Als ich zwanzig war

Als ich zwanzig war, war es so kalt, dass der Zürichsee gefroren war.
Als ich zwanzig war, schrieb ich meinen Matura-Aufsatz über Kräfte, die jenseits von Politik und Wissenschaft unser Leben bestimmen. Ich schrieb vor allem über die Phantasie.
Als ich zwanzig war, durfte ich zum erstenmal abstimmen. In meinem Primarschulhaus betrat man eine Wahlkabine, konnte dort seinen Stimmzettel mit „Ja“ oder „Nein“ beschriften und ihn nachher in die Urne werfen. Ich weiss nicht mehr, wozu ich damals Ja oder Nein gesagt habe. Stimmen durften, als ich zwanzig war, nur die Männer.
Als ich zwanzig war, gab es an der Universität so viele Studenten, dass man für die Vorlesungen des berühmten Germanistikprofessors Platzkarten lösen musste. Etwa 700 andere studierten auch Germanistik. Mindestens die Hälfte davon waren Frauen. Darunter, dachte ich, müsste auch eine für mich sein. Ich hatte Recht.

aus:
Franz Hohler
Das Ende eines ganz normalen Tages

2 Gedanken zu „Als ich zwanzig war“

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