Hass

André Glucksmann, Hass
Glucksmann, André
Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt
Nagel & Kimche 2005
Originaltitel: Le discours de la haine

Dieses Buch war meine schwierigste und schlimmste Lektüre des Jahres. Der Untertitel „Die Rückkehr einer elementaren Gewalt“ ist etwas missverständlich, denn der Autor geht nicht davon aus, dass der Hass einst gezähmt gewesen wäre. Er schlägt aber den Bogen von der griechischen Mythologie zum 21. Jahrhundert, dies war wohl der Anlass die deutsche Ausgabe so zu nennen.
Um die Gründe hemmungsloser Gewalt zu erklären, suchen Philosophen und Psychologen verschiedenste Ansätze. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir einen kurzen Exkurs über das Lektorat.
Susan Sontag „Das Leiden anderer betrachten“ und Harald Welzer „Täter“ sind vergleichbare Titel, nicht nur inhaltlich, sondern auch vom Lektorat her. Viele denken, das Lektorat sei besonders bei Romanen wichtig. Falsch! Das Lektorat ist immer wichtig. Bei Büchern, die die brutalsten Sequenzen der Menschheitsgeschichte aufarbeiten, ist ein guter Lektor schlicht unabdingbar. In solchen Büchern steht, was visualisiert gar nicht existiert. Deshalb muss der Handlungsablauf, muss die Sprache erfassbar sein, deshalb dürfen die Autoren keine grossen Gedankensprünge machen und die Leser ratlos zurücklassen. Oder noch schlimmer, in einem Vakuum zurücklassen, das sie sich mit Fehlinformationen füllen. Ich kaufe Bücher zum Thema Vernichtung nur, wenn ich mich auf ein gutes Lektorat verlassen kann, diese Thematik in linken und anarchistischen Verlagen ist selbst bei guter Autorenschaft unlesbar. Leider, denn gerade diese Verlage stellen sich der Herausforderung oft als erste, wie zum Beispiel den Verbrechen Stalins und dem Genozid an den Armeniern. Ende des Exkurses.
Glucksmann beginnt mit der Feststellung, die neuere Geschichte entwickle sich entlang unerwarteter Bruchlinien, wovon der 11. September 2001 nur eine darstelle. Weitere Beispiele leiten über zu seiner Beobachtung, die auch Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay „Der radikale Verlierer“ macht: Der heutige Terrorist schöpft Kraft aus dem Selbstmitleid, er nährt seinen Hass aus dem Verlust, an dem ein anderer schuld ist und der in vielen Fällen einen weiteren, gar nicht den Terroristen selber, getroffen hat. Sein Leben ist darauf ausgerichtet, präventiv zu vermeiden, was ihn von seinem Hass abbringen könnte (übrigens auch das Thema im umstrittenen Film Paradise Now). Auf diese Vermeidungsstrategie kommt Glucksmann immer wieder zurück und zwar nicht redundant, sondern aufschlussreich.
Dieser Autor schreibt exakt wie es die Kapitelüberschrift ankündigt und er liefert Denk- und Lösungsansätze. Es ist deshalb ein Buch aus Essays, ein Stil, wie man ihn von Susan Sontag kennt. (Ich habe einiges von seinem Zahlenmaterial überprüft, es war derart verstörend. Und ja, alles richtig, hier ist Glucksmann, nicht Michael Moore.)
Neben dem Irak-Krieg und dem Antiamerikanismus ist Glucksmanns Thema der Osten. Zu Tschetschenien hat er sehr viel recherchiert, einer Tschetschenin ist das Buch auch gewidmet. Glucksmann behauptet aber auch – und es ist schwierig, ihn zu widerlegen – der palästinensische Terrorist geniesse die grössten Sympathien und werde moralisch am wenigsten verurteilt. Und seine Erklärung dafür ist, dass der palästinensische Terrorist konsequent den Juden vernichtet. Viele seiner Überlegungen widmen sich dem heutigen Antisemitismus und das hat mich am allermeisten beelendet. Seine unzähligen Nachweise, dass wir dieses zweitausendjährige Motiv für Diskriminierung, Elend und Lüge nicht loswerden.
Sollten Sie jemals in einer Buchhandlung oder Bibliothek auf diesen Titel stossen und noch unentschlossen sein: Seite 114 aufschlagen und Glucksmanns fünf Forderungen lesen. Das ist der einfache, klare, nicht zu umgehende Ansatz eines Philosophen, der sehr viel von Politik versteht. Solchen gehört die Zukunft. Das jedenfalls ist meine Hoffnung.

9 Gedanken zu „Hass“

  1. Lieber Christoph Christian (ich entschuldige mich mindestens eine Million x), das geht leider fast nicht. Ich werde ihnen nicht gerecht, wenn ich sie kürze. Sie gehen von S. 114 bis S. 117. Sicher ist das Buch inzwischen in vielen Bibliotheken erhältlich.
    Also ganz kurz in Bezug auf Israel/Palästina (und nicht diskutierbar, weil nicht vollständig):

  2. Anerkennung des Existenzrechts der beteiligten Parteien.
  3. Voraussetzung für Ablehnung von Terror ist die Existenz echter Staaten, die in der Lage sind der Gewalt einen Riegel vorzuschieben.
  4. Gegenseitig anerkannte Grenzen sind prinzipiell willkürlich, da nicht natürlich sondern auf Blut und Boden gegründet. Eine Grenze ist gut, weil sie existiert, sie existiert nicht, weil sie gut ist.
  5. Das Problem der Flüchtlinge muss, mag es auch noch so schmerzlich und ungerecht sein, als nicht existent gelten. (vgl. Vertreibung 1945)
  6. Jerusalem: Glucksmann hat keinen eruopäischen Präzedenzfall und zitiert König Heinrich IV., der beim (Religions-)Kampf um Paris meinte: „Paris ist eine Messe wert“ und sich entschloss, die Stadt allen Religionen zu überlassen, wenn nur die Stadt als solche in ihrer ganzen Schönheit erhalten bliebe. Glucksmann: „Jerusalem ist bestimmt drei Messen wert.“
  7. Woran erkenne ich als Laie ein gutes Lektorat? Soll ich dich fragen? Auf meiner Wunschliste stehen:
    – „Die Weisheit der Vielen. Warum Gruppen klüger sind als Einzelne und wie wir das kollektive Wissen für unser wirtschaftliches, soziales und politisches Handeln nutzen könnnen“, James Surowiecki, Bertelsmann.
    – „Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit“, Reinhard Jirgl, Hanser Verlag.
    – „Wörter waschen. 26 gute Gründe, politischen Begriffen zu misstrauen“, Wolf Schneider, NZZ Verlag
    – „Verfluchte Tage. Ein Revolutionstagebuch“, Iwan Bunin, Dörlemann Verlag
    – „Triumph und Elend des Neoliberalismus“, Kurt Imhof, Seismoverlag
    – „Wie man Romane schreibt“, Mario Vargas Llosla, Suhrkamp-Taschenbuch
    – „Der Vorhang“, Milan Kundera, Hanser Verlag
    – „Gestern unterwegs“, Peter Handke, Jung und Jung
    Ein Deutschlehrer von mir hat mal vorgerechnet, wie viel bzw. wie wenig Bücher wir in unserem Leben lesen können. Also: die richtige Auswahl ist wichtig 😉

  8. Lieber Christian Schenkel – Die Frage ist so ähnlich als würde ich dich fragen, wie das Wort Liberalismus denn zu verstehen sei. Man kann nicht ein ganzes Berufsleben aufholen (lassen).
    (Wenn ich etwas giftig sein darf: Hättest du die letzten Jahre (anstatt bei Amazon zu bestellen) in die persönliche Beziehung zu einer [kleinen] Buchhandlung investiert, könnten die dir das problemlos sagen 😉
    Mein Tipp punkto Lektorat (und Übersetzung) für einen „Laien“: Erschaff dir deine Verlagsprofile, d.h. achte auf die Verlage der Bücher, die dir zugesagt haben, bei denen dir „wohl“ war.
    Bei deiner Liste sehe ich nur beim ersten eine Gefahr für schlechtes Lektorat und schlechte Übersetzung.
    Handke finde ich seit einem Jahrzehnt Mist, aber da kann Jung und Jung nix dafür. Die restlichen Verlage/Lektorate haben einen guten Ruf oder sind sogar ausgezeichnet. Seismo ist manchmal etwas „unmutig“ punkto Kürzungen und die Typo ist nicht gerade schön, aber da kannste ja was überfliegen, Imhofs Thema ist dir ja nicht neu.
    Spontan würde ich dir also Kurt Imhof, Wolf Schneider und Reinhard Jirgel empfehlen. Da kommst du sprachlich wie inhaltlich weiter und das nützt dir auch beruflich ohne dass es dich allzuviel Lebenszeit kosten wird. Falls du mit Weltliteratur (Schwerpunkt Osten) kannst, ist auch Kundera etwas für ein Wochenende, kannste auch vorlesen.
    Ende des Beratungsgespräches. Und gern geschehen!

  9. Danke für die Beratung!
    Hmm… grübel….
    Am Handke bin ich schon dran. Den habe ich mir auf Weihnachten schenken lassen. Wollte nur wissen, was du von ihm hälst. Seine Bücher zu lesen, empfinde ich wie eine Art (ideologischer) Reinigung. Ich weiss natürlich, dass er auch ganz bewusst und pointiert politisch Stellung bezieht. Dennoch ist er für mich in der deutschen Gegenwartsliteratur ein unerreichtes Beispiel dafür, wie wir die Dinge „einfach“ betrachten bzw. beschreiben sollten, so wie sie sind, und so die Dinge für sich selbst sprechen zu lassen. Wir neigen ja immer dazu, die Dinge mit unserem verblendeten Erfahrungshorizont zu interpretieren. Wir geben uns selten die Mühe, wirklich hinzuschauen, was da ist. Und das macht Handke. Zu lange kann ich ihn allerdings auch nicht lesen.

  10. Nö, Handke is nix. Nicht einmal mit seiner politischen Einstellung kann ich was anfangen, bei der Balkandiskussion sogar ganz im Gegenteil. Mag sein, dass er gut hinschaut, aber das machen eine Reihe anderer auch. Mir fällt nichts ein, wozu es keine Alternative zu Handke gäbe, nichtmal in Sachen Serbien-Montenegro brauch ich ihn, denn da lese ich lieber Originale aus Ex-Jugoslavien oder Lothar Baier, nur schade, dass der sich umgebracht hat. Der hätte sich besser vorher bei Handke eine Scheibe Selbstbewusstsein abgezwackt.
    Aber weil ich Handke nicht (mehr) wirklich lese, kann ich latürnich nicht im Detail diskutieren. Aber empfehlen? Nein, nur vor 1990.

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