Grossmama packt aus

Irene Dische, Grossmama packt aus
Dische, Irene
Grossmama packt aus
Hoffmann und Campe 2005
Originaltitel: Pious Secrets

Doch, ich bin mit Korrigieren im Hintertreffen und mit der Wäsche auch, danke der Nachfrage. Die Hauptschuld trifft ein Buch oder noch besser, seine Autorin. Denn Irene Disches „Grossmama packt aus“ hat mich am 15. Dezember kalt erwischt und hat nicht nur meine Zeit gestohlen, sondern sich selbst auch gleich in die Liste meiner diesjährigen Favoriten.
Eigentlich ist Lob für das Buch und die Autorin entbehrlich, selbst vor Matthias Matussek haben die beiden bestanden. Aber ein paar Ausschweifchen kann die Buchhändlerin sich nicht verkneifen.
Irene Dische wurde von Hans Magnus Enzensberger für den deutschsprachigen Raum entdeckt. „Fromme Lügen“ schaffte es dank der „Anderen Bibliothek“ zum Geheimtipp zu werden, verkaufte sich über lange Zeit erfreulich und machte Dische hier zum Begriff. So ehrenvoll gestartet, hat sie sich weiter eine treue Leserschaft erschrieben und zusammen mit ihrem Entdecker und Michael Sowa eines der schönsten Kinderbücher gemacht. Seit dem Roman, den ich vor zehn Minuten beendet habe, weiss ich auch, dass „Esterhazy“ ziemlich viel mit Disches Familie gemein hat. Es gelingt dem kleinen, von Pralinen und Intelligenz degenerierten Hasen eine grosse, Möhren fressende Häsin im Niemandsland der Berliner Mauer zu angeln und – durch einen mutigen Schritt Richtung Mischehe – seine Erbanlagen aufzupolieren. Och, ich bin ja in der falschen Buchbesprechung. Entschuldigung.
Die begnadete Erzählerin hier ist Irene Disches Grossmutter mütterlicherseits. Die aufrechte Katholikin hatte vor dem zweiten Weltkrieg und zum Missfallen ihrer Familie einen konvertierten ehemals jüdischen Chirurgen geheiratet, Irenes Grossvater. Zusammen hatten sie ein einziges Kind, Disches Mutter Renate. Den dreien gelang gestaffelt und knapp rechtzeitig die Flucht nach Amerika, während der jüdische Teil der Familie mit Ausnahme eines missratenen Bruders in Australien, gänzlich ausgelöscht wurde. Die Eltern blieben auch in Amerika gradlinige Katholiken, ja sie flohen vor den Juden New Yorks sobald wie möglich in die Peripherie. Dies mit dem Ergebnis, dass Renate im Laufe ihres Lebens drei jüdische Männer ehelichte, wovon der erste und für die Eltern Verabscheuenswürdigste, der Vater ihrer beiden Kinder wurde. Die Grosseltern liebten Irene und ihren Bruder Carlchen, aber der Dische-Anteil wurmte die Grossmutter bis zum Urenkel und über ihren eigenen Tod hinaus.
Das ist der Handlungsfaden. Er führt durch das Eheleben, dessen Mischcharakter tunlichst verschwiegen wird, durch die ersten Kriegsjahre, durch die Emigration, durch Geschlechterkampf, den Aufstand des Nachwuchses zweier Generationen, durch einen absolut verdrängten Holocaust, der erst in den Todesstunden wieder sichtbar wird.
Das Herausragende ist die Erzählperspektive, die Schwermut wird konsequent weggelassen, aber nicht etwa auf Kosten der Emotionen, mit denen sich die Autorin spielend meine höchste Konzentration holte. Dieses Buch ist ein weiterer Beweis für meine These, dass in der zeitgenössischen Literatur Frauen die Tragikomödie dominieren, in sämtlichen Gattungen.

8 Gedanken zu „Grossmama packt aus“

  1. Das hatten wir in unserem Zirkel auch auf der Liste, aber aus irgendeinem Grund wurde es von McEwans Saturday verdrängt. Nach deinem überschwänglichen Lob werde ich Dische aber nochmals aufs Tapet bringen.

  2. Da freue ich mich ja mal auf die Lektüre – die Kritik schieb ich dann später nach. Jetzt muss ich nur noch Zeit zum Lesen finden; sollte vielleicht etwas weniger im Internet herumsurfen und fremde blogs lesen…

  3. Deine Besprechung ist witzig und frisch und hat mir Lust auf „Großmama packt aus“ gemacht. Das ist das Beste an Weihnachten und dem, was manche „zwischen den Jahren“ nennen: Ich darf mal was lesen, was nichts mit der Arbeit zu tun hat. Da kommt mir Deine verführerische Rezension gerade richtig …

  4. Hallo Dische Fans!
    „Pious Secrets“ ist nicht die „Großmama“.
    Die erscheint erst diesen Sommer bei Farrar&Strauss in NY unter dem Titel „The empress of Weehawken“.
    Plane gerade meinen nächtsten Literaturzirkel, hab mich deshalb ziemlich reingewurstelt in die Materie.

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