Tomi Ungerer,
Die Gedanken sind frei
Meine Kindheit im Elsass
Diogenes 1993
Tomi Ungerer ist der einzig Lebende unter meinen Vorbildern. Als ich meine Header-Wahl getroffen habe, war ich ziemlich sicher, dass er in seinem Leben nichts mehr anstellen würde, was ihn von dieser Funktion entbinden könnte. Heute hat er seinen 75. Geburtstag und ich bin froh ist er noch da, denn ich verehre ihn seit meinem fünften.
Das hier ist Ungerers Autobiografie. Ein Potpourri aus Erlebnissen, Anekdoten und Zeichnungen aus der Zeit seiner Kindheit im Elsass, die mit dem zweiten Weltkrieg zusammenfiel.
Ungerer beginnt mit den widerständischen aber machtlosen Elsässern, die nicht nur hin und her geschoben, sondern auch je nach Besatzung umbenannt wurden. Im Elsass kursiere noch heute folgender Witz:
Ein Elsässer hiess Lagarde,
die Deutschen übersetzten seinen Namen in Wache,
die Franzosen sagten Vache,
die Deutschen übersetzten das in Kuh,
die Franzosen sagten Cul (Arsch).
Ungerer illustriert in kessen Sätzen den Widerstand seine Mutter, die die Nazis mit Schönheit und List zu nehmen wusste. Sie tat es für die Familie und ein wenig auch aus Missmut, weil der Herrscher Hitler kein „von Hitler“ sondern bloss ein kleiner Mann war. Sie erreichte so eine Sondergenehmigung für das verbotene Französisch als Familiensprache und bewahrte ihre Kinder davor, zu Kanonenfutter zu werden. Dies alles indem sie in gepflegtem Deutsch erklärte, ihr begabter Nachwuchs sei für Führungspositionen in der Wirtschaft des grossdeutschen Reiches aufzusparen.
Und Ungerer zeigt natürlich seinen eigenen Widerstand durch die Kunst in den wunderbaren Zeichnungen, die das ganze Buch zu einem Kleinod machen. Auch seine Schulhefte mit der Bewertung für Hakenkreuz-Zeichnungen („zu klein! Note 4″) und die unmöglichen Schulreglemente samt amüsante Erinnerungen an deren Missachtung („Ein Liter!“ als Morgengruss für die Lehrerschaft). Vor allem dank dem ausgeprägten Archivierungsdrang von Mutter Ungerer ist das Buch zu einer historischen Schatzkiste geworden, doch auch dank Zufall. Ungerers Schwester arbeitete während der deutschen Besatzung auf der Präfektur und brachte Tomi stets Formulare nach Hause, damit er deren Rückseite bezeichnen konnte, woraus eine umfangreiche Sammlung von Unterlagen der Nazi-Verwaltung entstand.
Auch wenn das sensible Kind Tomi den Krieg mit viel Humor und mehr als Theaterstück denn als Realität betrachte, gibt es in diesen Erinnerungen viele Stellen von ungewohnter Ernsthaftigkeit. Das Elsass hatte eine der grössten jüdischen Gemeinden Frankreichs, Ungerer ist im Laufe seines langen Künstler-Lebens sehr wohl bewusst geworden, dass er ungeschoren davon gekommen ist.
Er nennt die elsässische Abstammung einen Luxus, denn die Elsässer haben nichts Falsches getan. Sie können es sich leisten, morbide Witze zu reissen und ab und zu einen Marsch-Kanon des deutschen Reiches zu schmettern. Gerade deshalb sah er es als seine Lebensaufgabe, das deutsche Liedgut vor der Vergessenheit zu bewahren. Missbraucht von den Nazis wollte die Lieder niemand mehr singen oder es traute sich keiner. So wurde aus Ungerers ersten Skizzen seiner Kindheit das bekannteste deutsche Liederbuch unserer Zeit. Ein Lebenswerk, prominent ergänzt durch das Lied, dessen Ausmerzung in Ungerers Kindheit Priorität hatte: „Die Gedanken sind frei“.
Der frühe Tod des Vaters und die protestantische, gutbürgerliche Erziehung durch die Mutter und die älteren Geschwister lehrten Tomi, was ihm als Künstler oft zu Brot verholfen hat: Den Wert einer abgeschlossenen, gut gemachten Arbeit zu erkennen. Aber der Krieg und die – wie er mehrfach betont – frühe Kenntnis des KZs Struthof lehrten ihn, wie schwer die „angeborene Bosheit“ der Menschen zu überwinden ist, wenn sie noch mit Dummheit gefüttert wird. „Denke nicht, der Führer denkt für euch,“ war ein überall präsenter Leitsatz seiner Matthias-Grünewald-Schule, die vor der deutschen Besatzung und danach wieder Lycée Bartholdi hiess.
Ungerer ist selbstkritisch in dem Buch, er korrigiert mehrmals frühere Aussagen, gibt zu, sein Publikum mit biografischen Übertreibungen bedient zu haben, wenn es gerade gut passte. Er schreibt, das Buch erlaube ihm, die Ereignisse entgegen seiner Phantasie zurechtzurücken, die Sentimentalität und seinen blumigen Stil einmal beiseite zu lassen.
Das ist ihm in dieser tragikomischen Mischung von Notizen aus Wörtern und Bildern wirklich gelungen und einfach eines meiner liebsten Bücher.
Ich habe zumindest die unterschiedlichsten menschlichen Lebensbedingungen kennengelernt und bin auf meine Art Pazifist geworden. Es gibt kein anderes Mittel gegen Vorurteile, Hass und Ungerechtigkeit als die persönliche Bewusstseinsentwicklung, die uns unsere Pflichten diktiert.
– aus dem Vorwort.
[Link-Tipp: Ungerers Bio-Bibliografie zusammengestellt von Diogenes.]
Schön geschrieben, macht Lust es zu lesen.
Danke sehr. Ich nehme immer gerne Gelegenheiten wahr, um Bücher hervorzuheben, die schon etwas älter sind.