Der Ministerpräsident Villepin hat die Mitarbeiterinnen der Quartierzentren aus den Vorstädten eingeladen. Djamila Yalcin war froh, stets korrekt gekleidet bei der Arbeit zu sein, denn Monsieur brauchte die medienwirksamen Stellungnahmen schnell, zum Umziehen hätte die Zeit nicht gereicht. Seine Antworten an die 15 Frauen von den Quartierzentren decken sich mit dem, was er schon am TV erzählt hatte. Kürzungen rückgängig und Polizisten freundlicher machen will er. Djamila Yalcin fragt sich, wie lange es dauert, bis er dieses Versprechen vergessen hat und ob diese Zeit ausreicht, um etwas zu verändern.
Diese Unruhen in Frankreich und die Reaktionen der umliegenden Länder sind für mich ein wichtiges Kapitel, lehrreich und zynisch zugleich. Lehrreich, weil ich mir innert wenigen Wochen ein wertvolles Archiv an politischer Argumentation zulegen konnte. Zynisch sind für mich die Reaktionen von denen, die im allgemeinen Eurabia-Taumel das Problem auf den Islam oder die Polygamie abschieben. Hier sei aber klar gesagt, dass ich nicht zu denen gehöre, die solche Äusserungen unterbinden wollen, im Gegenteil, ich will, dass diskutiert wird, auch über solche Fragen.
Aber ich halte 18 Tage und über 40 zerpflückte Zeitungsartikel nach meiner Kampfzone-Kritik immer noch dagegen. Ich kenne die Geschichte der Banlieue ein wenig, und ich kenne die Geschichte der Ghettoisierung, auch in anderen Ländern. Je neuer eine Entwicklung, desto schwieriger ist sie natürlich zu beurteilen. Zum Beispiel habe ich keine Ahnung, ob die Vertreter der Moscheen, die diesen November viele Jugendliche von Gewalt abhalten konnten, dies aus sozialem Engagement taten oder lediglich, um sich eine neue Funktion als Ordnungshüter zu verschaffen. Letzteres würde mir grosse Sorgen bereiten.
Aber ich wage die, die den Islam als Auslöser für die Jugendunruhen in Frankreich verantwortlich machen, zu fragen, ob sie je in Wohnblöcken gelebt haben, in denen kein Lift funktioniert? Hier kann ich nämlich als Hochhauskind vom Stadtrand mitreden und auch sonst noch in einigen Dingen. Ich kenne das Gefühl, sich vor der Angabe der eigenen Adresse zu fürchten, ich kenne die Wut über die Verblüffung der Leute, die nie einen lesenden Menschen hinter so einer Postleitzahl vermutet hätten. Und ich kenne die Unterschiede bei der Reise durch die Stadt. Die Busse in die guten Quartiere sind neu, die in mein Quartier sind alt. Die gleichen Buschauffeure, die auf der Linie in „meine“ Hochhaussiedlung niemanden anschauen und schon gar nicht grüssen, scherzen und lachen mit den Fahrgästen, wenn ich in ein besseres Viertel fahre. Ich kenne auch den Wunsch, Nachbarinnen zu töten. Nämlich dann, wenn ich mit 500 von ihnen zehn Waschmaschinen teile und das Kind die ganze Nacht gekotzt hat.
Es mögen zu kleine Dinge sein für grosse Leute, Soziologen, Philosophen, Journalisten, die uns mitteilen, dass solche Unruhen hier in der Schweiz nicht möglich wären. Unsere vernachlässigten Randquartiere sind vielleicht 50 Jahre alt. Die Banlieue sind 150 Jahre alt, auch wenn die Hochhäuser erst in den Siebzigerjahren entstanden sind. Ich bin sicher, es gibt Quartiere in Frankreich, da ist nichts mehr zu retten, weil die Architektur katastrophal und die Durchmischung nicht gegeben ist, die wird man früher oder später umbauen müssen. Einen solchen Fall kenne ich in der Schweiz jedoch nicht.
Ich will auch nicht unsere kleine Misere in Vergleich zu der französischen grossen hochrechnen. Aber die Schlussfolgerung, wer nicht hauptsächlich Muslime in seinen unrenovierten Hochhäusern habe, werde von Unruhen verschont, finde ich unhaltbar.
Das Beste für die Schweiz wird sein, nach Frankreich zu schauen und Monsieur Villepin zu bedauern. Ein armer Politiker, der die Rücknahme von Kürzungen als innovative Massnahme verkaufen muss. Das ist, wie wenn man einem mit blutender Hand einen Verband verspricht, dann sagt, nein, das Verbandsmaterial reicht nicht für dich und, nachdem sie infiziert wurde, die Wunde doch noch verbindet und sich dafür gleich selber den goldenen Hippokrates verleiht.
[Hauptsächliche Quelle; auch die nicht funktionierenden Lifte findet man dort.]
Chronistenpflicht:
„Wenn der Staat von uns erwartet, dass wir das löchrig gewordene soziale Gewebe zunähen, dann muss er uns Nadel und Faden geben. Er muss und die rechtlichen und finanziellen Mittel geben, damit wir unsere vorrangige Rolle fü die Demokratie wahrnehmen können“, fasst Jacques Pélissard, der Präsident der Vereinigung französischer Gemeindevorsteher, die Erwartungen zusammen.
Die Bürgermeister haben nämlich für die Aufrechterhaltung der Ordnung, für die Wohnbaupolitik oder die Wirtschaftsförderung nur eine sehr beschränkte Macht. Und ausgerechnet die Gemeinden mit den ärgsten Schwierigkeiten haben am wenigsten Mittel zur Verfügung.
Quelle: Der Bund vom Samstag, 26. November 2005, S. 5; Hervorhebungen durch nja.
Das müsste ich ja fast in meine Banlieue-Sammlung nehmen….
Ja, ich sammle die kleinen Meldungen, die die Geldverteilung betreffen. Ich sehe die Jugendarbeitslosigkeit und die Sparmassnahmen immer noch als Hauptursache für die Unruhen und nicht den Islam.