der Familie Frohe Ostern. LG rollblau

  5. Liebe Tanja, da gebe ich Dir Recht. Viele Dinge wären so heute vielleicht nicht möglich, wenn es die 68er nicht so beharrlich durchgesetzt hätten. Es liegt an uns, die guten von den schlechten Dingen zu trennen und etwas (noch) besseres daraus zu machen. Meckern kann schließlich jeder. 😉
    @rollblau
    Vom Hörensagen weiß ich, dass an manchen deutschen Unis überhaupt keine Pädagogik gelehrt wird. Da bin ich mit meinem Lehramtsstudium noch ganz gut dabei, obwohl der Pädagogikanteil am Studium ruhig größer sein könnte (und auch der Psychologieanteil wie ich erst kürzlich festgestellt habe).

  6. Mobbing, Gewalt und Pädagogik an sich waren immer schon ein Thema. Nur haben sich die Rahmenbedingungen immer wieder verändert, mal zu Gunsten des Besseren, mal zu Gunsten des Schlechteren.
    Machen wir uns nichts vor: Ausgrenzung und das damit oft verbundene Mobbing hat sich mit der Zeit geändert. Während den Fünfzigern hat man halt vor allem die Kinder gemobbt, wenn man das so sagen darf. Natürlich waren auch die Erwachsenen oft Opfer, aber wenn wir schon dabei sind: Die Kinder waren halt die ersten und schwächsten, hatten noch keinen wirklichen Schutz.
    Als dann irgendwann den Kindern gewisse Rechte und einen gewissen Schutz zugstanden wurde, wurde die Sache einfach etwas geändert. Man schikaniert den Schüler eben insofern, als man ihm eben indirekt mit schlechteren Noten oder sonstwelchen Konsequenzen droht. Danach der Nachweis zu erbringen, dass der Lehrer gewisse Grenzen überschritten hat, ist sehr schwer, allein schon deswegen, weil der Lehrer letztlich halt doch am besseren Hebel sitzt.
    Bei den Eltern war man ähnlich einfalsreich. Sie durften zwar ihre Kinder nicht mehr verprügeln, das ist ja auch in Ordnung so. Aber nun sagt man gemäss einem relativ neuem Bundesgerichtsurteil, dass eine „nicht regelmässige, einzelne“ Ohrfeige gestattet sei. Fortschritt? Ja, aber nur teilweise, man erfindet eben kreativ eine Ausnahme. Aber diese Ausnahme macht es eben auch sehr schwer, den Nachweis zu erbrigen, dass es nur eine einzelne Ohrfeige gewesen sei – da für das Kind die Konsequenzen allenfalls schwerer wiegen können, wenn das Kind Nachteile durch die Eltern zu befürchten hat, da die elterliche Gewalt – pardon, seit einigen Jahren heisst das ja „elterliche Sorge“ (schöner Euphemismus, nicht?) – ja immer noch gegeben ist.
    Dasselbe gilt grundsätzlich auch für Mobbing und anderen Ausgrenzungen. Früher schlug man sich einfach, heute zwar auch, aber irgendwie findet es da Grenzen und allenfalls einfach andere Möglichkeiten. Der Mensch ist erfinderisch, auch wenn es um solche negativen Dinge geht. Gut, ich muss zugeben, unter den Kindern selber ist die Gewalt zum Teil auch schlimmer geworden – oder fällt uns das einfach durch die entsprechende Medienberichterstattung mehr auf? Ich weiss es nicht.
    Betreffend Pädagogik ist es ähnlich. Natürlich war und ist Pädagogik dem steten Wandel unterworfen, nicht nur dem gesellschaftlichen, sondern auch dem technologischen politiischen. Aber auch hier finden sich immer wieder Lücken, die Geistreiche gern ausfüllen werden…
    Und an diesem Punkt möchte ich sagen: Weil das mir Ende viel zu weit weg ist, setze ich hier den Punkt.

  7. rollblau: Die Mittelstreichung der Integrationsarbeit ist eine Geschichte, die ich seit 12 Jahren anprangere (damals wurde das „Zvieri“-Brot in unserem Kinderhort gestrichen) und von verschiedenen Seiten mit meinen auch sehr bescheidenen Mitteln zu bekämpfen suche. Es ist zum Davonlaufen, aber wenn ich das zu sehr sage und auch noch glaube, ist die Resignation nicht weit. Ebenfalls viel Einsatz erfoderte die angesprochene Verschärfung des Asyl- und Ausländergesetzes, die auch bei uns in der Pipeline ist.
    Ich habe es schon oft geschrieben: Je unterschiedlichere Menschen (Herkunft, Sozialisiation, Religion) zusammenleben, desto wichtiger wird das Gesetz. Und das darf nur auf demokratischem Weg geändert werden und nicht durch die normative Kraft des Faktischen (z.B. Zwangs-Ehen und Zwangs-Kopftücher), wie manche das gerne hätten (Karikaturenstreit, Entschuldigungsforderungen an die Regierung, inflationärer und falscher Gebrauch der Worte wie „Rassimus“).
    kblog: ich halte „elterliche Sorge“ nicht für grundsätzlich euphemistisch, eigentlich wäre der Begriff schon passend und sicher besser als elterliche Gewalt. Bevor wir das geteilte Sorgerecht für das Kind hatten, bin ich über die Frage „wer hat die elterliche Gewalt?“ immer kurz erschrocken. Aber ich gebe dir absolut Recht, dass sich die „Gewalt“ stark verlagert hat, gerade auch in Kreisen Erwachsener, also von Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten auf Ausgrenzung und Hinterhältigkeit. Bei manchen Kindern und an manchen besonders vernachlässigten Schulen verlagert sich das schon wieder zurück, zuerst Schlägereien, dann Fiesheiten, dann Schlägereien und Fiesheiten und jetzt wieder vermehrt Schlägereien. Ich setzte viel Energie und auch ein wenig Hoffnung in die politische Basisarbeit und in die grenzübergreifende Kommunikation in kleiner Form – wie Blogs 🙂

  8. Ich habe nicht gesagt, dass ich den Begriff „elterliche Sorge“ schlecht fände, sondern ich habe es nur im entsprechenden Kontext ironisiert. Ich finde den Begriff elterliche Sorge auch besser. Um es vielleicht noch deutlicher zu machen: Ich meine, man erfindet immer wieder neue Dinge, die zwar vielleicht etwas besser passen, aber sie verdecken dann oft eben auch Tatsachen, Tabus, über die man gerne hinwegsehen würde. Häusliche Gewalt ist da gerade ein schönes Beispiel. Jahrelang tabuisiert, wurde das Thema endlich zu einem öffentlichen Thema – selbst in der Politik. Die Folge davon ist, dass man heute diesbezüglich viel wachsamer geworden ist.
    Du siehst: Nicht das Wort an sich ist gefährlich, sondern der Umgang mit ihm. Durch solche Änderungen können gewisse Tatsachen in den Hintergrund gedrückt werden, weil man sie nicht gerne sehen will. Natürlich werfe ich jetzt in diesem konkretem Fall vor, das mit Absicht gemacht zu haben, aber genau dieser Punkt zeigt auch, dass auch Unabsichtlichkeiten zu solchen unerwünschten Effekten führen können.
    Weil Du Dich in solcher Form engagierst, hast Du auch meinen Respekt 🙂

  9. Danke, kblog. Frag mal das Kind, das findet bisweilen, es hätte die schlechtesten Schuhe… Basisarbeit nimmt einem durch die Sitzereien und Mailinglisten und Wikis ja immer auch Familienzeit. Ich möchte mich oft teilen können, nicht nur beim Lesen. Wahrscheinlich komme ich sowieso langsam ins Alter für Zen 😉

  10. Ups… habe gerade gemerkt, dass mir oben ein Fehler eingeschlichen ist. Es sollte natürlich heissen:
    “ Natürlich werfe ich jetzt in diesem konkretem Fall **nicht** vor, das mit Absicht gemacht zu haben, aber genau dieser Punkt zeigt auch, dass auch Unabsichtlichkeiten zu solchen unerwünschten Effekten führen können.“
    kleines, aber wichtiges Wort 😉
    Ja, ich glaube auch, ich sollte mich teilen können *g*. 🙂

  11. Der Vorgang ist offenbar immer der gleiche – egal ob Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus, Gewalt an Schulen, Kindesmißhandlung oder sonstige Verrohungssymptome: Es gelingt dieser Gesellschaft und ihrem Politiksystem nicht, den erforderlichen gesellschaftlichen Umbau wenigstens auf den Weg zu bringen, der verhindern könnte, daß immer weitere Bereiche der Gesellschaft verwahrlosen. Die Schuld bei den 68ern oder sonstwelchen historischen Erscheinungen zu suchen, ist naiv. Es ist ein Struktur-Problem, das in allen Ländern unseres Globus unter dem einzigen ökonomischen System, das wir haben, stattfindet und an dessen Symptomen mal klüger, mal weniger erfolgreich herumgebastelt wird. („Sudelede“ Karl Eduard v. Schnitzler hätte im vorigen Jahrhundert – wieder mal zurecht – gesagt: „Gewöhnlicher Kapitalismus“).

  12. Lisa Rosa, wenn du diese Haltung vertrittst, vermute ich, dass du auch zu denen gehörst, die sich „Anspruchs-Mentalität“ vorwerfen und „Selbstverantwortung“ empfehlen lassen müssen. Willkommen im Club.

  13. Ah! Wie schön, daß wir zwei in einen Club passen, ich fühle mich geehrt. 🙂 Die Demokratiepädagogen verstehen jedenfalls unter „Selbstverantwortung“ auch immer die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Intervention. Und mir sagt man außerdem, weil ich nicht zu denen gehöre, die ihre Zukunftsvisionen aufgeben wollen – „Wer Visionen hat, soll zum Augenarzt gehen“. Dabei arbeiten alle erfolgreichen Organisationsentwickler mit dem Instrument des „Envisioning“, da müssen es Gesellschaftsentwickler wohl auch tun! 😉

  14. Oh! Die mit Visionen werden bei uns – noch krasser – in den kalten Entzug geschickt. Das Wort ist wohl eine Weile etwas oft verwendet worden, auch für „Idee“ und „Innovation“. Aber „Demokratiepädagogik“ war dafür nigelnagelneu für mich. Habe ich aber schon in meinen Wortschatz eingebaut und kann es – dank deinem Weblog – sogar erklären.

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