Veraltete Lehrmittel

18. Januar 2004, Elterngespräch:
Ich spreche die Klassenlehrerin auf die Lehrbücher an. Ich flehe um ein Deutschlehrmittel mit neuer Rechtschreibung, ich bettle um Naturkunde aus einer Zeit, als die Stadt schon erfunden war. Die Lehrerin lächelt milde und meint, sie hätte halt kein Geld, es ginge nicht alles so schnell und mein Kind hätte ja weiss Gott kein Buchproblem. Ja, das ist es ja! Das darf doch nicht sein! PISA! Die Dienstleistungsgesellschaft, die einfach keine halbe Million albanische Chauffeure wird beschäftigen können. Unsere Altersvorsorge! Ich beschwöre die Notwendigkeit einer einheitlichen Rechtschreibung für die 90% Kinder anderer Mutterspache, zitiere die Erkenntisse der vereinigten Logopädinnen und Logopäden, die bezeugen, dass Kinder eigene Bücher brauchen, ich biete Hilfe, Spenden, Fundraising, was in meiner Macht steht. Sie lächelt noch milder und drückt zum Abschied mitleidig meine Hand. Das Kind lernt weiter über die Höhlenmenschen im Buch von 1963, neu aufgelegt sechs Jahre vor Mamas Geburt.
5. Dezember 2004, Gespräch mit einer Finanzverantwortlichen:
Jede Schule bekommt einen fixen Betrag für Schulbücher für jedes Kind, ein Mathematikbuch, ein Lesebuch, ein Wörterbuch – alles post Rechtschreibereform, wenn auch die Sprachbücher noch verbessert werden könnten.
1. März 2005, Brief an Schulkommission und Schulinspektor:
Wir zeigen in zehn Punkten auf, dass und wie unsere Quartierschule die gesetzlichen Vorgaben missachtet. Punkt acht ist:

Die Schule XY ist auch in anderen Bereichen davon entfernt, ihren Auftrag zu erfüllen: Die Kinder in der Klasse besitzen kein eigenes Lesebuch, Diktate werden nach alten Rechtschreiberegeln gelernt. Die Lehrmittel sind – abgesehen vom ausgezeichneten Mathematikbuch – nicht nur orthografisch veraltet, sondern auch inhaltlich überholt.

8. August 2005:
Das Kind kommt auf eine Privatschule. Hello Liberty, Goodbye Equality.
6. März 2006 in „Der Bund“:

Behörden schreiben den Lehrkräften Lehrziele vor, die auf neuen pädagogischen Erkenntnissen basieren. Aber sie stellen ihnen keine entsprechenden Lehrmittel zur Verfügung. […] Auf 2008 wollen der Berner Schulverlag und der Lehrmittelverlag des Kantons Zürich gemeinsam ein neues Deutsch-Lehrmittel für die Mittelstufe anbieten. Für die Praxis ist damit aber noch wenig gewonnen. Es gibt andere hervorragende neue Lehrmittel, die Berner Schüler jahrelang nicht zu sehen bekommen, weil der Kanton es nicht wagt, sie verbindlich zu erklären, und die alten Schulbücher die Gemeinden weniger kosten.

Ich bin einfach nur müde. Und prinzipiell gegen Bücherverbrennung. Und als Lehrerin ein Vorbild. (Sonst käme ich noch auf die Idee Autositze anzuzünden, sie durch klirrende Scheiben in Schulzimmer zu schmeissen, all die zögerlichen Entscheidungsträger anzusengen und den ganzen antiquarischen Bestand an Deutschlehrmitteln für immer zu vernichten.)

10 Gedanken zu „Veraltete Lehrmittel“

  1. Oh je – oh ja. Meine Frau ist in der Schulpflege, ich werde ihr diesen Text mal weiterleiten. Sie erzählte mir, dass in einer Klasse, die sie besuchte, im Geschichtsuntericht die Römer/Griechen etc. gestrichen worden sind – aus Geldmangel. Der Lehrer muss mehr Stoff in weniger Lektionen verabreichen, da können die ollen Römer schon mal über die Klinge springen.
    Der Lehrer hält sich (verdankenswerterweise) nicht dran und lehrt auf eigene Faust die Klassiker. Aber andere werden das wohl nicht machen…
    Welche von unseren Politikern sparen eigentlich so heftig an der Bildung? Die sollte man eigentlich geschlossen abwählen

  2. An unserer Schule ist man sich zum Beispiel auch nicht einig, was man in Urgeschichte lehrt. Die eine Tochter hatte in der vierten Klasse zur Entstehung der Welt biblische Geschichten, Adam und Eva, Arche Noah und so weiter. Zwei Jahre später hatte die andere Tochter im Schulzimmer nebendran Urknall, Evolution und die Abstammung des Menschen vom Affen. Für unsere Gespräche am Tisch zu Hause ist das ziemlich interessant. Ein Lehrmittel dazu habe ich nie gesehen.

  3. Ojeoje! Das klingt ja wirklich furchtbar! Ein Geschichtsbuch von 1963! Es ist nicht zu glauben. So grauslich ist es hier meiner Erfahrung nach nicht. Hier wird viel mit fotokopierten Materialien – auch schon aus dem Internet – gearbeitet, die meist neueren Datums sind (davon sind sie auch noch nicht unbedingt gut, aber immerhin.) Aber etwas anderes: In Hamburg hat man – trotz oder wegen des schlechten Abschneidens in PISA – die Lehrmittelfreiheit abgeschafft. Ich mußte jetzt für meine beiden Söhne 180 Euro Büchergeld für das Schuljahr berappen. Wohlgemerkt nicht, damit die Jungs die Bücher dann besitzen – nahaaaaain! Sie kriegen dafür alte Bücher aus der Schulbücherei geliehen, die ich meines Wissens nach schon vor zehn Jahren mit meinen Steuern anschaffen geholfen habe …

  4. Nun ja, hier ist es etwas anders:
    die Geldmittel sind knappstens, die Bildungspläne werden jedoch verändert, neue Fächer kommen hinzu, die Rechtschreibung wird – wie häufig denn eigentlich noch – mal wieder reformiert, die Verlage werfen neuen Bücher auf den Markt, die den neuen Bildungsplänen entsprechen.
    Aber wir haben für manche Lehrbücher ja jetzt schon kein Geld.
    Das alles ist sehr problematisch.
    Und es hat ja gar keinen Sinn, den Städten und Gemeinden auf die Pelle zu rücken – die sind auch klamm.
    Und die Landesregierungen ebenso , die kürzen ja bei den Zuweisungen an die Schulen.
    Offen gestanden – mich macht diese Situation auch ratlos.
    Und Kopien – da werden die Kosten nur in einen anderen öffentlichen Etat verschoben.

  5. @JCF: Es sind eben nicht nur die Politiker, sondern manchmal sind es einfach auch die Schulen, die das Geld nicht dort investieren, wo es vorgesehen wäre, genau wie in unserem Fall. Ich glaube, dass Qualitätssicherungssysteme das Einzige sind, um überhaupt herauszufinden, wo es klemmt.
    @Silvia: Ja, bei der Urgeschichte bin ich auch nie drausgekommen, bei uns hat die Theorie innerhalb der Klasse und innerhalb des gleichen Tages gewechselt. Am morgen Urknall und am Nachmittag Adam und Eva. Dies owohl ich – wie das bei uns möglich war – ganz klar angekreuzt hatte, dass das Kind keinen Religionsunterricht bekommen soll (d.h. altes und neues Testament).
    @Lisa Rosa: Uii, das ist auch eine interessante Variation des Themas. Bücher berappen, die den Kindern dann doch nicht gehören.
    @Stolle: Du hast absolut Recht, es bleibt fast nur die Ratlosigkeit. Nur dass die ganze Wie-machen-es-die-Finnen-Weiterbildung (wird bei uns angeboten) zeigt, dass Lehrmittel das A und O sind.
    Ich kann manchmal nicht umhin, über die sinkenden Budgets, die uns so vorgesetzt werden, hinauszudenken und mir die Frage zu stellen, wie Nationen, die offenbar konkurrenzfähige und gewinnträchtige Banken hervorbringen und halten, es nicht schaffen sollten, jedem Kind ein aktuelles Lehrmittel in die Hand zu drücken. Bei Jugendlichen geht es dann wieder besser mit Kopien und Ordnern, wobei du natürlich auch Recht hast bei der Kostenverlagerung. Aber Kinder? Kinder brauchen Bücher mit Inhalten aus ihrer Lebenswelt, wenn sie lernen sollen. Unser positives Beispiel ist unser Mathematiklehrbuch („Zahlenbuch“) – ein wunderbares Lehrmittel, von einem wunderbaren Lehrerteam gemacht und betreut und evaluiert und neu aufgelegt. Mathematik vom Kind aus, schön gestaltet, mit europäischem Anspruch, sobald Französisch dazu kommt (in der 5. Klasse) ein paar Zahlen in Französisch, Differenzierung nach Begabung problemlos möglich.
    Und wie schneidet die Schweiz in Mathe ab bei PISA? Viel besser. Eben, es ginge.

  6. deinen frust verstehe und teile ich voll & ganz, glaube aber, dass genau deine reaktion daran nichts ändert, im gegenteil. hand aufs herz, tanja, was bringt dein heroisches das kind auf die privatschule schicken a) deinem kind, b) den nun noch höher dosierten albanern in seiner angestammten klasse?

  7. lizamazo: Ja, du hast natürlich absolut Recht – mit den Informationen, die du hier entnehmen kannst. Der Schulwechsel ist eine viel längere Geschichte, das hier ist nur rudimentär erzählt und auf Lehrmittel bezogen. Die Albaner waren nicht der Grund, eigentlich überhaupt nicht die Kinder. Wenn du interessiert bist, schick ich dir gerne Infos.
    Falls du schon länger hier mitliest, weisst du, dass ich in Sachen Integration eine alte Häsin bin und in dem Bereich unendlich viele Fraustunden Freiwilligenarbeit auf dem Buckel habe und weiter anhäufe.
    Ich habe grade deshalb (und das bedaure ich zutiefst) nicht über-, sondern unterreagiert und den Schulwechsel nicht zu früh, sondern beinahe zu spät vorgenommen. Die neue Schule ist eine Wohltat, ich gäbe dafür mein letztes Hemd. Witzigerweise hat es in der Klasse vom Kind noch drei weitere Kinder aus diesem oder ähnlichen Quartieren (kroatisch, indisch, lateinamerikanisch) und diese Eltern geben im Wortsinne ihr letztes Hemd.
    Man muss nicht reich und Schweizer sein, um die Volksschule zu fliehen.
    Aber vielen Dank für den Einwand, es ist wichtig, solche Dinge zu klären.
    Mit Grüssen, Tanja

  8. liebe tanja
    ich-weiss-ich-weiss 😉 aber wer eben keine zeit hat, in dir den gutmenschen zu suchen, kann also schon auf dumme gedanken kommen. ich wohne in einem quartier, wo das neue deutschbuch benutzt wird, aber hier gibts eben auch eltern, die ihr kind abzügeln, weil sie denken, die anderssprachigen brauchen alle lehrerliche aufmerksamkeit auf.

  9. Ja, lizamazo, ich habe auch schon von solchen Eltern gehört, aber sie begegnen mir im realen Leben nicht. Die vielen, die ich kenne, die in eine Privatschule gewechselt haben, zum Teil unter erheblichen Einschränkungen ihres Wohlstandes (wie auch wir), hatten andere Gründe als den Ausländeranteil.
    Ich kenne allerdings auch sehr viele Eltern, die sich über den hohen Ausländeranteil beschweren, auch solche, die deswegen umziehen. Allerdings sind das in meiner Umgebung hauptsächlich ausländische Eltern.
    Ich wälze das noch etwas, vielleicht gibt’s mal genug her für einen eigenen Eintrag.

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