Tschernobyl Nahaufnahme

Igor Kostin, Tschernobyl, Nahaufnahme
Igor Kostin
Tschernobyl
Nahaufnahme
Antje Kunstmann 2006

Selbst ein GAU hat seinen Hoffotografen; einen, der zuerst da war, einen, dem die Dokumentation über alles geht. In Tschernobyl war es Igor Kostin – seine Bilder gingen und gehen um die Welt. Gerade im letzten SPIEGEL (Nr. 16) wurde die Reportage „Pompeji des Atomzeitalters“ mit zwei seiner schwarz-weissen Fotografien illustriert (leider steht sein Name nur bei einer).
Die einzige Aufnahme des Reaktors am Unfalltag selber stammt auch von Kostin. Von diesem Bild bis zur Öffnung des eisernen Vorhangs hat er alles fotografiert, was mit Tschernobyl in Verbindung stand. Er war bei den Liquidatoren auf dem Dach von Block 3, die je vier Sekunden Zeit hatten, eine Schaufel radioaktiven Schutts auf den explodierten Reaktor zu werfen. Er war beim Bau des Sarkophages dabei, dem Vergraben ganzer Dörfer, stand neben weinenden Soldaten, sah die Rückkehrer, die Frauen, die die Umsiedlung verweigerten, die Kranken in der Moskauer Klinik Nr. 6, die Kinder mit den grossen Missbildungen und den kleinen Narben nach der Entfernung ihrer Schilddrüse, er verfolgte die Alibi-Prozesse, erlebte die neue Explosion 1991 und hielt in seinen Farbildern den wiederkehrenden Frühling fest, der von Beginn an tat, als sei nichts gewesen.
Igor Kostin wird dieses Jahr siebzig. Er hat die Therapien überstanden, für eine Untersuchung war er sogar in Hiroshima („Ich habe immer davon geträumt, einmal nach Japan zu reisen. Aber nicht, um mich wegen Strahlungsschäden behandeln zu lassen!“). Er hatte Glück oder er war zäh. Als gebürtiger Moldawier mit Jahrgang 1936 war ihm Leiden nichts Neues. Im Nachwort erinnert er sich an den Krieg als eine einzige Hungersnot, in der er mit Fischfett polierte Militärstiefel ass.
Weil die Berichte über die Tschernobyl-Katstrophe unterschiedlich ausfallen, weil Opferzahlen umstritten bleiben, weil kein Geigenzähler die Angst der Eltern bei der Zeugung ihrer Kinder messen kann und weil zwanzig Jahre in der atomaren Zeitrechnung nichts bedeuten, brauchen wir Kostins Nahaufnahmen.
Ermittlungen und Erfahrungen:
– Dokumentation von „Der Bund“
– Tschernobyl und die DDR bei Ostblog
– Information und Bericht der IAEA
– Kritik von Ärzten an der IAEA-Studie
– DEZA-initiierte Site über Hilfe und Zusammenarbeit
– Bundesamt für Gesundheit: Auswirkungen auf die Schweiz
– Dokumentarfilm über Tschernobyl und die Schweiz heute im TV

Ein Gedanke zu „Tschernobyl Nahaufnahme“

  1. Die neue WOZ (Nr. 17/27. April 2006) schreibt, dass Kostins Bild nicht das erste gewesen sei. Sondern die Bilder von Anatoli Rasskasnow, dem Werkfotografen, der seine Negative dem sowjetischen Notfallstab habe überlassen müssen und erst vor Kurzem wieder zwei davon zurückerhalten habe.
    Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Aber ich schätze an Kostin, dass er dort war und vor allem, dass er geblieben und immer wiedergekehrt ist.

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