André Gorz, Brief an D.

André Gorz, Brief an D.
André Gorz
Brief an D.
Geschichte einer Liebe
Rotpunktverlag 2007
978-3-85869-353-2
Originaltitel: Lettre à D. Hostoire d’un amour

Von meinem Lehrmeister wurde André Gorz zitiert wie von meiner Grossmutter die Bibel: pointiert und bedeutsam. Wenn ich Gorz dann selber zu lesen versuchte, erging es mir auch wie bei der Bibel: es war umständlich und langfädig.
„Die Kritik der ökonomischen Vernunft“ erschien 1989 mitten in meiner Lehre in einer selbstverwalteten Buchhandlung für Soziologie, die den Satz „Kritische Bücher zur Zeit“ gleich ins Logo eingebaut hatte. Dieses Buch war in meiner Lehrbuchhandlung ein Bestseller und meine Schulkolleginnen hatten noch nie etwas davon gehört.
Mein Rückzug von der Buchhandelsfront wurde ebenfalls von Gorz begleitet: „Wissen, Wert und Kapital“ habe ich zwar 2004 noch beworben, aber schon nicht mehr verkauft.
Ich schreibe dies, weil meine Begeisterung für „Brief an D.“ damit zu erklären ist. Ich schätze, dass sie nur schwer geteilt werden kann von Leserinnen und Lesern, denen weder Gorz noch seine Zeitgenossen etwas sagen. Vielmehr fürchte ich, sie würden die Lektüre schnell und enttäuscht zur Seite legen. (Aber in Kundengesprächen sind es oft gerade diese Vermutungen, die die Leute neugierig machen.)
Was mich an dieser Geschichte einer Liebe so berührt, ist die Einsicht. Das Eingeständnis eines gefeierten Philosophen, Kapitalismuskritikers und Vorbilds einer Generation, die grosse Liebe für die Öffentlichkeit kleingeredet zu haben. Die Autobiografie mit Urteilen über die Frau an seiner Seite verbittert zu haben, die er selber gar nicht glaubte. Die Sytemkritik bisweilen auf dem Rücken des Menschen ausgetragen zu haben, auf den er sich zu jeder Zeit am meisten verlassen konnte.
Dieser Text hat nicht Reuiges. Eher etwas Fragendes. Wer war diese Frau genau, was hat sie in diesem Leben an meiner Seite eigentlich alles bewirkt? Wie bin ich auf die unsägliche Idee gekommen, ihren Wert in meinem Leben zu negieren?
Dass Gorz diese Korrektur in der Erinnerung an sich und sein Werk noch so entschieden vornahm, zeigt eine Versöhnlichkeit, die einem auch in seinen anderen Büchern begegnet. Ein alter Linker, der sich noch einmal losschreibt, weil er die wahre Liebe nicht länger als Obszönität abgeurteilt haben will – weil er es jetzt besser weiss.
Gorz hat diesen Text im Juni 2006 in Französisch beendet. Die Übersetzung ins Deutsche hat er bis zum Schluss begleitet, mit dem schöne Bändchen im Rotpunktverlag waren er und seine Frau sehr zufrieden. (Selber Deutsch schreiben, das tat der österreichische Jude nur in grösster Geldnot.) Vor einem Monat, am 24. September 2007, hat André Gorz sich zusammen mit seiner kranken Frau Dorine das Leben genommen.
R.I.P.

2 Gedanken zu „André Gorz, Brief an D.“

  1. Danke! Den Wikipedia-Eintrag zu Gorz habe ich nicht verlinkt, weil er einen groben Fehler enthält:
    Gorz war kein entscheidender Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens. Er hat einiges dazu publiziert, aber hauptsächlich darüber, warum es nicht funktionieren würde.

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