Im zweiten Lehrjahr vermittle ich das Gigantenthema „Neuerscheinungen“. Da gehört Medienkritik natürlich auch dazu. Heute haben wir den letzten Literaturclub angesehen.
Die Lernenden sind oft sehr jung und schauen erst auf ein kurzes Leseleben zurück. Sie verkaufen neben den Romanen, die in Feuilletons rezensiert werden, sehr viel anderes wie Fantasy-Serien, Non-books (Lillifee), Lebenshilfe, Kochbücher und Reiseführer.
Heidenreich ist für sie einigermassen unterhaltsam, aber den Literaturclub halten die meisten für zu abgehoben. Deshalb ist es eine kleine Herausforderung, ihre Aufmerksamkeit eine ganze Sendung lang zu halten. Einzig konkrete Beobachtungsaufgaben wie „ist die Redezeit fair verteilt?“ können das Einnicken verhindern.
Im erwähnten Literatruclub wurden besprochen:
– Imre Kertész, «Dossier K.», Eine Ermittlung (von Gabriele von Arnim)
– Joachim Fest, «Ich nicht» (von Iris Radisch)
– Philip Roth, «Jedermann» (von Stefan Zweifel)
– John Berger, «Hier, wo wir uns begegnen» (von Peter Hamm)
Die Beteiligung an der anschliessenden Diskussion war freiwillig. Das Gespräch bewegte sich in einem lebhaften, gut moderierbaren Rahmen. Etwa ein Drittel der Klasse nahm aktiv teil, ein Drittel hörte aktiv zu, ein Drittel schien weniger interessiert. Bis eine Schülerin eine entscheidende Feststellung machte:
Ich mag es nicht, wie mich dieses Weltkriegsthema abstösst. Wenn ein Buch nur im Entferntesten damit zu tun hat, lese ich es auf keinen Fall, im Gegenteil, ich weise es weit von mir.
Es war ein Wespennest, in welches sie gestochen hatte, es meldeten sich plötzlich Schülerinnen, die sonst kein Wort aus eigenem Antrieb sagen und es schlug mir ein Überdruss an Vergangenheitsbewältigung, am ganzen Thema Juden und Nazis, am Leiden der andern und an Problemliteratur generell entgegen.
Mir fiel nichts ein, als überrumpelt zuzugeben, dass mich das provoziere. Dass mich das provoziere, weil es mir einen Spiegel vorhalte in dem ich nichts anderes sehe als mein Versagen und dahinter das Versagen aller anderen Schulen, die sie je besucht hätten. Dass mich das provoziere, weil ich in dieser Ablehnung die Gefahr sähe, Verwischung und Leugnung historischer Fakten Tür und Tor zu öffnen.
Was ich bei intimen, dreisten Fragen problemlos kann, nämlich reagieren, als hätte man sich nach der nächsten Klassenarbeit erkundigt, konnte ich hier nicht. Aber immerhin war meine Strategie nicht gänzlich falsch. Ich konnte die Stunden gut beenden. „Gut“ bedeutet für mich, ohne dass ich eine mir unerträgliche Aussage habe stehen lassen müssen. Wie zum Beispiel: „Das muss man doch einfach irgend einmal vergessen können.“
Danach waren ich und das Zimmer frei und erstaunlicherweise wollten drei Schülerinnen mit mir weiter reden. Das folgende Gespräch wurde für mich sehr aufschlussreich. Ich habe mir einige Erkenntnisse daraus notiert und natürlich ist mir bewusst, dass eine Diskussion mit drei anderen Schülerinnen vermutliche andere Ergebnisse ans Licht gebracht hätte. Dennoch:
Ich verstehe die notierten als wenige von vielen Gründen, weshalb Schülerinnen und Schüler uns provokative Fragen stellen, uns oft auch unbewusst mit Bemerkungen oder gar Aktionen herausfordern und sich teilweise der Kriegs- und Nachkriegsliteratur schlicht verweigern. Ich versuche damit zu leben, ich bin ja nicht die einzige.
Wir Eltern und Lehrpersonen haben es – verallgemeinert gesprochen – nicht geschafft zu vermitteln, dass jeder ein Teil der Geschichte ist. Wir argumentieren mit Moral, während Jugendliche nach Unterstützung suchen, um die Bedeutsamkeit dieser Zäsur europäischer Geschichte für sich selber zu entdecken. Hundertmal mit der „Welle“ zu beweisen, dass jeder zum Faschisten werden kann, ist vielleicht nicht mehr der Ansatz des 21. Jahrhunderts.
Doch es gibt die seltenen Situationen, da perlen alle Bedenken von mir ab und ich reagiere unzensuriert und ohne je zu erfahren, ob es richtig oder falsch war. Zu einer solchen Situation habe ich Notizen eines Gespräches mit einer Schülerin aus dem Jahre 2001 gefunden, die ich hier sinngemäss und verkürzt wiedergebe, weil sie inzwischen unleserlich geworden sind. (Weblogs sind wahrlich ein Segen.)
Schülerin:
Warum immer die Juden zuerst? Warum immer und immer wieder ihre Literatur? Seit Jahren immer nur Juden, Juden, Juden! Warum nicht die Zigeuner oder die Armenier oder die Schwulen?
Ich:
Genau! Warum immer die Juden? Warum den Juden die Schuld dafür in die Schuhe schieben, dass die Zigeuner und die Armenier und Schwulen weniger oder schlechter über ihre Verfolgung und Vernichtung schreiben? Das ist eine wichtige und alltägliche Frage. Suchen wir beide bis nächste Woche eine Antwort. Dann sehen wir weiter.
Ich erinnere mich an die Woche danach. Die Schülerin ist mir ausgewichen und ich habe sie nicht mehr darauf angesprochen. Heute würde ich es tun.
„Man darf nicht, man darf niemals vergessen!“ – „Das muss man doch einfach irgend mal vergessen können.“ Eine schwierige Gratwanderung – beides ist wohl gleichermassen richtig wie falsch. Ich kann einen gewissen Überdruss bei gewissen Themen sehr wohl nachvollziehen, ergeht es mir doch (als nicht mehr ganz sooo Jugendlichem) manchmal haargenau gleich. Und zwar passiert das oft genau dort, wo ich mich nicht entziehen kann, wo ein Abhängigkeitsverhältnis besteht (Lehrer/Schüler, Zeitung/Abonnent, etc). Bei Büchern habe ich immerhin die Wahl, ob ich mich mit einer bestimmten Thematik beschäftigen will oder nicht.
Den Ruf nach „Vergessen“ empfinde ich inzwischen nicht mehr nur als Provokation, gar als „unerträglich“ – sondern durchaus auch als berechtigt, zumindest gleichberechtigt (Jugendlichkeit hin oder her). Besonders dort, wo die Vergangenheit als Rechtfertigung für kriegerische Auseinandersetzungen dient – siehe Naher Osten, Nordirland, Balkan – wünschte ich mir oft sehnlichst, dass die Menschen (sollte ich wohl eher sagen: die Regierungen? die Politiker?) über ihren Schatten springen, die Vergangenheit vergessen, ja, v-e-r-g-e-s-s-e-n! könnten. Das Nicht-vergessen-können von alten Streitereien, von begangenen Ungerechtigkeiten ist oft der Hauptgrund, der einen Frieden verunmöglicht. Im Kosovo herrscht zwar oberflächlich besehen Ruhe – doch unter der Oberfläche brodelt es weiter, weil die Vergangenheit zu tief sitzt; weil man nicht vergessen kann… In Nordirland dasselbe. Ein Funke, und die Vergangenheit ist wieder Gegenwart…
Dass es verschiedene Arten der Vergangenheitsbewältigung gibt, war dieses Jahr wieder anschaulich mitzuverfolgen: z.B. Dresden noch und noch, Gedenkfeierlichkeiten, die Medien voll, etc – Coventry: null; nichts (haben Sie etwas von Coventry gehört?!) Gehen die Briten anders mit ihrer Vergangenheit um? Und ist das nun besser oder schlechter? Oder gar unerträglich?
(Ist alles ein bisschen oberflächlich, ich weiss – trotzdem; musst’ ich grad schnell loswerden…)
Ich hatte letzthin eine ähnliche Auseinandersetzung in einem Weblog. Allerdings lautete meine These eher, daß es in der jüngeren Generation eine Geschichtsverweigerung gibt. Diese bezieht sich nicht ausschließlich auf das Naziregime, wohl aber auf noch naheliegende Phasen der Zeitgeschichte. Geschichte als eine Art Fantasyroman – von Der Päpstin bis hin zu Historienkrimis – liegen ja eher im Trend.
Auch meine Überzeugung ist, daß Geschichte Gegenwart und Zukunft unausweichlich prägt, daß also die Kenntnis geschichtlicher Abläufe und Zusammenhänge dazu beitragen kann, die Gegenwart zu analysieren und in ihrer Komplexität einzuordnen.
Es mag sein, daß Individuen vergessen / verdrängen wollen und können, doch wird das historische Gedächtnis eines Volkes, einer Region nie vollends ausgelöscht werden. So sind etwa die Konflikte in Afghanistan, Irak, Indien und Pakistan direkte Folgen des Kolonialismus des 19. / 20. Jahrhunderts, auch wenn sie heutzutage unter anderen Vorzeichen geführt werden.
Deutschland hat ja das zweifelhafte Prädikat, an allen Völkermorden des 20. Jahrhunderts maßgeblich beteiligt zu sein – beim Hereroaufstand, bei der Verfolgung der Armenier durch die Jungtürken, bei den Sinti und Roma und den Juden. (Und die systematische Vernichtung /Sterilisation von Behinderten und Homosexuellen sei dabei nicht ganz vergessen). Somit ergäben sich zwangsläufig immer Bezüge zur – deutschen – Gegenwart und zur eigenen Haltung. Und immer stellt sich m.E. die Frage, wie wäre das heute oder morgen, denn Akteur war eine scheinbar aufgeklärte, industrialisierte Gesellschaft, sodaß der vermeintliche Ausweg der Schülerin letztendlich kein wirklicher war, keiner sein konnte.
Bei mir stehen auch die Romane Ledigs auf der Leseliste, drei sind es, die sich mit dem Ende des Weltkrieges beschäftigen. In der Gesellschaft wurden das Flächenbombardement und die Vertreibung am Ende des 2. Weltkrieges bislang zu wenig historisch aufgearbeitet, scheint mir, und alles, was da jetzt passiert, kommt mir meistens so vor, sich – als Deutsche – endlich in eine Opferrolle begeben zu können, um die Täterschaft in den Hintergrund drängen zu können. Auch ich habe über Coventry relativ wenig mitbekommen, denke aber, daß die Briten für sich in Anspruch nehmen (können), nicht nur Opfer des Bombardements zu sein, sondern genau in dieser Zeit und unter der Ägide des Königshauses und der Regierung ein eigenes Selbstbewußtsein und einen unvergleichlichen Zusammenhalt geschaffen zu haben, sodaß jede Larmoyanz von vornherein überflüssig ist. Gedacht aber werden sie dieser Zeit schon haben.
Ich denke, unsere Zeit bestimmt sich mehr durch das Haben (wollen) als durch das Sein, um Erich Fromm mehr oder minder geschickt einfließen zu lassen. 😉 Haben ist gegenwartsorientiert, geschichtsunabhängig und nur sehr lose mit einem umfänglichen Bildungsbegriff verknüpft. Mag sein, das ist das Manko der jüngeren Generationen, zumal derzeit auch die Utopie der Veränderung fehlt, sodaß die herrschenden Gegebenheiten eine Art Absolutheit erlangt haben. Ein amerikanischer, eher rechtskonservativer Wissenschaftler schrieb am Ende des Kalten Kriefes ein – etwas voreiliges – Buch über das „Ende der Geschichte“ (und hat sich imho massiv geirrt, denn gerade werden die Grundlagen für das 21. und 22. Jahrhundert gelegt, indem sich die USA, aber auch China für die Zukunft positionieren, wirtschaftlich, militärisch und politisch, gerade werden die Zukunftschancen politischer (und religiöser) Systeme abgewogen und vermutlich im Laufe der kommenden Jahre adjustiert.
Ich bin übrigens der festen Überzeugung, mögen Individuen das Recht auf – individuelle – Geschichtsverweigerung haben (so gerne ich sie ihnen absprechen möchte), BuchhänderInnen haben sie als Kulturvermittler nur sehr begrenzt, mindestens solange nicht, wie die Geschehnisse der jüngeren Geschichte noch durch Opfer, Täter und deren engere Angehörige im Wortsinne präsent sind, vermutlich aber viel länger, da die Literatur, die sich mit dem Dritten Reich beschäftigt, mit Exil, Judenvernichtung, Weltkrieg eine prägende Epoche deutschsprachiger (und internationaler) Literatur geworden ist, sodaß sie in der historischen Rückschau vermutlich nie übergangen werden kann. (Sorry für dieses lange Statement.) LG rollblau
Ich bin 53 Jahre alt. Unser Sohn 16. Ich bin in der 68er Zeit aufgewachsen, als gerade dieses oben von allen beschriebene Geschichtsbewusstsein neu erwacht ist, gegen die Eltern-Generation, die alles mit Nazis und Antisemitismus verdrängt haben (meine Schwiegereltern kommen aus Bayern, ich kann heute noch ein Lied davon singen!!).
Unser Sohn wächst in einer Zeit auf, in der der Common Sense lautet: Vergessen, verdrängen, geniessen hier und jetzt, fun, fun, fun. Er geht aufs Gymnasium, und ich denke, es ist kein schlechtes Gymnasium, ein Gymnasium, das gewisse Grundwerte auch und immer noch mitvermitteln will. Ich denke auch, dass wir als Eltern dies immer wieder im Gespräch versuchen, und dies auch als „Altlinke“ immer noch ausstrahlen.
Trotzdem: ich sehe, wie der Sog dieser Spass- und Genussgesellschaft unaufhörlich an unserm Sohn saugt. Die Spässchen, die sich diese 16Jährigen Jungs machen und leisten, finden wir nicht lustig, aber sie schon, sie sind immer haarscharf auf der Grenze zu Rassismus, Sexismus und Menschenverachtung. Man kann alles von Internet runterladen. Tag und Nacht. Spass muss sein.
Ich bin mit allem einverstanden, was oben geschrieben steht. Aber als Vater stehe ich einer Konsum- und Unterhaltungsmist-Realität gegenüber, die mich unendlich zornig und manchmal sprachlos macht.
Es bleibt uns nur, ständig im Zwie- und Streitgespräch mit unserm Sohn zu bleiben und nicht aufzugeben, für eine Wertskala einzutreten, zu der auch das Bewusstsein von Geschichte und der Schuld und Schuldigkeiten in der menschlichen Geschichte steht. Beat
@Beat: In einer Zeit wie dieser, in welcher sich die Generationen kaum mehr unterscheiden (Musik, Kleidung, Haare – die Alten werden immer „jünger“), bleibt in der Adoleszenz praktisch nur das Ausweichen auf die Gebiete von Rassismus, Sexismus, Menschenverachtung. Ich finde nicht unbedingt, dass das nur „Spass“ ist. Damit – fast NUR noch damit – können sie sich abgrenzen; damit „können“ sie uns noch, und zwar heftig. Mit Musik z.B. geht das nicht mehr… Das ewige Spiel der Ablösung, Abgrenzung, verschoben ins Jahr 2000. Dabei haben „wir Altlinken“ mal gedacht: „Wir“ machen das anders; „wir“ machen das besser; „wir“ reformieren die Gesellschaft von unten, und gründlich. Und jetzt DAS. Ein interessantes Phänomen. Und was machen „wir“ jetzt?! Es bleibt wohl tatsächlich nur, was B. am Schluss zusammenfasst: Nicht aufgeben, auch wenn’s Energien aufbraucht, die „wir“ eigentlich für etwas anderes aufsparen wollten…
ok – 2006, nicht 2000. Ändert nichts an der beabsichtigten Aussage 🙂
In der Schule bestimmte Inhalte zur Kenntnis nehmen zu müssen und darauf mit Verweigerung, Überdruss oder schlichter Langeweile zu reagieren, ist eine Erfahrung, die – so vermute ich – jeder Lernende schon einmal gemacht hat. Ob es dabei um den Zitronensäurezyklus, Kurvendiskussion, Nachkriegsliteratur oder historische Themen geht, ist vermutlich recht unerheblich: wenn wir wollen, dass zum Beispiel das Thema Judenverfolgung in der Schule behandelt wird, setzen wir es der Gefahr aus, dass es die selben Reaktionen erleidet wie jedes andere Thema. Und hier zu insistieren, es dürfe genau hier keine negativen Reaktionen geben, verstärkt diese kurzfristig vermutlich eher. (Das heißt aber noch lange nicht, dass nicht auch etwas ankommt bei den Schülerinnen und Schülern.)
Gleichwohl gilt es immer wieder neu zu überdenken, ob unsere Methoden (und insbesondere die zuweilen unüberlegt anmutenden der Geschichtslehrerinnen und -lehrer) die richtigen sind: in Unterrichtsstunden in vermeintlich aufklärerischer Absicht unreflektiert ein Video historischer Aufnahmen von Leichenbergen zu zeigen, kann eben nicht erwünschte Reaktionen zeitigen. Wer sich hiervon aber überrascht zeigt, ist naiv.
Sich in gezwungenen Zusammenhängen (und Unterricht ist ein solcher) nicht mit bestimmten Themen beschäftigen zu wollen, ist noch lange nicht immer einfach Geschichtsverweigerung, sondern vielleicht auch nur eine sehr berechtigte Reaktion, der durchaus auch persönliche Betroffenheit zugrunde liegen kann.
a.more.s: Einverstanden, das mit den Nicht-Unterschieden der Generationen.
Aber mich erschreckt trotzdem dieser „Unterhaltungs-Spass-Faschismus“, der ja perfekt dazu dient, zu verdrängen und zu vergessen, der das meiste an der Oberfläche lässt, und niemanden – bzw. vor allem den Lernenden jeglicher Couleur – mehr zwingt, genauer hin zu schauen, zu reflektieren, eine gewisse Denkarbeit zu leisten.
Bei Zygmunt Bauman habe ich gelesen, dass der Konsumismus ein perfekter Machtmechanismus ist, der ausgegrenzt, der diejenigen zu Parias macht, die nicht daran teilhaben (können oder wollen), der die „Gesetze“ des Kapitalismus zementiert unter der Fahne der „Freiheit“ (der Freiheit zu konsumieren, der Wahlfreiheit, sich x-welche Güter anzuschaffen und diese nach einer gewissen Zeit wieder der Vernichtung zuzuführen).
In diesem Sinne greift es zu kurz, nur auf die fehlenden Generationen-Unterschiede zurück zu greifen. Ich finde es erschreckend, wie die Jugendlichen heute die Welt wahrnehmen bzw. wahrnehmen müssen angesichts diesen konsumistischen Verwüstungen des Bewusstseins und des Nervensystems. Ich denke, dass bei einem Teil der Jugendlichen Wahrnehmungs-Störungen auftreten und auftreten werden, wenn gewisse Regulative der Gesellschaft, d.h. Wertskalen, Bewusstsein, weg fallen.
Rollblau, dich für dein langes Statement zu entschuldigen ist völlig fehl – denn es enthält alles, was ich sonst (viel komplizierter) geschrieben hätte. Zu der Literatur, die Deutsche als Opfer beschreibt, kann ich nur sagen, dass es wie immer gute und schlechte gibt. Aber so, wie es dir vorkommt, ist es in der Guten nicht. Als Grass‘ „Krebsgang“ kaum ab der Druckerei war, fürchtete das Feuilleton schon, die Deutschen möchten sich nun hinter der versenkten Gustloff verschanzen. Mag sein, dass das Thema einigen zupass kam, aber im Buch habe ich nichts, aber keine einzige Zwischenzeile gelesen, die mich solches hat folgern lassen.
Ich möchte noch etwas präzisieren:
Die ursprüngliche Feststellung – also der Auslöser – der Schülerin hatte überhaupt nichts Aggressives. Ich habe mir nicht lange aber gut überlegt, ob ich das Wort „provozieren“ benützen soll, denn wenn man sich nicht genau erklärt, verbreitet es einfach nur Schuld im Klassenzimmer.
a.more.s, ich muss ein wenig ausholen: Ich unterscheide beim Unterricht drei Ebenen, auf denen ich reagiere. Die persönliche, die pädagogische und die fachliche Ebene.
Das Lernklima ist heute, aus den von Beat genannten Gründen, ausgesprochen wichtig und es ist eine der grösseren Herausforderungen, sich dieser drei „Outputs“ bewusst zu sein.
Es gibt Bemerkungen, die lasse ich aus persönlichen Gründen nicht im Klassenraum stehen, weil sie mich enervieren. Dann gibt es Bemerkungen, die darf ich aus pädagogischen Gründen nicht stehen lassen, weil sie die Entwicklung einzelner oder aller Lernenden gefährden, z.B. „Pariser schützen nicht vor Aids“. Und dann gibt es Bemerkungen, die kann ich aus fachlichen Gründen nicht stehen lassen. Das mit dem „Vergessen“ des 2. Weltkriegs, wobei oft explizit die Judenverfolgung gemeint ist, kann ich auf allen drei Ebenen nicht stehen lassen – das heisst aber nicht, dass ich das Bedürfnis per se verdamme. Aber es ist keine Opiton. In meinem Unterricht – zu welchem die Buchhandelsgeschichte gehört – wird glasklar, dass unser Beruf auf „Betriebsunfällen“ gründet, (um es mit Imre Kertész zu sagen, der sich sogar selber so nennt). Beabsichtigt war die Vernichtung der Bücher, der Autoren, der Verlage, der Verleger und der Gedanken, die Bücher möglich machen. Beabsichtigt war Tod der deutschen Literatur und dieses Bewusstsein ist – oder wird mit der Zeit und dem Leseleben – einfach Teil des Berufes.
Und nun könnte ich unendlich bei rollblaus Argument weiterfahren, dass eines aus dem anderen folgt – weil das nicht nur aus historischer Sicht richtig, sondern auch aus neurologischer Perspektive wichtig ist. Lernen heisst anknüpfen.
Ich meinte nicht unbedingt die Literatur, eher das jetzt aufgekommene Gedenken an Vertreibung und Bombardement von Großstädten. Etwa die Vertriebenenausstellung, die zu Verstimmungen zwischen der BRD und Polen geführt hat (wobei man aber auch ins Kalkül ziehen muß /sollte, daß die ponische Führung unter den Zwillingsbrüdern da durchaus noch ihr eigenes Süppchen kocht. Aber „Dresden“ sehe ich lieber von Kurt Vonnegut im „Schlachthof 5“ behandelt, vielleicht auch noch von Hermann Kant, als von den heimlichen Verfechtern der Nivellierung. Ich habe ein etwas gespaltenes Verhältnis zur deutschen Nation, denn ich bin körperbehindert und sehe mich immer als mögliches Opfer des damaligen Regimes. Kulturell, sprachlich und im Bezug auf unsere Verfassung, soweit sie nicht inzwischen in einigen Bereichen (Asylrecht, infomationelle Selbstbestimmung und Datengeheimnis) ausgehöhlt worden ist, definiere und empfinde ich mich aber durchaus als Deutscher. LG rollblau
Lieber Rollblau – ich habe dich richtig verstanden und teile deine Meinung, die sich übrigens sehr gut auf die im Flüchltlingswesen damals wie heute unrühmliche Schweiz übertragen lässt. Wir haben eine Theaterreihe „Aua, wir leben“, die das Thema regelmässig aufnimmt und das sehr gut – ohne dass sich jemand zurücklehnen kann aber auch ohne alle mit Schuld zu überhäufen. (Die Zwillingsbrüder aus Polen sind übrigens meine erklärten Feinde, aber das ist ein anderes, übles Thema.)
Etwas anderes:
Leider hat sich bis jetzt niemand aufgerafft, über die Rolle der Buchmenschen im Europa des 20. Jahrhundert zu schreiben. Überleben heisst ja stets auch Kollaborieren, ABER: die Buchleute haben sich sehr gut gehalten, oft widerstanden, noch öfter Risiken auf sich genommen um Literatur zu verbreiten, gerade in den Diktaturen hinter dem eisernen Vorhang. Es wäre angebracht, endlich ein Buch darüber zu machen, momentan muss man sich alles mühsam aus Biografien und Romanen zusammensuchen. Hätte ich Macht und Geld, würde ich dich damit beauftragen, denn ein Schnellschuss dürfte es nicht werden. Wer weiss, ob mal ein Verleger zuhört und so etwas anreissen mag. Ich denke, es wäre ein Job für unsere Generation Buchhändler, die nachkommende hat die Zusammenhänge nicht mehr, weil sie die DDR nicht mehr bewusst mitberkommen haben, was man ihnen wirklich nicht verübeln kann.
Mich ??? Ich glaub, da fehlen mir denn doch etliche Fremdsprachenkenntnisse… Denn gerade der Teil über den Kalten Krieg würde von Interviews und Dokumenten noch vorhandener Zeitzeugen leben. Sich etwas aus Büchern und Romanen zusammenzusuchen, wäre etwas arg oberflächlich, vermute ich, da ja nur „prominente“ Autoren in unser Blickfeld geraten, unbekanntere schon viel weniger, der Untergrund an Druckern, Verlegern und Verteilern (Samisdat) schon mal gar nicht. Und selbst die faschistischen Diktaturen und ihre Marionettenregierungen waren ja europaweit verteilt… 😉 Aber es ehrt mich. 🙂 LG rollblau
Ja, eben, weil es jetzt zu oberflächlich ist, müsste man mal darauf forschen . Das wäre ein Projekt der Buchhandelsverbände Europas. Und schlussendlich müsste das jemand in Form bringen, ich würde dann dich vorschlagen, aber vielleicht wärst du auch nur der Heruasgeber, der die ganze Kongruenzprüfung macht 🙂 Da wir es aber nicht einmal zuwege bringen, eine europäische Konkurrenz zu Google-Book-Search auf die Beine zu stellen, ist es vielleicht doch etwas gar illusorisch. Macht nix. Behalten wir im Hinterkopf.
Noch ein Nachtrag zum Thema Vergessen und Bewältigen:
Gestern sah ich im SF DRS das Gespräch zwischen Roger de Weck und Henryk M. Broder über sein neues Buch zum Thema Islam.
Broder, der 1946 geboren aus einer jüdisch-polnischen Familie stammt, mit der er anfangs 50-er Jahre in Köln landete, sagte, dass er es als Kind absolut satt hatte über die Nazizeit und den Antisemitismus zu reden, weil seine Eltern aus verständlichen Gründen nur davon redeten…
Das sagt doch auch viel aus…
Immerhin haben wir das Literaturclub-„Problem“ für eine Weile gelöst, im Dezember gibt es nämlich KEINEN, weil der Sponsor Orell Füssli keinen Termin mit der Moderatorin finden konnte. Ist ja auch nicht so ein wichtiger Monat für Buchempfehlungen.
Wäre dieses Statement keine Ironie, könnte man es Sarkasmus nennen. Oder umgekehrt ? 😉 LG rollblau