Ich habe richtig gut angefangen im neuen Schuljahr und die Kinder und Jugendlichen um mich herum auch.
Was mir auffällt ist, dass eigentlich jeder Jahrgang mehr nach Regeln und Vorgaben verlangt als der vorherige. Wenn es zu irgend etwas keine Regeln gibt, wird umgehend nachgefragt.
Wir haben dieses Jahr die ersten Lernenden mit Jahrgang 2000 an unserer Berufsfachschule. Das sind wohl auch die ersten, in deren Volksschule wirklich jeder Lehrperson klar gewesen ist, dass sie nichts voraussetzen kann. Andere Nationalität, anderer Hintergrund, völlig andere Vorbildung, Patchwork hier, Sportschwerpunkt da, Förderunterricht und Inklusion allüberall und Durchlässigkeit sowieso – eine so hohe Flexibilisierung erfordert einen klaren Rahmen. Es scheint mir folgerichtig, dass die neue Generation das auch in der Mittelstufe erwartet, selbst wenn es mir manchmal schwer fällt, den Rahmen schon vor deren Eintreffen zu bestimmen und danach unverrückbar zu verordnen. Ich bin froh, haben wir unsere Handvoll Grundsätze gut durchdacht – sie sind einfach zu kommunizieren und bilden ein brauchbares Dach über alle weiteren nötige Vorgaben, die eine Abteilungsleiterin zu verbreiten hat.
Allgemein mache ich mir aber keine Sorgen darüber, dass Regulierung über Gebühr ernst genommen wird, egal ob sie schon in Stein gemeisselt ist, wenn die Leute zum Schulanfang antraben oder ob sie erst im Laufe der Zeit entsteht. Sowohl bei den Jugendlichen wie in den Kollegien und der Schulleitung bleibt die Kurve zwischen den Achsen Jahre und Regelbewussten ziemlich gleich.
Kategorie: Lernvoraussetzungen
… sind Lehrvoraussetzungen.
Zum Schuljahresbeginn
Es gehört zum Schulanfang einer Abteilungsleiterin, dass er steil ist. Gründe sind eine Vielzahl von Unwägbarkeiten und Zielkonflikten. Aber die erste Woche – das heisst, der Start mit den Lehrpersonen – ist gut verlaufen. Am Freitag hatten wir einen recht angenehmen Konferenztag. Trotz der Hitze haben alle durchgehalten und waren glaub ich sogar froh, nicht zu viel interaktiv- oder -disziplinär machen zu müssen, sondern zuzuhören. Der oberste Chef, Regierungsrat und Erziehungsdirektor Bernhard Pulver, hielt eine meines Erachtens ausgezeichnete Rede, in der er viel Wert darauf legte, dass universitäre und berufliche Bildung sich nicht gegenseitig schlecht machen sollen. Es ist nämlich so, dass in allen Regionen (in der Schweiz sieht man das im kantonalen Vergleich sehr deutlich), in welchen die Berufsbildung stark und angesehen ist, Gymnasien und Universitäten ein höheres Niveau haben. (In der Schweiz studieren nur ein Viertel der Jugendlichen an der Uni, aber dafür alle an den einer der besten 200 Universitäten der Welt.)
Fachkräfte fehlen uns leider in beiden Bereichen – im praktischen wie im universitären. Weshalb ich mich mit meinen beiden vitalen Kollegien einmal mehr ins weite Feld der beruflichen Grundbildung aufmache, um Fachleute auszubilden, sie zu ermuntern, zu unterrichten, zu rügen, ihnen Fragen zu stellen und die ihrigen zu beantworten. Und sie vor allem zu lehren, dass unterschiedliche Antworten richtig sein können und auch solche, die wir noch gar nicht zu formulieren vermögen, weil sie in der Zukunft liegen.
Langer Konferenztag vorbei. Danach angenehm düppiges Nachtessen vom Grill im Vorgarten der Schule. pic.twitter.com/LrOJVzlFy5
— TanjaML (@TanjaML) 7. August 2015
Anitautoritäre Erziehung 2
2005 habe ich mir offenbar vorgenommen, das Thema ad acta zu legen. Aber heute ist mir – sicher nicht zum ersten Mal seither – wieder eine haarsträubende Geschichte über ein vermeintlich antiautoritär erzogenes Kind aufgetischt worden. Zudem habe ich im Rahmen der „Kuschelpädagogik“ auch schon öfter Aufzählungen von Neills Irrtümern gehört.
Da ich im Moment häufig mit meinem erwachsenen, aber zumindest finanziell noch abhängigen Kind Meinungsverschiedenheiten pflege, rufe ich mir meine Prinzipien täglich in Erinnerung. Ich bin gezwungen, sie ständig auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen und mir erzieherische Fehlleistungen einzugestehen. Aber mit dem Versagen von Neill kann ich trotzdem nicht dienen. Das, was ich vor neun Jahren aufschrieb und umzusetzen versuchte, funktioniert nach wir vor. Mehr noch: Es verschafft uns in den schwierigsten Situationen Respekt voreinander. Aber wir sind trotzdem laut, Heuchelei ist keine Option. Und ja: Ich weiss nicht, ob’s gut kommt.
Wenn ich wieder so bescheuerte Geschichten von Kindern höre, die andere terrorisieren dürfen, weil ihre antiautoritäre Erziehung das erlaube, fällt mir diese Antwort von Neill ein:
Was soll ich tun, wenn mein neunjähriger Sohn Nägel in die Möbel schlägt?
„Anitautoritäre Erziehung 2“ weiterlesen
Morgens, mittags, abends
Lesen verlernen
Seit einer Woche trage ich ein Interview der Sonntagszeitung mit Rüdiger Safranski herum (in gedruckter Form). Dies als Erinnerung, weil ich über Safranskis Bemerkung zum „sekundären Analphabetismus“ nachdenken wollte. Bisher hatte ich den Eindruck, dass viele Jugendliche nie richtig lesen gelernt hätten. Damit meine ich so, dass sie längere, nicht illustrierte, aber einfache (nicht etwa literarische) Texte soweit verstehen, dass der Inhalt hängen bleibt und bei Bedarf im Wesentlichen wiedergegeben werden kann. Dem ist ja oft nicht mehr so, das wissen alle, die unterrichten. Lehrpersonen von heute machen gescheiter Prezi als Prosa.
Safranski geht weniger davon aus, dass das Lesen nicht erlernt worden ist, sondern davon, dass es verlernt wird.
… da sind wir jetzt möglicherweise wieder in einer Revolution drin, deren Ausmass wir noch nicht begreifen können: Dass nämlich nicht mehr die Schrift und das Lesen die zentrale Rolle spielen, sondern das Bild. Bei der Bildkommunikation entfällt der abstrahierende Vorgang vom abstrakten Zeichen zur bildlichen Vorstellung im Gehirn, das Bild ist sofort da in unseren Köpfen, ohne Umweg über das Zeichen. Und wenn diese Fähigkeit zur Abstraktion nicht mehr regelmässig genutzt wird, verkümmert sie.
Das habe ich so noch nicht überlegt. Aber wenn ich mich selber anschaue, ist es gar nicht so abwägig. Ich teile mir die Lesezeit zunehmend genauer ein und muss dabei alle Elektronik ausschalten und bei anspruchsvoller Lektüre häufiger mehrmals anfangen. Bei Presseartikeln kommt es sogar vor, dass ich sie nicht zu Ende lese, sondern den Sachverhalt einfach rasch google und mir so kein Wissen verschaffe, sondern bloss Information für den Moment.
Sind Sie Pessimist?
Keinesfalls. Wenn man auf die Geschichte zurückblickt, kann man fast nur Optimist sein, allerdings mit viel Geduld. Man muss schon deutlich über die eigene Lebenszeit hinausblicken. Die Menschheit ist eine ausserordentlich erfindungsreiche Gattung. Unseren Nachfahren wird etwas einfallen, es wird schon irgendwie weitergehen. Freilich kann man auch nicht ausschliessen, dass der Faden reisst, dass die Fackel nicht mehr weitergetragen wird. Trotzdem: Pessimismus ist für mich etwas Wichtigtuerisches, weil man seine Nachkommen für Idioten hält. Eigentlich sind wir heute ohnehin alles Glückskinder, verglichen mit früheren Zuständen. Aber das nützt halt nichts, weil jede Generation auf dem Niveau des allgemeinen Wohlbefindens sich ihre eigenen Probleme macht.
Sonderprogramm
Während meine Kolleginnen und Kollegen bei dem Workshop in Kandersteg Lernfilme machten, wurden die daheimgebliebenen Azubis und ich von Autor Martin R. Dean und seiner österreichischen Verlegerin Anna Jung in Bern besucht. So konnten wir alle unsere Schätze heben. Manchmal sind Abweichungen vom normalen Unterricht einfach nur gut.
Wir hatten eine tolle Lesung und eine sehr interessante Zeit mit Martin R. Dean und Anna Jung @JungundJung pic.twitter.com/HyiTK4RpHh
— PegasusAktuell (@PegasusAktuell) March 28, 2014
Schuljahre überspringen
Ob Gotthelf oder aktuelle Zeitschriften der Erziehungsdirektionen: Egal, was ich über die Schweizer Volksschule lese, sie scheint mir auf das Mittelmass und höchstens noch auf die Schwachen ausgerichtet zu sein.
Das überrascht nicht weiter, denn überragende Leistungen sind in der Schweiz wenig angesehen und wenn, dann nur bei besonders bescheidenen Persönlichkeiten. Würde Roger Federer nur schon die Frau wechseln oder ab und zu eine Party schmeissen, wäre er wohl noch bewundert, aber nicht mehr respektiert.
Zurück zur Volksschule: Eltern und Lehrer überlegen es sich deshalb sehr genau, ob sie ein Kind eine Klasse überspringen lassen wollen, wenn es mit dem Schulstoff, ein, zwei Jahre voraus ist. Hat das Kind eine genügend bescheidene Persönlichkeit, um in der neuen Klasse nicht aufzufallen? Wird es beim traditionellen Orientierungslauf in der neuen Altersgruppe das Mittelfeld erreichen? Kann es das Turnsäckli zuziehen, die Schuhe schnell binden, die Veloprüfung bestehen? Kann es stillstitzenstillsitzenstillsitzen? Bei Jungs fragt man sich auch, wie das mit der Rekrutenschule laufen soll, denn da gibt es weissgott nichts zu überspringen. Und was sagen die anderen Mütter, die das Kind von der Spielgruppe kennen, wo es – mit Verlaub – nicht das Zuverlässigste war?
Eben, so geht das hin und her und am Ende findet man die Langeweile das kleinere Übel. Ich kenne leider nur einen einzigen Fall, wo das Überspringen völlig problemlos gelaufen ist und das übersprungene Jahr die ganze Schullaufbahn hindurch bestehen bleiben konnte. Das war mein Schwiegervater, eines von sechs Pfarrkindern. Da die Lehrerin ihn nicht in der ersten Klasse sah, weil die Kindergärtnerin vermeldet hatte, er könne lesen und schreiben wie ein Zweitklässler, bestellte sie geistesgegenwärtig den Schulinspektor, um das Kind zu beurteilen. Keine Diskussionen mit Eltern oder Kollegium oder dem Kind selber, keine Vorabinformation, keine Fragen.
Als mein Schwiegervater die dritte Woche in die erste Klasse ging, kam also der angesehene Schulinspektor aus der Region vorbei, nahm ihn zur Seite und liess ihn rechnen. Danach wollte er ihm einen Satz diktieren, um Schrift und Rechtschreibung zu prüfen.
„Wir haben zu Hause Kaninchen,“ war der Satz des Schulinspektors. „Nein, wir haben zu Hause keine Kaninchen,“ bekam er zur Antwort. „In der Taubstummenanstalt haben sie Kaninchen,“ korrigierte sich der Inspektor, denn das wusste jedes Kind. Mein Schwiegervater schrieb den Satz und der Inspektor wies ihn an: „Ab morgen gehst du zu Frau Hostettler in den Unterricht.“ Die Frau Hostettler war die Zweitklasslehrerin. Gemunkelt wurde im Dorf schon hin und wieder, aber angezweifelt wurde der Entscheid nie, mein Schwiegervater machte seinen Weg und wurde Professor der Chemie.
Fachverantwortlichentagung 2014
Für Schweizer Verhänltnisse sind wir eine sehr grosse Schule, wir sehen einander nur, wenn wir das viel im Voraus planen. Deshalb gibt es bei uns fixe Jahrestermine, die immer zur gleichen Zeit stattfinden, z.B. die Tagung der Leitung mit den Fachverantwortlichen heute. Da kommen die die, Teile von diesen und jenen zusammen. Dies um zu diskutieren, in Gruppen zu arbeiten und nicht weniger als die Standards für das nächste Schuljahr festzusetzen.
Das Programm heute beinhaltet folgende Punkte, die je ein bis zwei Stunden in Anspruch nehmen werden:
Ich bin dann mal im Emmental. Einen guten Tag allerseits!
Brief vom Chef
Mein oberster Chef schreibt zum Schulbeginn immer einen Brief, den ich in der Regel hier verlinke. Leider bar jeder archivarischen Regeln, weshalb ich auf die Schnelle nur gerade die drei letzten finde. Sicher ist: Der Brief wird mit den Jahren länger.
Brief von Bernhard Pulver zum Schulbeginn 2013
Brief von Bernhard Pulver zum Schulbeginn 2012
Brief von Bernhard Pulver zum Schulbeginn 2011