Wo nehme ich nur all die Zeit her

Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen?


Gibt der Satz von Karl Kraus (…) sein Geheimnis preis? Er operiert mit beiden diskutierten Positionen, obwohl sie sich gegenseitig auszuschliessen scheinen (Schopenhauer und Lichtenberg, Anm. nja). Er unterstellt zum einen, dass nur ganz weniges das Lesen lohnt, nur die paar Säulen in der Wüste der Geschichte. Darin tritt er neben Schopenhauer. Aber er gesteht zugleich ein, dass sich niemand aus dem unabsehbaren Kontinuum der gesprochenen und gedruckten Rede verabschieden kann. Dahinter steht das Wissen Lichtenbergs. Der Schlamm des Zeitalters, von dem Schopenhauer spricht, ist für Kraus die Druckerschwärze. Und zwar nicht im Sinn einer koketten Metapher, sondern als das konkrete Unheil, das die Menschheit in den moralischen Untergang führt. Ohne das endlose Lügen der Presse wäre der Erste Weltkrieg und die durch ihn ausgelöste Katastrophenkette nicht möglich gewesen. Das ist die Lebenswahrheit, die Lebenswut, der Lebensschrei von Karl Kraus. Die Historiker mögen daran zweifeln; wer Kraus mit Ausdauer liest, weiss, das er es von Tag zu Tag, von „Fackel“ zu „Fackel“ bewiesen hat.
Die Kunst, nicht zu lesen, gewinnt man also nicht dadurch, dass man auf die Marmorklippen klettert und sich dort mit einigen schönen altern Büchern einrichtet. Sie setzt die Auseinandersetzung mit dem Dreck des Zeitalters voraus. Ich muss zur Kenntnis nehmen, wozu ich nein sage. Da waltet eine unheimliche Dialektik. Das freie, eigene Denken verlangt den offenen Blick in den Mahlstrom des Mainstream, in die Produktion der Saisonüberzeugungen und die weltweiten Rituale des Nachbetens. Die Stille, die zum eigenen Denken gehört, gewinnt nur, wem der murmelnde Globus in den Ohren dröhnt. Die Kunst, nicht zu lesen, hat zur Bedingung, dass man den Schlamm des Zeitalters glucksen und die Zirkusrosse traben hört, Tag für Tag. Das gibt zu tun. Wo nehme ich nur die Zeit her?

Aus: „Lesen als Katastrophe“ in: Peter von Matt, Das Wilde und die Ordnung, Hanser 2007

2 Gedanken zu „Wo nehme ich nur all die Zeit her“

  1. Oh, wie schön! Bei mir liegt das Buch auch waagrecht in der Bibliothek, damit ich es immer schnell wieder finde. Von Matt weiss Bescheid und ist doch bescheiden genug, um auch noch gut und verständlich zu schreiben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.