Seit einer Woche trage ich ein Interview der Sonntagszeitung mit Rüdiger Safranski herum (in gedruckter Form). Dies als Erinnerung, weil ich über Safranskis Bemerkung zum „sekundären Analphabetismus“ nachdenken wollte. Bisher hatte ich den Eindruck, dass viele Jugendliche nie richtig lesen gelernt hätten. Damit meine ich so, dass sie längere, nicht illustrierte, aber einfache (nicht etwa literarische) Texte soweit verstehen, dass der Inhalt hängen bleibt und bei Bedarf im Wesentlichen wiedergegeben werden kann. Dem ist ja oft nicht mehr so, das wissen alle, die unterrichten. Lehrpersonen von heute machen gescheiter Prezi als Prosa.
Safranski geht weniger davon aus, dass das Lesen nicht erlernt worden ist, sondern davon, dass es verlernt wird.
… da sind wir jetzt möglicherweise wieder in einer Revolution drin, deren Ausmass wir noch nicht begreifen können: Dass nämlich nicht mehr die Schrift und das Lesen die zentrale Rolle spielen, sondern das Bild. Bei der Bildkommunikation entfällt der abstrahierende Vorgang vom abstrakten Zeichen zur bildlichen Vorstellung im Gehirn, das Bild ist sofort da in unseren Köpfen, ohne Umweg über das Zeichen. Und wenn diese Fähigkeit zur Abstraktion nicht mehr regelmässig genutzt wird, verkümmert sie.
Das habe ich so noch nicht überlegt. Aber wenn ich mich selber anschaue, ist es gar nicht so abwägig. Ich teile mir die Lesezeit zunehmend genauer ein und muss dabei alle Elektronik ausschalten und bei anspruchsvoller Lektüre häufiger mehrmals anfangen. Bei Presseartikeln kommt es sogar vor, dass ich sie nicht zu Ende lese, sondern den Sachverhalt einfach rasch google und mir so kein Wissen verschaffe, sondern bloss Information für den Moment.
Sind Sie Pessimist?
Keinesfalls. Wenn man auf die Geschichte zurückblickt, kann man fast nur Optimist sein, allerdings mit viel Geduld. Man muss schon deutlich über die eigene Lebenszeit hinausblicken. Die Menschheit ist eine ausserordentlich erfindungsreiche Gattung. Unseren Nachfahren wird etwas einfallen, es wird schon irgendwie weitergehen. Freilich kann man auch nicht ausschliessen, dass der Faden reisst, dass die Fackel nicht mehr weitergetragen wird. Trotzdem: Pessimismus ist für mich etwas Wichtigtuerisches, weil man seine Nachkommen für Idioten hält. Eigentlich sind wir heute ohnehin alles Glückskinder, verglichen mit früheren Zuständen. Aber das nützt halt nichts, weil jede Generation auf dem Niveau des allgemeinen Wohlbefindens sich ihre eigenen Probleme macht.
ich bin immer wieder erstaunt, wie unglaublich hellsichtig Vilem Flusser war. Ev. ein Tipp, wenn Du ihn noch nicht kennst (habe ihn 1991 an einem Vortrag in Bern gesehen und war schon damals sehr beeindruckt). Flusser hat den Übergang von Schrift zu technischen Bilder in mehreren Büchern beschrieben.
@Michael: An ihn habe ich schon länger nicht mehr gedacht, aber das stimmt natürlich! Dank meinem Lehrort, der Münstergass-Buchhandlung mit philosophischem Schwerpunkt, kenne ich Flusser und habe ihn auch einmal in Natura erlebt, jedoch nicht viel verstanden. Er war rückblickend wahrlich seiner Zeit voraus. Dass er bei einem Autounfall auf dem Rückweg von einem Vortrag umgekommen ist, war damals eine rabenschwarze Nachricht für uns in der Buchhandlung. Man sah Anfang Neunziger schon, dass viel anders werden würde, hatte aber keine grosse Ahnung was und wie. Ich glaube, wir waren froh, wenigstens noch Paul Virilio einladen zu können, denn Jacques Derrida – der damals auch ziemlich relevant war – überlegte sich die neue Welt in eine andere Richtung.
ich habe kürzlich die Bochumer Vorlesungen von Flusser wieder gelesen (Teile daraus): eine erstaunliche Lektüre, wenn man daran denkt wann das vorgetragen wurde.
Ich hatte ihn damals an einer Vorlesung im Kino im Kunstmuseum Bern erlebt und war schwer beeindruckt und „baff“.
Ich glaube fast, wir waren an der gleichen Veranstaltung. Das ist witzig.