Treue Buchtipp-Leserinnen und Leser wissen es:
Ich mag Reich-Ranicki. Selbst im Ärger über seine Äusserungen verehre ich ihn. Ich bin überzeugt, dass keine und keiner ihm das Wasser reichen kann punkto Qualitätssicherung in der deutschen Literatur. Und dass er verdammt viel beträgt zum Geschichts- und Generationenverständnis. Ein deutsch-polnischer Jude, der sich nach Krieg, Verfolgung und Vernichtung der Familie nichts mehr wünschte als die Rückkehr zur deutschen Sprache.
Man kann nicht über Deutschland allgemein sprechen, auch nicht über die Deutschen, sondern muss von den verschiedenen Generationen reden: Für die Jüngeren spielt die Frage, ob es 1945 eine Befreiung oder einen Zusammenbruch gab, keine Rolle – für die ist der Krieg so weit weg wie für mich in meiner Jugend der deutsch-französische Krieg von 1870/71. Die Generation derjenigen, die den Krieg mitgemacht haben und heute über achtzig sind, hat den 8./9. Mai 1945 nicht als Tag der Befreiung, sondern als Zusammenbruch erlebt. Alles andere ist eine unzulässige, wenn nicht verlogene Beschönigung.
[Quelle: SPIEGEL online heute. MRR wird am 2. Juni 85 Jahre alt.]