Wenn ich etwas seit jeher kenne, dann weiss ich nicht mehr, warum es mir gefällt. Da wir aber hienieden den Dingen auf den Grund gehen sollten, versuche ich es ab und zu heruaszufinden. Wie bei Mascha Kaléko.
Ich verstand mich mit ihr schon als Kind ausgezeichnet. Ich begriff was sie meinte, wenn sie ihrem Sohn den Tod nicht erklären konnte und nach sechs Strophen folgerte:
Die Bücherweisheit ist bankrott,
Der Blinde führt den Blinden.
– Und wahrlich, gäb es keinen Gott,
Man müsste ihn erfinden.
Erwachsene wussten auch nicht alles und Gott war als Erklärung flexibel. Ebenfalls schien mir einleuchtend, hinter Zeitungsmeldungen Geschichten zu dichten, wie Mascha Kaléko das im Exil getan hat.
In meiner Kindheit war die Auswahl an Büchern gemessen an meinen Bedürfnissen nicht gross. Zum einen, weil wir wenig Geld und Platz hatten, zum anderen, weil wir viel mit sehr leichtem Gepäck gereist sind. In meinem zehnten Lebensjahr waren Spyris „Heidi, Band 1 und 2“ und ein Reiseführer über die innere und äussere Wanderung von Europa nach Poonah meine einzig zugängliche Lektüre. Und bis ich fünfzehn Jahre alt war hatte ich alle Romane der Gemeindebibliothek gelesen, auch Uta Danella.
Deswegen kann ich mich genau an einzelne Buchtitel meiner Kindheit erinnern, auch daran, dass meine Mutter die zerlesenen Bücher immer wieder restauriert hat. Beim „Decameron“ hat sie sogar einen ganz neuen Umschlag gemacht (wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, ohne dass es defekt war).
Das kleine Bändchen „In meinen Träumen läutet es Sturm“ von Kaléko stach mir immer ins Auge, wenn ich auf dem Boden vor dem Büchergestell lag und mit Stockmarkreide gespiegelte Formen in riesige Steinerschulhefte zeichnen musste. Zuerst sicher, weil „Sturm läuten“ bei uns verpönt war. Wer das im Hochhaus machte, hatte schlechte Manieren. Es war ähnlich daneben, wie im Freibad „Hilfe!“ zu schreien ohne wirklich solche zu brauchen.
Ich habe das Büchlein oft herausgezogen und an den Gedichten gelernt, welche Wörter reimen und welche Reime holpern. Im heutigen Jargon würde man Kaléko wohl den Auslöser für meine Lyrik-Sensibilisierung nennen. „In meinen Träumen läutet es Sturm“ war das erste Buch, das ich in meiner Lehre erworben habe und Kaléko wurde eines meiner Prüfungsthemen. Der Experte kannte sie allerdings nicht und befragte mich zu Heine und der Entwicklung der deutschen Ballade, was mir auch recht war.
Heute würde Mascha Kaléko neunundneunzig Jahre alt. Darum gerissen hätte sie sich bestimmt nicht.
Nie störte mich die Kürze dieses Lebens.
Mir reicht, was mir geschah, was ich ertrug.
Nochmal von vorn das Ganze? Nein, vergebens.
Herr, lass mir meine Ruh. Ich hab genug.
Sie liegt in Zürich auf dem israelitschen Friedhof Oberer Friesenberg und schweigt ihre schönsten Gedichte.
Die beste Online-Kaléko-Biographie gibt es bei Berlin-Judentum.
Von den hier eingeflossenen Gedichten habe ich ein PDF gemacht.
Alle zu lesen in:
Mascha Kaléko
In meinen Träumen läutet es Sturm
Gedichte und Epigramme aus dem Nachlass
Erstauflage dtv 1977
Dieser Beitrag freut mich. Es braucht nicht unbedingt viele, aber die richtigen Bücher, damit aus Kindern Leserinnen und Leser werden. Den Decamerone-Umschlag hat mir eine Freundin zu Weihnachten 1965 gemalt und dazu geschrieben: „Das sollte ein Renaissancebett mit Inhalt sein!“
Dieses wunderschöne Bändchen habe ich als sturm- und drangvolle Jugendliche einst in einem Antiquariat erstanden und war sofort hin und weg (die Drei Schritte vom Leibe konnte ich sehr gut nachvollziehen).
So passend das (wirklich letzte) Epigramm von ihr:
Als letzte Warnung schreib ich’s an den Pfosten:
Fallt mir nicht immer mit der Tür ins Haus!
Sucht mich nicht heim. Mit Ehren nicht, noch Posten.
Weil mir der Atem ausging, ging ich aus.
Ima: Aha, deswegen!
kristine: Ja, ein schönes Epigramm. Mit Ehren hat man sie (bis jetzt) nicht heimgesucht. Ich bin gespannt, ob zum 100. Geburtstag nächstes Jahr einmal eine richtig gute Biografie herauskommen wird.
Letztes Jahr kam bei dtv „die paar leuchtenden Jahre“ heraus. Dort sind Gedichte und andere Texte, die vorher noch nicht veröffentlicht wurden. Die biografische Skizze ist – wie immer – von Gisela Zoch-Westphal. Sie ist nicht so lausig, wie sonstige Ergüsse, die die Zoch-Westphal über Mascha Kaleko schreibt.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß zu Mascha Kalekos 100. Geburtstag „eine richtig gute Biografie“ rauskommt. Von Gisela Zoch-Westphal ist das nicht zu erwarten. Sie ist nicht bereit, wirklich fundiert zu recherchieren oder mit Leuten zusammenzuarbeiten, die das tun.
Leider ist aber Frau Zoch-Westphal die Nachlaßverwalterin von Mascha Kaleko. Niemand der was zu Mascha Kaleko machen will, wird an Frau Zoch Westphal vorbeikommen.
Letztes Jahr hat Elke Heidenreich ein sehr schönes Hörbuch mit Mascha-Kaleko-Gedichten gemacht.
Außerdem gibt es in Berlin biografische Führungen zu Mascha Kaleko