On

Nach Ferien und Klausur ein Rückblick auf Lektüre und deren Abweichungen vom Vorgesehenen.
Ben Jelloun: Papa, woher kommt der Hass? Aus dem Bedürfnis fundierter zu werden, hab ich den schmalen Band quergelesen; auch so ein Paradoxon aus meinem Beruf. Dieser Dialog zwischen Vater und Tochter bietet mehr als eine Zusammenfassung der Weltreligionen mit Fokus Islam. Aufschlussreich. (Aber die aktuelle Berichterstattung in der französischen Presse – schon de Gaulle wollte dem „Orient compliqué“ mit „idées simples“ beikommen – liess mich dieses Buch vernachlässigen. Und vielleicht auch die schlechte Illustration.)
Bichsel, Peter: Die Jahreszeiten Das Buch ist in den fünfzig anderen der Mitreisenden untergegangen. Schicksal des dünnen Rowohlt Rotationsdrucks aus den Siebzigern. Die Lektüre hole ich nach, die erste Seite ist ausgezeichnet. Der Mann versteht es, Sätze zu zimmern. Deshalb ist er ja auch in den Lesebüchern drin. Mit dem anderen Mann, der dem Bett Bild sagt und dem Spiegel Stuhl oder war es Wecker?
Binding, Tim: Henry Seefahrer Keinen Anschluss gefunden. Aber eine andere Ferienmacherin hat mir netterweise den Inhalt erzählt. Die eher weit hergeholte Rahmenerzählung über ein verlorenes Kind umschliesst eine gute Binnenerzählung über Schiffe und den Falklandkrieg, der noch nicht oft in Romanen vorkommt. So schnell Kriege Einzug in ein Land halten, so lange dauert es dann in der Literatur.
Ehrenreich, Barbara: qualifiziert & arbeitslos Lustlosigkeit für das arme Sachbuch. Later.
Flynn, Nick: Bull Shit Nights Ein neues von zahlreichen Büchern über Elternleben vom Kinderleben aus betrachtet. Und doch nicht alltäglich. Ohne Tamtam um das Autoren-Ich schreibt Flynn seine Biografie als Roman. Mutter und Vater schwanken durch die Sechziger und Siebziger, die Mutter nimmt sich das Leben, der Vater wird zum Penner, der Sohn schrammt nur knapp an der Imitation seiner Erzeuger vorbei. Er trifft als Erwachsener den heruntergekommenen Vater im Obdachlosenheim, wo er als Betreuer arbeitet.
Zwei Dinge, die der Klappentext nicht im Mindesten erwarten lässt, bietet das Buch: Es erzählt über Sozialarbeit in den USA (Boston) inklusive Invalidenversicherungsanträge und Gefängnisalltag. Aber auch über die wechselseitigen Unsicherheiten und tief drinnen definierte Pflichten, wenn Eltern von Kindern Unterstützung brauchen. Sehr zu empfehlen und weitgehend unbekannt.
Gunn, Kirsty: Der Junge und das Meer Eher laue Geschichte. Von einem Jungen mit Neo-Hippie-Eltern auf einer Badeinsel wohnend. Eine Ablösungsgeschichte wie es viele gibt, aber vor dem originellen Hintergrund, dass der Vater, ein Super-Surfer, vom Sohn aus den Fluten gerettet werden muss. (Furchtbar hingegen die Personifikation des sprechenden Meeres.)
Khadra, Yasmina: Nacht über Algier Khadra (echter Name Mohammed Moulessehoul) hat es inzwischen auf dem Buchmarkt geschafft. Zu Recht. Ein absolut lesenswerter algerischer Autor, der zwischen Massentauglichkeit auf Aufklärung einen Schalter hat, den er genau richtig bedient. In diesem Fall nutzt er das schwedische Modell: Via Kommissar bringt er die Geschichte und Gegenwart Algeriens an den Leser. (Allerdings ist die Häufung der Verbrechen in Algier wesentlich weniger weit hergeholt als bei Mankell in Ystad.)
Krohn, Tim: Heimweh Hierzulande oft gelobt, hat mich dieses Glarners Erstling „Quatemberkinder“ nicht erreicht. Jetzt bin ich dankbar, ihn durch die drei Kurzgeschichten doch noch kennen gelernt zu haben. Der kann nicht einfach gut beschreiben, sondern Charaktere entwerfen; die Leserin mit nur wenig Anlaufzeit ausschicken, in eine bestimmte Stimmung zu kommen. Hier in drei Geschichten von mutterlosen Jungs, die eine Entscheidung zu treffen haben. Das Kind hat „Heimweh“ auch gelesen und sagt dazu: „Man merkt erst wenn man aufhört, dass man drin war und diese Menschen kennt und sie auch wirklich echt sind“.
Dada global: Ausstellung im Kunsthaus Zürich 1984 Zu guter Letzt doch wieder aus dem Koffer genommen. War mir zu schade, ist so ein schönes Buch mit so seltenen Bildern. Aber wann lesen?
Morand, Paul: Aufzeichnungen eines notorischen Schwimmers Ein Kleinod. Es gibt ja diverse Kulturgeschichten des Lebens am und mit dem Meer, aber diese ist wirklich etwas Besonderes. Morand (1888-1976) beschreibt am Ende seines Lebens kurz die Strände und Meere, die Schwimmstile und das grosse Blau in der Literatur. Ich fühlte mich bei der Lektüre
a) verstanden – weil ich ohne regelmässige Rückkehr ans Meer auch Mangelerscheinungen habe.
b) Unbelesen – weil dieser prä-googlische Mensch einfach alles auch noch so Unbekannte zitieren konnte.
c) Zugehörig – auch wenn er hundert Strände und Seegänge und Klippen mehr als ich gesehen hat, so scheint Schwimmern der Blick auf Eigenartiges gemein zu sein.
Das Buch hört auf, wo der Massentourismus anfängt. Deshalb wird Morand, der Diplomat, neben elaboriert gegen Ende auch noch elitär. Wunderbar.
Fortsetzung folgt. Sofern hier weiter Friede sei, die Kerne der Nachbarschaft am Schmilzen gehindert werden und ich mich nach der Lektüre des neuen Dudens überhaupt noch zu schreiben traue.

9 Gedanken zu „On“

  1. Na denn, willkommen zurück im Alltag. Schön, daß wir Dich wieder lesen dürfen. Ich benutze einen Duden aus der Vor – Rechtschreibreform – Ära, und das wird auch so bleiben, schon weil Duden und Wahrig unzählige Abweichungen aufweisen, ich aus Alters – und Sinngründen die Reform eh vollkommen verweigere, teilweise ja sogar gewisse vorherige Modernisierungen ignoriere und diese sprachlich – orthographischen Standards als zu meiner Person passend definiert habe. Und da ich nicht die Befürchtung haben muß, in 100 Jahren unlesbar und unverstanden zu sein – Internet ist denn doch ein allzu flüchtiges Medium – schreibe ich, wie mir mir die Klauen gewachsen sind. Ich bin vor allem auf den neuen Roman von Khadra gespannt : „Die Attentäterin“. Das läßt sich mit Sicherheit gut mit dem neuen Updike und dem Roman von Chris Cleave kombinieren (Lessings „Gute Terroristin“ dürfte auch ergänzend hineinpassen, ebenso ein Roman von Gur, den ich aber erstmal identifizieren müßte). Ich hoffe, Ihr hattet einen erholsamen Urlaub. LG rollblau

  2. 52 Minuten zu spät, aber das sei Dir verziehen (Schmunzeln).
    Dafür werde ich mir heute gleich mal die „Aufzeichnungen“ von Morand beschaffen und dafür „Sibirski Punk“ zur Seite legen. War lustig zu lesen, aber mehr ein schriftlich festgehaltener Selbsterfahrungstrip, denn Literatur.
    Jürg

  3. Auch von mir ein herzliches „Willkommen zurück!“ 🙂 Freut mich, daß Dir „Nacht über Algier“ zugesagt hat.
    Der Morand in Deiner Liste und was Du dazu geschrieben hast, hat auch gleich mein Interesse geweckt. Hab gleich mal ein bißchen recherchiert – leider hat keine der Bibliotheken in meiner Umgebung das Buch im Bestand. Also ist es erstmal auf meine Amazon-Merkliste gewandert – wo ich doch auch so meer-süchtig bin! 🙂
    Einen sanften Wiedereinstieg in den Alltag wünsche ich Dir!

  4. hilfe brauche ich nun auch einen neuen duden? hat im sommer eine lautverschiebung stattgefunden 🙂
    sixwieswell, da mein ruf schon ruiniert – leb ich weiter ungereimt.
    schönen guten wiedereinstieg und danke für die lektüreschubbse!

  5. Vielen Dank allerseits für die Willkommensgrüsse.
    Rollblau – vernetzt buchhändlerisch wie gewohnt! Ich selber habe ein wenig Angst vor der „Attentäterin“, weil ich nicht weiss, wie Khadra anders und besser über Terrorismus und seine Entstehung schreiben will als in: „Wovon die Wölfe träumen“.
    Jens-Christian: Aber gern! Ich bin September in ZH.
    Jürg, Angst essen Blogger auf. Deshalb setz ich mir hier weniger Druck auf als für den übrigen Alltag 😉 Morand könnte man schlimmstenfalls auch als Selbsterfahrungstrip verstehen, denn als er schwimmen lernte, war das noch absolut unüblich.
    Liisa, wenn du das nächste Mal an eine deutschsprachige Buchmesse fährst, sag es mir. Wenn „mare“ dort ist, erbettle ich dir ein Exemplar, das du weiterschenken kannst. Ein toller Verlag, mit dem ich auch schon gemeinsame Projekte in der Schule gemacht habe.
    lizamazo: Das fragst du eine Buchhändlerin! Mit Verlaub! Natürlich brauchst du einen fünf neue Duden! Ja, das Kind liest wirklich. Vielleicht ist es ein glückliches Zusammentreffen. Aber ich denke, es hat damit zu tun, dass ich mich nie eingemischt habe und es seit fünf Jahren sowieso selber einkauft (Monatsrechnung). Habe auf seinen Wunsch gerade Mickey annulliert und Bravo abonniert.
    Christian Schenkel, danke & gleichfalls!

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