Ob Gotthelf oder aktuelle Zeitschriften der Erziehungsdirektionen: Egal, was ich über die Schweizer Volksschule lese, sie scheint mir auf das Mittelmass und höchstens noch auf die Schwachen ausgerichtet zu sein.
Das überrascht nicht weiter, denn überragende Leistungen sind in der Schweiz wenig angesehen und wenn, dann nur bei besonders bescheidenen Persönlichkeiten. Würde Roger Federer nur schon die Frau wechseln oder ab und zu eine Party schmeissen, wäre er wohl noch bewundert, aber nicht mehr respektiert.
Zurück zur Volksschule: Eltern und Lehrer überlegen es sich deshalb sehr genau, ob sie ein Kind eine Klasse überspringen lassen wollen, wenn es mit dem Schulstoff, ein, zwei Jahre voraus ist. Hat das Kind eine genügend bescheidene Persönlichkeit, um in der neuen Klasse nicht aufzufallen? Wird es beim traditionellen Orientierungslauf in der neuen Altersgruppe das Mittelfeld erreichen? Kann es das Turnsäckli zuziehen, die Schuhe schnell binden, die Veloprüfung bestehen? Kann es stillstitzenstillsitzenstillsitzen? Bei Jungs fragt man sich auch, wie das mit der Rekrutenschule laufen soll, denn da gibt es weissgott nichts zu überspringen. Und was sagen die anderen Mütter, die das Kind von der Spielgruppe kennen, wo es – mit Verlaub – nicht das Zuverlässigste war?
Eben, so geht das hin und her und am Ende findet man die Langeweile das kleinere Übel. Ich kenne leider nur einen einzigen Fall, wo das Überspringen völlig problemlos gelaufen ist und das übersprungene Jahr die ganze Schullaufbahn hindurch bestehen bleiben konnte. Das war mein Schwiegervater, eines von sechs Pfarrkindern. Da die Lehrerin ihn nicht in der ersten Klasse sah, weil die Kindergärtnerin vermeldet hatte, er könne lesen und schreiben wie ein Zweitklässler, bestellte sie geistesgegenwärtig den Schulinspektor, um das Kind zu beurteilen. Keine Diskussionen mit Eltern oder Kollegium oder dem Kind selber, keine Vorabinformation, keine Fragen.
Als mein Schwiegervater die dritte Woche in die erste Klasse ging, kam also der angesehene Schulinspektor aus der Region vorbei, nahm ihn zur Seite und liess ihn rechnen. Danach wollte er ihm einen Satz diktieren, um Schrift und Rechtschreibung zu prüfen.
„Wir haben zu Hause Kaninchen,“ war der Satz des Schulinspektors. „Nein, wir haben zu Hause keine Kaninchen,“ bekam er zur Antwort. „In der Taubstummenanstalt haben sie Kaninchen,“ korrigierte sich der Inspektor, denn das wusste jedes Kind. Mein Schwiegervater schrieb den Satz und der Inspektor wies ihn an: „Ab morgen gehst du zu Frau Hostettler in den Unterricht.“ Die Frau Hostettler war die Zweitklasslehrerin. Gemunkelt wurde im Dorf schon hin und wieder, aber angezweifelt wurde der Entscheid nie, mein Schwiegervater machte seinen Weg und wurde Professor der Chemie.