Vorbereitet war ich an diesem Abstimmungssonntag auf 51%. Nach den niederschmetternden Entscheidungen der letzten zehn Jahre rechnete ich eher bei den Befürwortern der Durchsetzungsinitiative damit. Letzte Woche hatte ich bereits überlegt, wie ich anhand von Umberto Ecos hellsichtigem Essay „Urfaschismus“ den peinigenden Schweizer Entscheid hier erklären könnte. Das bleibt mir nun glücklicherweise erspart.
Ich hatte seitens unserer Lernenden einige Zeichen vernommen, die mich hoffnungsvoll hätten stimmen können. Es wurden Plakate geklebt, Autoren zitiert, es war viel Engagement und Herzblut zu spüren. Aber auch eine gute Informationspolitik der Jugendlichen untereinander konnte ich beobachten. Inhaltlich ebenso wie logistisch. Und darauf kam es an! Aktivistinnen, die am Tag, an dem man spätestens das Abstimmungscouvert einwerfen musste, originelle Online-Mobilisierung machten oder solche, die danach unermüdlich die Öffnungszeiten der Wahllokale pro Gemeinde posteten, sind schwer an diesem Sieg beteiligt.
Denn der Graben in der Schweiz verläuft unter anderem zwischen denen, die sich bewegen und denen, die an Ort verharren. Und das meine ich durchaus wörtlich. Mein Grossvater (ein finanziell armer Mann vom Lande ohne jegliche Privilegien, verstorben mit einem Minus von CHF 00.85) warnte uns nicht vor Räubern und Mördern, sondern vor Leuten, die immer durch das „gleiche Loch abscheissen“. Fortkommen bestand für ihn auch aus der räumlichen Bewegung, und sei es mit dem geliehen Velo ohne Gangschaltung. Menschen in Bewegung waren vertrauenswürdiger. Unter denen mit Jahrgang 1911 war mein Grossvater mit seinen Mobilitätsratschlägen wohl eher die Ausnahme, aber die Entwicklung gab ihm Recht.
Heute sind mindestens die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer ständig unterwegs. Abstimmen jedoch ist für die andere Hälfte einfacher. Für Mitglieder von Patchworkfamilien, Mitarbeitende internationaler Konzerne, pendelnde Azubis und Reisende alles Art braucht die Beteiligung an unseren häufigen Wahlen und Abstimmungen ein Quantum Disziplin. Sie müssen ihr Couvert an der einen Adresse, an der sie offiziell gemeldet sind, aus dem Briefkasten holen, die Unterlagen geordnet nach Gemeinde-, Kantons- und eidgenössischer Ebene rechtzeitig ausfüllen und alles bis zu einem spätesten Termin innerhalb der Schweizer Grenze einwerfen (frankiert). Oder sie müssen zu den vorgegebenen Öffnungszeiten am Abstimmungswochenende in der Gemeinde, in der sie stimmberechtigt sind, ins Stimm-, bzw. Wahllokal.
Auf diesen Umstand muss man – wie dieses Mal geschehen – eingehen. Drum mischt in jeder guten Kampagne auch der Teufel im Detail mit.
Ich musste an Sie denken, gestern. Einmal während der Abstimmung, dann als das vorläufige Ergebnis bekannt gegeben wurde.
Ja, auch hier im Lande stehen Abstimmungen an. Mal sehen …
Danke sehr fürs An-mich-Denken. Den Abstimmungskampf habe ich mit Ausnahme des Engagements der Jugendlichen in unserer Schule nicht so positiv erlebt, wie er jetzt geschildert wird. Ich glaube, ich konnte eine einzige Person überzeugen …. leer einzulegen.
Allerdings muss man dazu sagen, dass ich fast nur mit Menschen aus der ärmeren Gegend Berns, Bümpliz/Bethlehem, diskutiert habe, welche nicht nur grosse Angst haben, dass Ausländer ihnen etwas wegnehmen, sondern grundsätzlich viel Mühe mit den Veränderungen dieser Welt bekunden. Das System Sündenbock ist in den meisten Gesprächen vorherrschend. Aber es wohnen da eben auch viele Scondos, die vielleicht dieses Mal eher gegen die SVP abgestimmt haben als auch schon.
Bümpliz/Bethlehem hatte zwar in Bern den grössten Ja-Anteil zur Durchsetzungsinitiative, aber sagte zu meinem Stolz und Erstaunen dennoch nein. Mit 5775 gegen 3250.