Letzte Schulzeitung ’09

Die letzte Ausgabe unserer Schulzeitschrift, der Pegasus Nr. 97, ist versandt und online. Sehr ans Herz legen möchte ich Michael Krügers Essay (S. 11).

Wir wissen (noch) nicht, wie eine literarische Kultur im Zeitalter der elektronischen Verfügbarkeit aussehen könnte, aber wir können ahnen, dass sie sich von unserer prinzipiell unterscheidet. Ob es gelingt, die juristischen und organisatorischen Fragen zu lösen, die eine «freie», demokratische Verbreitung von geistigem Eigentum gewährleisten, ist mehr als offen. Viel wichtiger aber ist die Frage, welches Menschenbild im Verlauf der rasanten Entwicklung der Technik aus dem Netz aufsteigt. Ob wir uns in ihm noch erkennen werden, bleibt abzuwarten. Es bleibt unheimlich und macht nicht froh, dass der Mensch auf vielen Gebieten einer Entwicklung hinterherläuft, die immer schneller ist als er und ihm die Bedingungen diktiert, unter denen er leben soll.

Sehr schwer ums Herz ist mir, weil wir einen Lernenden verloren haben (S. 23). Denn auch wenn sie es nicht immer glauben, wir Lehrer wünschen uns für unsere Schüler hauptsächlich eines: Zukunft.

Erinnerungen an lateinamerikanische Literatur

Ich habe meine Lehre in einer Zeit (1988-1991) gemacht, in der lateinamerikanische Autorinnen und Autoren vom Lesepublikum verlangt und deswegen von Verlagen (neu) entdeckt wurden. Der grosse Borges war damals zwar schon tot, aber ein Star und bekannt in der Schweiz, er hatte ja in Genf gelebt. Fuentes‘ Werke aus den Siebzigerjahren wurden gerade neu ins Deutsche übertragen und Cortázar gefiel nicht nur literarisch, sondern auch äusserlich, ich verkaufte in der Buchhandlung eine Postkarte mit seinem Portrait. Auch Puigs „Kuss der Spinnenfrau“ war dank der Verfilmung zum Longseller avanciert, ein Buch, das ich bis heute immer mal wieder empfehle (und dankbar bin, dass Suhrkamp eine umfassende – wenn auch bestimmt nicht rentable – Backlist führt). Neruda wurde Ende Achziger häufig zitiert, in den Medien ebenso wie auf Demos, was heute eher schwer vorstellbar ist. Galeanos historisches Werk „Die offenen Adern Lateinamerikas“ war weniger Buch als eine heilige Schrift der Intellektuellen. García Márquez war mir schon vor der Lehre ein Begriff gewesen, denn meine Mutter hatte alles von ihm und erwartete die Übersetzung seiner Neuerscheinungen jeweils mit Ungeduld. Auch Mauro de Vasconcelos kannte ich bereits, ich hatte ihn schon als Kind gelesen. Allende war im deutschsprachigen Raum mit dem „Geisterhaus“ bekannt geworden und sollte durch den Film mit Meryl Streep ja in den Neunzigern noch viel berühmter werden. Ihr Buch „Eva Luna“ war das allererste Leseexemplar, das ich von einem Vertreter bekommen habe.
Trotzdem kann ich bis heute der Handlung in lateinamerikanischen Romanen häufig schlecht folgen, es ist, als ob ich in einem riesigen, bunten Wollkorb voller Knäuel keinen greifbaren Faden fände. Das schmälert nicht meine Freude an der meisterhaften Erzählkunst der Lateinamerikaner und ich freue mich sehr auf den Ehrengast an der Buchmesse 2010. Ich höre die Lateinamerikaner alle sehr gerne reden, auch wenn ich mich meist mit Übersetzungen arragnieren muss. Lesungen und Podien mit lateinamerikanischen Autoren sind tiefgründig, hintergründig, politisch und pfiffig, ebenso ihre Interviews:
Kann der Roman als Form die Komplexität der heutigen Welt denn noch bewältigen?
Ja, denn er ist ein offenes und flexibles Genre, für alle Arten von Situationen oder Erfahrungen geeignet. Ich glaube nicht an den Niedergang des Romans. Das Problem scheint heute vielmehr, was mit dem Buch geschieht. Ist es dazu verdammt, durch Bildschirme ersetzt zu werden? Das würde unser Verständnis von Kultur nachhaltig beeinflussen.
Das ganze Gespräch mit Mario Vargas Llosa in der gestrigen NZZ.

Ging verloren / wurde vergessen

  • Ein AHV-Ausweis
  • Ein Reclam „Stella“ von Goethe
  • Ein Reclam „Romeo und Julia“ von Shakespeare
  • Eine Kapuzenjacke grau
  • Ein „New Headway Pre-Intermediate Student’s Book“
  • Ein „Texte, Themen und Strukturen“
  • Eine schwarze Strickjacke
  • Ein leerer Ordner
  • Drei Stabilo-Bosse
  • Ein ZGB, kaufmännische Studienausgabe
  • Ein Karabiner (Haken, nicht Gewehr)
  • Ein Kreuzworträtselbuch „von leicht bis schwer“
  • Ein halbvoller Kaffeebecher
  • Ein halb ausgefülltes Blatt „Conjugez les verbes au futur“
  • Ein Pack Papiertaschentücher
  • Eine Lieblingsjeansjacke
  • Nur heute… Nicht dabei ist alles Verlorene, was ich mit Gefundenem zusammenbringen konnte.

    Azubis sollen überholen

    Inzwischen haben mich alle Lernenden, die ich in der Buchhandlung ausgebildet habe, entweder von Diplomen oder vom Einkommen her überholt. Sogar die Lernende, die bei mir nur eine zweijährige Bürolehre gemacht hat, was wirklich nicht gerade das Karrieresprungbrett ist. Dass mich meine Azubis überflügeln sollen, war stets mein Ziel und es gefällt mir sehr, dieses nun erreicht zu haben. In solchen Momenten bedaure ich es, dass ich „nur“ noch im schulischen Bereich ausbilde. Es ist einfach schon etwas ganz anderes, die Lernenden selber auszuwählen und täglich mit ihnen zu arbeiten.
    Gestern war ich an der Bachelor-Feier meiner ersten Lernenden, die inzwischen längst meine Freundin ist. Ich erinnere mich sehr gern an ihre Lehrzeit. Die Lehraufsichtsbehörte erteilte mir die Ausbildungsgenehmigung nur widerwillig und nahm mich und den Arbeitsplatz genau in Augenschein. Dies vor allem, weil wir beide den gleichen Jahrgang hatten (sie machte Buchhändlerin als Zweitausbildung). Diese Kontrollen und viele andere Erlebnisse haben uns sehr amüsiert – es war eine tolle Zeit und es begann gleich danach mit dem Internet eine noch tollere Zeit.
    Nun arbeiten wir schon fast fünfzehn Jahre zusammen. Sie hat jetzt den Bachelor in Informationswissenschaft gemacht und auch schon ein Buch und unser neues Bilbiografier-Lehrmittel geschrieben. Und sie unterrichtet glücklicherweise an „meiner“ Abteilung das Fach „Bibliografie und Recherche“.
    Daran denke ich, wenn mich heutige Azubis fragen, ob es ein Vor- oder ein Nachteil sei, mit den Vorgesetzten aus der Lehrzeit weiter zusammen zu arbeiten. Ich glaube, wer sich wohl fühlt, muss nicht weg von der ehemaligen Lehrmeisterin oder dem ehemaligen Lehrmeister. Man kann sich auch neben denen ganz gut entwickeln.

    Kollegialität bei Spickzetteln

    Ich schätze und sammle Spickzettel und freue mich über Gleichgesinnte. Ich weiss eingermassen mit der Spickerei umzugehen und kann einschätzen, wie erfolgreich oder -los ich und meine Schülerinnen und Schüler im Spick-Metier sind. Kurz: Meine diesbezüglichen Herausforderungen halten sich im Rahmen. Zum Glück muss ich fast nur am Anfang und am Ende der Lehre ein paar spickbare Begriffe vermitteln, der Rest sind entweder offene Fragen oder Open-Book-Tests.
    Obwohl die Spick-Problematik bei mir nicht drängt, treibt mich neuerdings eine kollegiale Frage um: Verlagt es das Kollegialitätsprinzip, andere Lehrpersonen zu informieren, wenn bei ihnen gespickt wird? Da ich ständig die Schulzimmer aufräume und immer gern nach Spickzetteln suche, finde ich auch. (Wenn möglich archiviere ich sie, aber oft sind sie fix, also irgendwo aufgekritzelt.)
    Nicht erwischt worden? Dann ist’s eben so – ist meine Meinung.
    Nun habe ich diese Woche wieder einmal ein paar Spickzettel aus Tests im Fach Wirtschaft und Rechnungswesen entdeckt, die auf Buchplakate, welche wir in unseren Schulzimmern aufhängen, aufgemalt waren. Die habe ich – eher zum Amüsement – einer Kollegin gezeigt. Sie fand es selbstverständlich, dass ich nun alle Kolleginnen und Kollegen über diese Gefahr informieren müsse.
    Unkollegial möcht ich gar nicht sein. Aber ich kann unmöglich alle informieren. Es gibt viel zu viele pfiffige Ideen für Spickzettel! Der Mensch in einer Schule lernt weder für den Lehrer noch fürs Leben, sondern für eine akzeptable Note! Für die Promotion! Das eidgenössiche Fähigkeitszeugnis! Der Mensch ist rational, der Mensch in der Schule ist nicht blöd und das ist gut so.
    Was sie irgendwo abschreiben oder nachschauen können, lernen die meisten nicht freudig auswendig. Ich glaube, ich begebe mich ab sofort auf Mission mit dieser Erkenntis. Das ist auch kollegial. Laufend über Spick-Gefahren zu informieren oder gar Spickzettel zu analysieren und Kolleginnen und Kollegen zuzuordnen übersteigt meine Möglichkeiten.
    Buchplakat mit Spickfunktion
    „Kollegialität bei Spickzetteln“ weiterlesen

    Lehrzeit war

    Altpapier sammeln, Post holen, lesen, Stempelkissen auffüllen, Verben konjugieren, auf Bleistiften kauen, Bestellungen in Bestellkästen ablegen, Reclambändchen anmalen, beleidigt sein, im VLB nachschlagen, mit Vertretern scherzen, die Buchmesse erleben, zu viel bestellen, Aigus und Graves vergessen, Vertrauen gewinnen, Buchtipps schreiben, Vorschauen alphabetisieren, Börsenblatt lesen, unverhofft einschlafen, Freunde fürs Leben finden, übergangen werden, eingestossene Einbände flach hämmern, Branchenwitze machen, wissenschaftliche Terminologie auswendig lernen, Eltern aus den Augen verlieren, mit dem Japanmesser Fingerteile abschneiden, Kohlepapier zwischen Briefbogen legen, auf der Hermes hacken, Büchertische betreuen, abstreichen, abrechnen, Postkarten zählen, Angst haben, Literaturgeschmack entdecken, gelobt werden, Müll rausbringen, einzahlen, empirische Sozialforschung verkaufen, niedergeschlagen sein, Schaufenster gestalten, Toilettenpapier auffüllen, putzen, Proben schreiben, Kleingeld beschaffen, Theater lieben lernen, früh aufstehen, Buchlaufkarten tippen, aus BZ-Kisten eine Bar bauen.
    ***
    Aufs Ganze: Der neue Pegasus.
    Auf das neue NZZ Folio: Der Lehrlingsreport.

    Berufemix: Lehrerin-Buchhändlerin

    Ich hatte schon oft Schülerinnen, die Lehrerin gewesen sind, bevor sie noch die Ausbildung im Buchhandel gemacht haben. Sie zu unterrichten ist immer ein wenig mit Bammel verbunden, weil man ja weiss, dass sie wissen, wie es sein müsste. Allerdings sind das auch die, die einem ab und zu ein positives Feed-back geben oder gar loben, wenn eine Stunde besonders gut gelungen ist.
    Ich habe neulich eine Lehrerin-Buchhändlerin getroffen, die nun seit fünf Jahren in einer Buchhandlung arbeitet (zur Häfte des Gehalts, das sie als Lehrerin verdienen könnte). Sie ist im zweiten Beruf zufriedener, weil sie „mit der Arbeit fertig ist, wenn sie die Buchhandlung verlassen hat. Keine Elterngespräche, keine Korrekturen.“
    Sie ist mir wieder eingefallen, als ich heute korrigiert habe (die schwarze Spielzeugpistole brauche ich für die Taubenvertreibung).

    Korrekturen heute

    Bei mir war die Umstellung von der Buchhandlung auf die Schule gut, weil ich eben die Arbeit selber einteilen, erstmals im Leben zu Ladenöffnungs- und Bürozeiten ein privates Telefongespräch führen und das „Das-Kind-hat-Ferien-Problem“ eingermassen lösen konnte.
    Ich sehe in beiden Arbeitssituationen gleich viel Vor- und Nachteile. Was ich aber nicht mehr zurück möchte, ist der Mix. Zehn Jahre lang jobbte ich sowohl als Buchhändlerin wie als Lehrerin, was fachlich ideal, aber organisatorisch anstrengend und pädagogisch herausfordernd war. Besonders dann, wenn ich meine Lernenden aus der Firma im Unterricht hatte, sie natürlich nie bevorzugen und benachteiligen sollte und immer höllisch aufpassen musste, dass ich sie nicht versehentlich über Prüfungsthemen vorabinformierte.

    Berufsbildung hilft

    Meine Worte, heute ausnahmsweise einmal in der NZZ am Sonntag, so richtig Schwarz auf Zeitungspapier, geschrieben von Michael Furger:

    Nichts gegen akademische Laufbahnen und schon gar nichts gegen unsere Hochschulen und ihre herausragende Forschungsleistung. Aber das Schweizer Bildungswesen ist nicht ihretwegen so erfolgreich – sondern wegen der Berufsbildung.
    Klar wird dies, wenn wir unser Bildungswesen an jener Grösse messen, an der wir es massen sollten; nicht an der Akademikerquote, sondern daran, wie die Integration der nächsten Generation in den Arbeitsmarkt gelingt. (…)
    In diesem Punkt kann der Schweiz kein Land in Europa etwas vormachen. Nirgends gelingt die Integration ins Berufsleben besser als hier. Die Arbeitslosigkeit der 15- bis 24-Jährigen beläuft sich derzeit auf 4.5 Prozent. Wegen der Krise ein hoher Wert, aber nichts im Vergleich zu unseren Nachbarn: 10 Prozent in Deutschland, 22 Prozent in Frankreich, 25 Prozent in Italien. In Finnland sind es 19 Prozent.

    Wer ahnt oder erlebt, wie oft in der Schweiz nach einer höheren Gymansialquote gerufen wird und wie häufig gerade Lehrpersonen sich die Strategien Finnlands vorführen lassen müssen, weil dort 95 Prozent – 2% (!) Migranten inklusive – das Gymansium schaffen, versteht vielleicht, weshalb ich mich morgen ein wenig aufrechter in eine neue Woche im Dienste der Berufsbildung begebe.

    Wochenrückblick

    Die Woche begann gut, die Neuen waren sehr nett und was ich bei der Planung vergessen oder unterlassen hatte (es ist immer etwas!) nicht weiter schlimm.
    Es ging auch gut weiter, nur bereute ich, im Voraus Termine vereinbart zu haben. In der ersten Schulwoche ist es nämlich so, dass so viele neue Termine ganz von allein auf mich zukommen, dass ich es kaum noch bewältigen kann, wenn schon welche da sind. Ich träume dann davon und weiss morgens kaum noch, welcher Tag gerade ist, geschweige denn, wer mich was gefragt hat. Note to myself: Agenda in der ersten Schulwoche leer lassen. (Ausser Unterricht natürlich.)
    Auch das Kind hat gut angefangen, es ist mit Klasse und Lehrern sehr zufrieden und endlos erleichtert, dass es den Mathematiklehrer versteht und der Geschichtslehrer wirklich und wahrhaftlich Geschichte und nicht (wie der vorherige Geschichtslehrer) vorwiegend Physik lehrt. „Kann man ohne Geschichtsunterricht leben?“, habe er rhetorisch gefragt und sich die Frage auch gleich mit „Ja.“ beantwortet. „Kann man ohne Geschichte leben?“ habe er danach gefragt und auch diese Frage gleich selbst beantwortet, aber mit „Nein. Jeder möchte seinen Geburtstag kennen, jeder will wissen, wer seine Eltern sind.“
    A propos Geschichte. Ich musste diese Woche häufig an Shalom Auslander denken, den Autoren von „Eine Vorhaut klagt an“. (Habe ich schon gesagt, dass dieses Buch unbedingt gelesen werden sollte? Dass es Balsam für die verlorenen Seelen sämtlicher nicht religiöser Menschen sei? Falls nicht, tue ich es hiermit. Gebunden und als Hörbuch(Download) erhältlich und das Taschenbuch erscheint nächsten März.)
    Eben, an Auslander habe ich mich erinnert, weil er sich von seiner frommen New Yorker Familie nach Woodstock abgesetzt hat. Zitat aus Eine Vorhaut klagt an, S. 294:

    Woodstock ist ein blühendes Touristenstädtchen, das auf der ganzen Welt für etwas bekannt ist, das dort eigentlich gar nicht stattgefunden hat; das berühmte Musikfestival war in Bethel, einem nichtblühenden Städtchen, das für etwas, das dort stattgefunden hat, nirgendwo berühmt ist.
    Die Bilder geben nicht den tatsächlichen Inhalt wieder.
    [Hier zitiert der Autor, was er als Junge auf den Pornovideos gelesen hatte, sic.]

    Obwohl mich das Thema Woodstock als Event nur bedingt interessiert – den Film habe ich einmal gesehen, die Musik gehört aber zu meinem Leben – habe ich heute im Feuilleton meiner Tageszeitung gelesen, dass es ein neues Museum gebe, welches der von Auslander erwähnten Tatsache Rechnung trage: Das BethelWoodsCenter. (Ich freue mich aber sehr auf den Film von Ang Lee „Taking Woodstock“. Wenn jemand, dann hat Lee das Zeug dazu, aus dem Mythos eine brauchbare Geschichte zu machen.)