Buchhandel im Wandel: ein Ausschnitt

In der Münstergass-Buchhandlung 1993
Es gibt drei Fotos von mir bei der Arbeit in einer Buchhandlung: Dieses und eines, auf dem ich Druckerpapier (gestreift, mit gelochtem Rand) einlege und noch eines, auf dem ich nach einem Ordner greife. Alle sind aus den Neunzigerjahren.
Was ist anders, was gleich?
Hinter mir sieht man sechs grüne Bände VLB: das Verzeichnis der lieferbaren Bücher im deutschsprachigen Raum. Heute gibt es das als sekundenaktuelle Datenbank, die selten mehr direkt, sondern via Schnittstelle zum eigenen Warenwirtschaftssystem benutzt wird. Darüber sieht man das Abholfach, welches wohl in jeder Buchhandlung nach wie vor existiert. Hier werden Bestellungen, die von Kunden abgeholt werden, nach Kundennamen geordnet eingeräumt.
Ganz oben auf dem Gestell in meinem Rücken sieht man zwei Brockhaus-Ausgaben, einmal den dtv-Brockhaus und einen Band des 24 bändingen Brockhaus. Tempi passati (s. Pegasus 89, S. 4).
An der Ecke vorne liegen Zeitschriften auf. Der „Widerspruch“ (violett) existiert nach wie vor. Der „Freibeuter“ (rot-orange), die Zeitschrift für Kultur und Politik aus dem Wagenbach Verlag wurde 1999 zwar eingestellt, aber der Verlag ist noch da. Von Wagenbach ist auch der blaue Band (aufgestellt) über Ludiwig XIV, welcher als Taschenbuch nach wie vor lieferbar ist.
Der Titel links davon Adieu, Monsieur ist natürlich vergriffen. (Die Bundesrätin, die damals auf Duck der Frauen gewählt wurde ist inzwischen längst zurückgetreten. Wir haben heute drei Bundesrätinnen und eine Bundeskanzlerin. Das Kick-off war 1993 auf der Strasse vor dem Bundeshaus.)
Dann der Computer. Der war beige und lief heiss. Wir hatten noch kein Internet, aber wir übermittelten unsere Bestellungen schon damals elektronisch. Ob ich dazu 1993 noch den Hörer abheben und mit Klettverschluss auf eine Vorrichtung am Modem fixieren musste und mich während der Übermittlung kaum bewegen durfte, weiss ich nicht mehr genau. Vielleicht war das noch früher.

Die mechanische Kasse (links im Bild) machte ziemlichen Lärm. Wenn die Beträge addiert waren und man die grosse, grüne Total-Taste gedrückt hatte, klingelte es und die Kassa-Schublade sprang einem in den Bauch. Die Einführung der MwSt. in der Schweiz zwang die meisten Buchhandlungen in dieser Zeit zu Neuanschaffungen von elektronischen Kassen.
Was ich selber auf diesem Bild gerade mache, kann ich nur vermuten. Es hatte wohl keine oder kaum Kunden im Laden. Der Ordner vor mir könnte Lieferscheine beinhalten, denn ich rechnete sicher etwas zusammen, man sieht die Papierrolle des Tischrechners. Diesen zügelte ich nur an diesen engen Platz, wenn ich wirklich viele Lieferscheine zusammenzählen musste. Der Ablauf in einer Buchhandlung mit viel Stammkundschaft war halt so, dass diese die Bücher mitnahm oder gebracht kriegte, aber erst Ende Monat eine Rechnung für alle Bezüge erhielt.
Noch einmal zurück zu den ausgestellten Büchern: Beim weissen Titel, der in der Mitte rechts präsentiert ist, handelt es sich um das Buch „Das Reich und seine neuen Barbaren“. Das gibt’s noch in einigen wenigen Antiquariaten, aber den Verlag Volk und Welt gibt es nicht mehr (er hat das Ende der DDR nur um zwei Jahre überlebt). Dafür habe ich soeben festgestellt, dass es den Verlag des orange-weissen broschierten Bändchens rechts im Bild noch gibt: merve. Schon damals ziemlich schwer verkäuflich, hat aber offenbar sein Publikum gefunden und behalten. Das freut mich jetzt gerade.

4 Gedanken zu „Buchhandel im Wandel: ein Ausschnitt“

  1. Eine wunderschöne junge Frau in der schmückendsten Umgebung.
    Ich komme mir immer ein bisschen albern vor, wenn ich am Mittagstisch den Werkstudentinnen und Praktikanten von Zentralrechnern erzähle und einem einzigen Internetzugang für die ganze Agentur („Kannst du mal kurz rausgehen? Ich müsste eine E-Mail verschicken.“) Der Technikwandel legt ein Tempo hin, dass die 25-Jährigen den 20-Jährigen schon Geschichten vom Krieg erzählen können.

  2. Oh, die schwer verkäuflichen, schwierig zu lesenden mit kaum zu übertreffender Bescheidenheit auftretenden merve-Bändchen: ich habe sie in den vergangenen Wochen beinahe lückenlos katalogisiert (ab1970). Wie schön, dass es diesen Verlag noch gibt, dachte auch ich.

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