Von kleinen Fällen

Prolog:
In jedem meiner ellenlangen Rudolf-Steiner-Schulzeugnisse wurden mir Zielorientiertheit und kulturelle Kompetenz attestiert. Das sind ehrenvolle Eigenschaften, von denen ich hoffe, sie wenigstens in Teilen über die Jahre gerettet zu haben.
Meine Eltern kamen vom Land in die Stadt, meine Mutter war gelernte Heimerzieherin, mein Vater hatte ein abgebrochene Lehre als Chemielaborant. Wir wohnten in einem Quartier, in dem Chancengleichheit (bis heute übrigens) nichts war als eine gähnend leere Worthülse. Sich selber und seine Umwelt neu zu definieren war in meinem Umfeld der Antrieb. Er trug bisweilen sonderbare Blüten, aber er bildete den Charakter offensichtlich in Richtung Strebsamkeit.
In der Folge grenzte ich mich als Jugendliche ab, indem ich alles super-pragmantisch anging. In diese Zeit fiel auch mein Entschluss, Fallstudien über soziale Ungerechtigkeiten anzulegen.
Deshalb verfüge ich wohl über das ungeordnetste umfassendste Archiv zum Thema Chancen(un)gleichheit im Bildungswesen des Kantons Bern. Heute habe ich das – aus einem Anlass, welchen hier zu erklären zu weit führen würde – wieder durchkämmt. Mit Augenmerk auf Schlüsselszenen im Leben bildungswilliger Jugendlicher.
Ich habe vier Fälle gefunden.

Fall 1: 1985. Ein bulgarisches Elternpaar fragte mich im Lift, ob ich ihrer Tochter Nachhilfe geben würde, damit sie die Sekundarschulprüfung bestünde. Sie boten mir 15.—Fr. Stundenlohn und – obwohl ich mir das als Steinerschülerin überhaupt nicht zutraute – nahm ich das Angebot an. Ich merkte rasch, dass die Viertklässlerin ihre Sache gut machte und fragte nach, warum sie denn bei diesen Leistungen nicht prüfungsfrei übertreten könne? Die Lehrerin wiederholte, was sie bereits den Eltern gesagt hatte: Das Mädchen sei einfach langfristig nicht für einen höhere Schulstufe gemacht, sie werde keine Empfehlung dafür abgeben. So büffelten wir also für diese dumme Sekprüfung. Das Mädchen bestand sie knapp und wurde mit Vorbehalt aufgenommen. Danach machte sie ihren Weg problemlos bis ins Gymnasium. Als ihr Vater jung starb, begann sie wild entschlossen in Zürich-Kloten als Groundhostess zu jobben, weil sie einmal ein schönes Bild von einer solchen in blauer Uniform gesehen hatte. Als ich sie vor drei Jahren traf, war sie mit ihrem Studium (Sprachen, weiss nicht mehr welche) längst fertig und überlegte gerade noch ein Nachdiplomstudium in Psychologie zu machen.
Fall 2: 1989. Meine Schwester kam mit lauter Sechsen (hier die beste Note) prüfungsfrei in die Sekundarschule nahe unseres Quartiers. Kaum dort, brachen ihre Leistungen ein. Meine Mutter und ich fragten den neuen Lehrer, wie er sich das erklären könne? Der meinte, wir sollten der Tatsachen ins Auge sehen, „hier wehe eben ein anderer Wind“ und „aus ihr wird nie auch nur ein Fünfer-Kind.“ Etliche Gespräche und Bettelbriefe um Schulgelderlass später wechselte sie in eine Privatschule und wurde locker ein Fünfer-Kind. Heute ist sie Heilpädagogin und hat unter anderem schon in einer Kleinklasse ihres ehemaligen Schulkreises mit dem „anderen Wind“ gearbeitet.

Fall 3:
1991. Eine gleichaltrige Kollegin, die leistungsmässig überaus erfolgreich das Gymnasium absolvierte, suchte die städtische Berufsberatung auf, weil sie sich das Studium nicht zutraute. Nach diesem Beratungsgespräch trafen wir uns bei einer gemeinsamen Freundin. Mit Entsetzen stellten wir fest, dass die Kollegin sich während des Beratungsgesprächs entschlossen hatte, das Gymnasium abzubrechen, um irgendwo zu jobben. Ihre Eltern hatten ein Alkoholproblem und sie war ihnen und ihrem Bruder weitaus überlegen. Sie hatte es bis zu dem Zeitpunkt auf Lehrpersonen getroffen, die sie darin unterstützten, dem Umfeld zu entkommen. Was war geschehen? Der Berufsberater hatte ihr erläutert, ihr Problem (die Angst vor dem Studium) käme daher, dass sie sich übernommen habe. Nicht mit dem Schulstoff, sondern mit dem Ausbruch aus ihrer gesellschaftlichen Schicht. Er visualisierte diese Tatsache am Beispiel eines Gummibandes. Wenn die Kollegin innerhalb des Gummibandes bei ihrer Familie bliebe, sei es ganz locker. Sobald sie sich da rauszuziehen versuche, werde das Band angespannt und ihre Kraft überstrapaziert. Das illustriere, dass die Veränderung erst langsam über mehrere Generationen gelingen könne und sie brauche sich kein schlechtes Gewissen zu machen, wenn sie jetzt nicht studiere. Mir stellen sich noch heute die Nackenhaare auf, wenn ich mich an dieses Gespräch erinnere. Mit vereinten Kräften und der erfolgreichen Suche nach einem WG-Zimmer hat es ihr Bekanntenkreis geschafft, sie zum Studium zu überzeugen. Die Frau ist heute Biologin, arbeitet im Volkswirtschaftsdepartement und hat sich vor einem Monat mit einem Akademiker (in der wievielten Generation ist mir nicht bekannt) vermählt.
Es gab danach in meinem Archiv eine lange Zeit mit anderen Problemen. Aber die Killerphrasen zum Thema „bleib wo du bist“ versiegten nicht gänzlich. Der vierte Fall ist der, bei dem ich bis heute auf das Happy-End warte.
Fall 4: 2003. Eine Portugiesin und ein Kroate fragten mich, ob ich ihre Tochter auf die Prüfung für den Übertritt ins Gymnasium vorbereiten würde. Ich lehnte ab, weil ich das damals weder zeitlich noch inhaltlich konnte. Ich fragte aber doch noch nach, weshalb sie die Prüfung überhaupt machen müsse, denn inzwischen kamen – dank „Chancengleichheits-Artikel“! – fast alle Jugendlichen mit entsprechendem Verhalten und guten Leistungen auf Empfehlung der Lehrperson prüfungsfrei ins Gymnasium. Leider war die Jugendliche nicht empfohlen worden. Ich ging der Sache nach und konnte im Zeugnis keinen Grund dafür erkennen, auch das Sozialverhalten schien immer tadellos gewesen zu sein. Die Mutter rief den Lehrer noch einmal an und stellte ihm die Fragen, die ich mit ihr vorbereitet hatte. Seine entschiedene Antwort auf jede Frage war: „Sie schafft das Gymnasium nicht, ich spüre das einfach.“ Die Jugendliche entschloss sich, die Aufnahmeprüfung zu machen und schaffte das – dank einer anderen Nachhilfelehrerin – auch. Das erste Jahr war hart, die Eltern sprachen nicht gut Deutsch, hatten noch andere Kinder und arbeiteten viel. Das zweite Jahr wurde noch härter, denn der Klassenlehrer im Gymnasium erinnerte die Jugendliche daran, dass sie ja eben nicht empfohlen worden war. Schliesslich gab sie auf.
Sie macht jetzt eine Wirtschaftsmittelschule. Noch ein Jahr hat sie vor sich und langweilt sich ziemlich. Wenn ich sie treffe, zuckt sie mit den Schultern und meint, ihre Lehrer hätten schon Recht gehabt.
Epilog:
Bern und viele andere Kantone haben es sich bis jetzt erlaubt, höhere Bildung von verdammt dünnen Seidenfäden abhängig zu machen. Auch wenn wir hier die Wende nicht schaffen, können wir trotzdem einen wunderbaren, von Novartis und Nestlé und UBS und Swatch gesponserten Forschungsstandort Schweiz haben. Nur halt ohne inländisches Personal.
Immerhin weiss ich jetzt wieder, weshalb ich und viele andere Berufsfachleute uns ehrenamtliche Nächte mit dem Formulieren angemessener Leistungsziele um die Ohren schlagen. Weil nämlich der Zugang zur höheren Bildung für die meisten über die Berufsbildung führt. Dank Reform ist das heute möglich. Wenn wir sie wirklich umsetzen. En gros et en détail.

9 Gedanken zu „Von kleinen Fällen“

  1. Ein wunderbarer Beitrag (wie viele andere in diesem Blog). Es ist schon ziemlich ernüchternd festzustellen, wie oft sich sehr talentierte Menschen von für sie im Grunde geeignete Berufslaufbahnen zurückziehen, nur weil ihnen aus der Umgebung unterschwellig oder offen ausgesprochen signalisiert wird, dass man ihnen das nicht zutraut. Auch meine Beobachtungen zeigen, dass sich vor allem begabte Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund im entscheidenden Moment nicht mehr trauen, den Weg bis zum Schluss gehen. Und ich hasse es, dies zu schreiben, aber ich fürchte, dass viele Frauen auch heute noch verstärkt von diesem Phänomen betroffen sind. Manche spüren wohl unbewusst, dass man ihnen die angstrebten Ziele nicht zutraut, gehen den weniger prestigeträchtigen Weg freiwillig oder entwickeln eine Strebsamkeit, die dann wiederum genüsslich als Verbissenheit gedeutet wird. Und für manche endet auch da der Weg unter dem Motto „Die ist einfach nicht locker genug.“
    (Spürt man meine eigene Ernüchterung und Verbissenheit in dieser Angelegenheit? 😉
    Es ist schön, dass sich einige Menschen nicht davon abhalten lassen, gegen solche Missstände etwas zu unternehmen. Auch das sind überwiegend Frauen.
    Trotzdem: weiter so mit den Fallstudien und dem Archiv, wie (un)ordentlich das auch sein mag.!

  2. Ja, man merkt die Ernüchterung und du hast absolut Recht.
    Doch ich denke, Ernüchterung ist nicht nur Unglück, sondern eine Form von „Abgrenzung“ – auch wenn ich dieses Wort nicht besonders gerne einsetze. Ich bin nun 36 Jahre alt und seit gut zwanzig Jahren unterschiedlich stark in die Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund oder aus bildungsungewohnten Schichten involviert. Ich glaube, wenn ich heute noch so involviert wäre wie am Anfang, wäre ich in der Klapsmühle. Wenn ich am Anfang hingegen so ernüchtert gewesen wäre wie heute, hätte ich gar nicht erst angefangen.
    Danke vielmal für das Kompliment, es hat mich sehr gefreut. Annerkennung ist wohl die wichtigste Motivation für ehernamtliche Arbeit.

  3. mir fallen auch sponti solche fälle ein… das bild mit dem gummiband ist besonders niederträchtig, weil viel wahres daran ist, aber die arme person anstatt bestärkt zu fatalismus angehalten wird. feige, desillusioniert, stumpf und faul, die akbb anno 1991!

  4. Vielen Dank für die Fallberichte und das Engagement. Selbst bin ich zwar ein wandelndes Gegenbeispiel (vielleicht hat mir bloß die soziale Kompetenz gefehlt, Resentiments wahrzunehmen), aber kürzlich erschütterte mich ein Gespräch mit einer Soziologie-Studentin: Sie sei inzwischen überzeugt, dass die Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Klassen eng zusammenhänge mit angeborenen Fähigkeiten, eben mit den Genen. Weswegen man jemandem aus einer sehr niedrigen sozialen Schicht besser keine Flausen in den Kopf setze und ihm dadurch nur falsche Hoffnungen mache.
    Ich hoffe, dass das nicht etwa die dominante Strömung in der universitären Soziologie ist.

  5. Ich weiss, dass dein Vater eine Lehre als Chemielaborant und eine solche als Psychiatriepfleger abgeschlossen hat. Allerdings hat er sein Chemiestudium abgebrochen, um sich dem Bergsteigen zu widmen 😉
    Zu Fall 1: Die junge Frau hat ihr Psychologiestudium mit der Bestnote aus dieser Promotion beendet und dafür, sehr zum Stolz ihrer Mutter, einen Sonderpreis erhalten!

  6. Ima, exgüse, jetzt fällt es mir ein, er hat das Tech abgebrochen. Jedenfalls hat die Grossmutter deswegen oft gejammert und mir sporadisch die Schuld dafür gegeben. Du klingst da weniger dramatisch.
    Frau kaltmamsell, jawohl, Sie sind ein wandelndes Gegenbeispiel. Wie die meisten Gegenbeispiele (z.B. Frau-alles-wird-gut und Herr-Amore.s), sind Sie ein Mensch der Sprache(n) und das ist eine entscheidende Sprungfeder; gerade für Kinder und Jugendliche, aber das ist ja bekannt. Trotzdem fehlt sie vielen, weil es neben der Anlage noch am erwähnten Faden (Förderung durch die Eltern und „Zufalls-„Begegnungen mit fördernden Lehrern) hängt.
    Von der erwähnten „Strömung“ habe ich bedauerlicherweise auch schon gehört und gelesen. Noch scheint es eine schleichende Angelgenheit – wie Kreationismus. Furchtbar.
    Vero, hear or read U!
    lizamazo, „niederträchtig“ ist genau das passende Wort.
    ***
    Ich habe auch noch ein gutes Beispiel. Da es sich um eine subversive Sache handelt, darf ich leider keine Details nennen.
    Eine für eine bestimmte höhere Schulstufe einflussreiche Person vergibt jedes Jahr klammheimlich zwei Joker. An ein Mädchen und an einen Jugen, die eine gute Arbeitshaltung haben, denen es aber für die Aufnahme nicht reichen würde. Die Person macht das seit sieben Jahren. Bilanz? Alle Joker – ausnahmslos – haben ihren Abschluss geschafft. Leistungsmässig im unteren Mittelfeld. Weil sie gar nie erfahren haben, dass sie es eigentlich nicht geschafft hätten.

  7. mh, ja, worte finden, glaubte ich bis vor kurzem, wäre in etwa mein ding. erfahre nun nach und nach, dass meine stimmprobleme, die einsetzten, als ich vom bauernhof aufs gymnasium wechselte, von einer psychosozialen überlastung /-forderung herrühren. nach der lektüre meines stimmgutachtens wird mir himmelangst. der berufsberater und die soziologiestudentin haben mindestens einen dritten im bunde…

  8. Ach, du auch? Ebenfalls ein Sprachmensch 🙂 Es stimmt, bei vielen, die das Gummiband überspannen, ziegen sich psychische Probleme durch die Belastung. Nur leider ist es so, dass sich Unterforderung und Anpassung an ein „tieferes“ Niveau ebenso äussern. Ein Entrinnen gibt es nicht. Deshalb wäre es angebrachter, zu fördern und aufgrund der Ressourcen, die bei intelligenten Menschen ja erwiesenermassen vorhanden sind, Entlastungsmöglichkeiten aufzuzeigen, anstatt bescheuerte Sprüche zu klopfen und entmutigende Diagnosen zu stellen.

Schreibe einen Kommentar zu lizamazo Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.