Es gibt viel Rätselhaftes an Deutschland und den Deutschen für uns. Und es ist schon genug darüber geschrieben worden. Gemessen an der unspektakulären Rollenverteilung sogar zuviel. Deutsche finden Schweizer nett bis niedlich und sich selber besser. Schweizer finden Deutsche nett bis überheblich und haben an der eigenen, höheren Qualität keinen Zweifel. (Ich nehme mich nicht aus und habe einige bescheidene Erfahrung in zwei Berufen, in die seit über zehn Jahren sehr viele Deutsche einwandern.)
Als Deutschschweizerin muss ich mich ohnedies mit Deutschland beschäftigen, denn ich lese Deutsch: 90% der Bücher, ein Grossteil der lesbaren Zeitungen und Zeitschriften sowie 90% deutschsprachiger Blogs und 99% anderer Communitys, mit denen man sich internett in der „Muttersprache“ unterhält, sind nunmal aus Deutschland. Folglich ist meine Perspektive automatisch deutscher als die von Deutschen schweizerisch sein könnte.
Was ich trotz all der Abermillionen in mich hineingelesenen deutschen Buchstaben nicht verstehe, ist deutsche Politik.
In der Schweiz ist die Anpassung von Gesetzen an neue Gegebenheiten ein vertrauter politischer Prozess. Er wird häufig unsachlich gesteuert, er birgt meist mehr emotionale Aspekte als vermutet und er dauert. C’est tout. Der Prozess führt aber kaum dazu, dass persönliche Angriffe über Tage und Wochen undifferenziert multipliziert und möglichst ausgebaut werden.
Oder bin ich betriebsblind? Hanflegaliserung, Heroinabgabe, Ausländergesetze, Verwahrungsinitiative und sogar die Buchpreisbindung (dieser Nebenschauplatz): ganz schön emotional und unsachlich. Aber doch nicht immer und überall unter die Gürtellinie der Leute, die – ziemlich absehbar und gradlinig – den Willen ihrer Wählerschaft erfüllen.
Es ist nicht mein Mitleid mit den Politikerinnen und Politikern, sondern eher eine Frage, die mich umtreibt: Geht politische Debatte ohne minimalen gegenseitigen Respekt? Ohne das Abkommen, nicht ständig auf den Mann oder die Frau zu spielen?
Vielleicht kann halt doch erst die nächste Generation „Gesetz im Zeitalter des Internets“ so diskutieren, dass etwas anderes dabei herausschaut als Politik- oder Generation2.0-Bashing.
(Doch die Schweiz wird dazu nichts beitragen. Denn wenn Ben Vautiers art claim von 1992 irgendwo passt, dann aufs Internet: la suisse n’existe pas.)
Nun ja: Politik ist eine ernste Angelegenheit. Ernst und emotional oder eben ernst und uninteressant, für die Menschen, die sich gar nicht dafür interessieren. Die Deutschen sind mal kräftig reingefallen, als sie die Politik nicht persönlich genommen haben.
Vielleicht ist das jetzt der Ausgleich für diese Haltung.
Das wäre eine sehr gute und gut nachvollziehbare Erklärung, Claudia.
Deutsche finden Schweizer nett bis niedlich und sich selber besser.
Hm. Das müssen dann wohl diejenigen sein, die in die Schweiz einwandern. Du kennst dich darin sicher besser aus als ich (und du kennst wahrscheinlich sogar mehr Deutsche als ich), aber nach meiner Wahrnehmung hat der deutsche Blick auf die Schweiz in den letzten Jahrzehnten einen rasanten Wandel durchlebt. In den 80ern gab es nur Emil Steinberger und „Asterix bei den Schweizern“ vs. Frisch/Dürrenmatt/Muschg (für die Intellektuellen). Und heute hangelt sich das an dem Graben zwischen den politischen Lagern entlang: für die einen ist die Schweiz zusammen mit Australien das beste Land der Welt überhaupt (das sind die, die jeden Artikel von Roger Köppel am Nachmittag nach seinem Erscheinen auswendig können) – und für die anderen ist die Schweiz der landschaftlich reizvolle Sitz der finanz- und steuerpolitischen Unmoral. Und so, wie das Land wahrgenommen wird, werden auch seine Bewohnerinnen und Bewohner zugeordnet.
Geht politische Debatte ohne minimalem gegenseitigen Respekt?
Nein, in Deutschland geht das nicht. Auf dem Weg zu einem jahrzehntelang zu verteidigenden Sitz im Parlament (andere Anreize, Politiker zu werden, gibt es ohnehin nicht) verliert man zuerst den Respekt vor sich selbst, dann den Respekt für die Parteifreunde. An Respekt für den politischen Gegner ist dann erst recht nicht mehr zu denken.
Und historisch betrachtet? Da hat „ad hominem“ eine sehr lange Tradition. Und seit 1990 kommt noch die deutsche Zwietracht und die Nicht-Integration der Zuwanderer hinzu. Die weinerlichen Ossis hatten 40 Jahre lang nicht die Eier, den Kommunismus abzuschütteln und sind selbst jetzt, wo die Wessis ganz Neufünfland mit fussbodenbeheizter Autobahn ausgestattet haben, noch nicht zufrieden – und die faulen Wessis haben sich ja nur in das von den Amerikanern gemacht Bett gelegt und wissen überhaupt nicht, was die Ossis alles zu erleiden hatten. Und beide -ssis gemeinsam werden von den Ausländern ausgenutzt, die sich nur in die soziale Hängematte legen – und jetzt sitzen ein paar von denen sogar im Bundestag und werden Parteichef!
(oder so ähnlich)
Nett bis niedlich ist schon das, wovon ich das Gefühl habe, dass es mich die Deutschen finden. Vielleicht noch tüchtig manchmal (auf der Buchmesse), aber das ist ja eigentlich auch ganz nett.
Ja, das mit dem Respekt vor den Politiker/innen ist wohl schon so: Sie erwarten es selber gar nicht, bzw. nur die schaffen es, die ohne auskommen. Das scheint mir in unserem Heidi-Land schon anders zu sein.
Und ich könnte mir trotz mangelndem politischen Verständnis für Deutschland vorstellen, dass dein historischer Exkurs i.S. Deutscher Zwietracht einige Nägel auf den Kopf trifft.
Na, Politik persönlich nehmen, das heißt als etwas begreifen, was mit einem selbst zu tun hat, finde ich richtig und wichtig für die Demokratie. Aber das heißt noch lange nicht, dass man deswegen nicht unterscheiden kann zwischen Argumenten (zur Sache) und Bashing (zur Person), was immer an der Sache vorbeigeht. „Die Deutschen“, wenn man so pauschal einem nationalen Kollektiv eine Eigenschaft überhaupt zuschreiben darf, sind eben demokratietheoretisch gesprochen immer noch ziemlich unreif. – Der Stammtisch wird es ja immer bleiben, aber bis wohin der Stammtisch reicht, daran könnten wir vielleicht langsam was verändern.
Stammtisch, Lisa Rosa, reicht auch hier sehr weit. Gerade in ausländerpolitischen Meinungen leisten sich die Schweizer wohl bisweilen eine lautstarke Haltung, die sich in Deutschland wohl wenige trauen würden. Nur diese ständige, hämische Demontage gewählter Personen, die genau das tun, wofür sie gewählt worden sind, kennen wir weniger.
Ich verstehe unsere Politiker und unsere Politik auch nicht (oder nur selten), und das hat nicht nur mit dem mangelnden Respekt zu tun, den die sich gegenseitig erweisen, sondern mit dem Kalkül, mit dem sich gegenseitig kein Respekt erwiesen wird. Die sind ja, scheint mir oft, nicht deswegen böse zueinander, weil sie sich nicht mögen, sondern weil sie hoffen, dass der öffentliche Eindruck „ich bin nicht nett zu xyz“ ihnen einen Vorteil bringt. Dasselbe gilt leider oft für öffentlich sich äußernde Politikzuschauer wie Journalisten.