Pierre Bayard
Wie man über Bücher spricht,
die man nicht gelesen hat
Kunstmann 2007
978-3-88897-486-1
Originaltitel: Comment parler des livres
que l’on n’a pas lus?
Immer pünktlich zur Buchmesse überkommt mich das Verlangen, der Welt zu erklären, dass das Buch ihr Nabel sei. Aber es geht vorbei. Und dieses Buch hilft dabei.
Es wurde von den Rezensenten meist dankbar, manchmal sogar begeistert aufgenommen. Und ich habe mich auf die Lektüre gefreut, denn ich lese sehr gerne über das Lesen.
Das vermeintlich Skandalöse an dem Buch funktioniert natürlich bei einer Buchhändlerin nicht. Mir war gar nicht bewusst, dass das Reden über Bücher, die man nicht gelesen hat, zu den letzten Tabus unserer mitteleuropäischen Zeit gehören soll. Im Gegenteil, im Buchhandel lernen wir vom ersten Tag der Berufslehre an, dass wir über ungelesenen Bücher sprechen sollen – ja, gar daraufhin trainieren müssen.
Wenn mir die Jeans-Verkäuferin sagt, die Hose habe einen passenden Schnitt und sei von guter Qualität, dann gehe ich selten davon aus, dass sie sie ein Jahr am eigenen Leib getestet hat. Das wäre eher hinderlich, weil sie mir die Hose ein Jahr vorenthalten müsste. Ich erwarte aber, dass sie keine minderwertige Ware einkauft, fünfzig andere Jeans im Kopf hat und weiss, dass sie mich zum letzten Mal beraten hat, wenn ich darin bescheuert aussehe.
Damit habe ich die wichtigsten Erkenntnisse meiner Lektüre beschrieben. Ungelesene Bücher gibt es in einem Menschenleben unzählige, die Chance, in einem Gespräch auf ein Gelesenes zu stossen, ist unendlich viel kleiner. Die Unkenntnis über viele einzelne Bücher hindert uns nicht an einer gewissen Kenntnis über die Summe, die uns dann wieder beim Einzelurteil hilft. Das ist das BEsondere an diesem Buch! Dass der Autor hier direkt und indirekt viel über Berufsbüchermenschen erzählt. Wir wissen ja selber nicht immer so genau, wie wir ticken. Umso lieber lesen wir darüber.
Natürlich ist uns Buchhändlerinnen klar, dass wir auf den Verlag, auf seine zurückliegende und seine angekündigte Produktion achten, um ein Buch einzuschätzen. Dass der Autor, das Vorwort, die Gattung, dass Genre und die Originalsprache eine wichtige Rolle spielen. Aber wir ahnen kaum, wie viele ungelesene Bücher wir zum Vergleich heranziehen, um ein weiteres zu beurteilen. Wie Bayard das beschreibt und mit Büchermenschen aus der Literaturgeschichte belegt, ist schon fast belletristisch. Dass er sich nur auf Bücher bezieht, die er nie in der Hand oder höchstens überflogen hat, ist ja der Witz dabei (ob die Wahrheit, steht auf einem anderen Blatt).
Werte Leserinnen und Leser, der erste Teil ist wunderbar simpel: Sprechen über ein Buch und Lesen eines Buches sind zwei verschiedene Angelegenheiten. Voilà! Überzeugte Belesene wie stolze Unbelesene werden bis hierhin ihre Kurzweil mit Bayard haben.
Dann geht es leider rasch vom Bewusstsein ins Unterbewusstsein. Mich persönlich hat der Professor abgehängt, als sich zur kollektiven Bibliothek (die Bücher, von denen wir zwangsläufig schon gehört haben) und zur subjektiven Bibliothek (die Bücher, die für uns wichtig sind) auch noch das „Deckbuch“ (in Anlehnung an Freuds „Deckerinnerung“ ) gesellte. Hier hat ein Lektor versagt oder – wie Daniel di Falco („Der Bund“ vom 4. Oktober) seine Enttäuschung auf den Punkt bringt:
Der Leser schreibt ein grosses Fragezeichen auf die Seite und blickt über den Rand des Buchs. Sein Sessel hat sich in eine Couch verwandelt, und hinter der Stehlampe tritt der Therapeut hervor. Was für ein Spielverderber.
So, dann gehe ich mal zur Buchmesse, hemmungslos über Bücher reden, die ich nicht gelesen habe. Wie all‘ die Jahre vorher. So long!
(Und das Beste zum Nichtlesen ist nicht von Pierre Bayard, sondern von Peter von Matt. Ich komme darauf zurück.)
Just dieses Buch erwähnte ich vor einigen Tagen gegenüber unseren BuchhändlerInnen in spe auch – hatte es aber, wie es sich gehört, noch nicht gelesen, nur in aller Eile beim letzten Sortimenterbesuch an der Kasse liegen sehen und „interessant“ gespeichert, ohne mir aber auch nur den Titel exakt gemerkt zu haben (den ergänzten die Auszubildenden dann aber). Nach deiner Beschreibung füge ich ein „sehr“ hinzu – es rückt schon höher auf dem Stapel noch nicht gelesener Bücher, und heute nachmittag, beim nächsten Besuch des Buchhändlers, werde ich es mitnehmen …
Das freut mich! Ich hatte dem Buch gegenüber ein bisschen ein schlechtes Gewissen, aber ich kann es nicht nur loben – es ist so zweigeteilt.