Ich habe mir zu letzten Jahreswende Une Année des lumières gewünscht. Es ist nicht einfach zu beurteilen, ob 2009 vernünftiger ins Land geht als 2008. Doch wer sucht, findet schon Menschen, die sich aufmachen, anstatt Populismus den kategorischen Imperativ zu verbreiten. Zwei Favoriten:
In die Falle einer Leitkulturdebatte darf man nicht treten. Wir sprechen hier nicht von Kultur, wir reden über Spielregeln, wir reden über Gesetze, über die Verfassung und über Grundrechte. Es geht um formales Recht. Dieses Recht gilt für alle, unabhängig von Herkunft und Religion. Eine offene Gesellschaft geht vom Individuum aus und schützt seine Grundrechte. (…) Wer Bürger werden will, muss sich ans Recht halten. Die Vermittlung dieser rechtlichen Standards ist allerdings Sache unserer Gesellschaft. Solche Standards kann aber nur derjenige einklagen, der sie sich selbst wirklich zu eigen macht.
Aus einem Interview mit Hanno Loewy, Leiter des jüdischen Museums Hohenems im Rheintal und Herausgeber des Buches Gerüchte über die Juden.
Die Welt muss verbessert werden, hartnäckig und mit Bescheidenheit, durch geduldige, selbstkritische Arbeit. Ich verabscheue die Haltung extremistischer Revolutionäre, die von einem Tag auf den anderen die perfekte Welt schaffen wollen und glauben, die Revolution ereigne sich wie ein Wunder. Und wenn dieses dann nicht eintritt, werden sie plötzlich zu grausamen Reaktionären, die nicht einmal mehr das Verbesserbare verbessern wollen.
Aus einem Interview mit Claudio Magris, diesjähriger Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Der italienische Germanist ist meine anregenste Neuentdeckung 2009.
Auf Platz eins der aufklärerischen Sachbücher gehört für mich dieses Jahr: Ilija Trojanow und Juli Zeh, Angriff auf die Freiheit (auch epub). Das Buch hat im Internet eine grosse Lobby, ich werde es deshalb nicht besprechen. Nur dies: Herr Trojanow, Frau Zeh und der Hanser Verlag haben sich einen sehr guten Anhang geleistet, eine Grundlage für Aufklärung, die in vielen „Protest“-Büchern fehlt. Ein Buch, das sich neben vielen Fakten auch eines politischen Fehlers annimmt, der mir in Integrationsfragen oft Kummer bereitet, nämlich, dass sich die politisch geforderten Mittel vom behaupteten Zweck entfernen. (Bei der Minarettverbot-Initiative absolut, bei der Revision des Asyl- und Ausländergesetztes grösstenteils.)
Mein persönlich aufklärerischster Erfolg ist die Beteiligung an einem umstrittenen Integrationsprojekt. Wir haben im Quartier über ein Jahr daran gearbeitet, das Hallenbad zu einer bestimmten Zeit nur für Frauen zu öffnen. Ich habe in zwanzig Jahren Freiwilligenarbeit noch nie so harte Fronten erlebt und ich bin heute selber erstaunt, dass es gelungen ist, sie aufzuweichen. Irgendwann gingen wir nicht mehr für jeden Schritt vorwärts zwei zurück, sondern umgekehrt und gelangten ans Ziel. Die Lösung lag darin, Rassismus nicht zu akzeptieren, aber das Bedürfnis nach Besitzstandwahrung der Ansässigen. (Nun werden wir das Projekt eine kleine Weile durchführen können, danach wird es an der Finanzierung scheitern. Diese Bemerkung für die, die meine Klagen um Budgetkürzungen im Bildungs- und Integrationsbereich hier oft dahingehend kommentieren, die Linken wollten immer nur Geld und mit Geld allein sei es nicht gemacht.)
Zuletzt noch etwas Berufliches: Wir Buchmenschen werden nicht optimistischer und der Kampfeswille serbelt. Trotzdem stelle ich diesen Herbst fest, dass gerade die Unabhängigen vermehrt den Willen aufbringen, sich eine gewisse Ehre zu bewahren. Das geht nicht ohne Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Ich empfehle dazu einen Artikel aus der Süddeutschen: An der Kette. Für regional Interessierte sei auch der heutige Artikel zur Lage in Bern empfohlen.
Mit der Buchhandelskonzerngeschichte hat sich die SZ mal wieder zurück in mein Herz gedruckt – preiswürdig.
Danke für den Hinweis auf den Artikel. Ich bin froh, dass ich nicht mehr für den Konzern arbeite.