Kunst des Jahresberichts

Ich schreibe viele Jahresberichte. Teils weil ich Rechenschaft über meine Arbeit ablegen muss oder will, teils als Auftrag von aussen. Und weil wer schreiben will, lesen muss, lese ich im ersten Halbjahr stapelweise Jahresberichte. Übrigens ein eindeutig vernachlässigtes und zu unkritisch betrachtetes Genre.
Ich unterscheide in der Regel die Zufälligen, die Fixen, die Beschönigten, die Transparenten. Die meisten lassen sich zwar nicht zweifelsfrei einer Kategorie zuordnen, aber Tranparenz hat schon den grössten Reiz.
Dieses Jahr werden von mir drei 2004-er geehrt. Rein googlisch, aber das ist heutzutage nicht zur verachten. Nur wer verlinkt ist, existiert. Amen.
1. Rang: aids hilfe bern
2. Rang: Gäbelbachverein
3. Rang: EMS Gruppe
Begründung:
Jahresbericht 2004 der aids hilfe bern
Zufällig in seiner Form, aber transparent und ansprechend. Ich kenne wenige, die mehr Grund hätten, entmutigt zu sein. Auch das Motto zum Jubiläum trifft: „20 Jahre Aids-Hilfe Bern: Nichts zu feiern, aber viel zu tun.“ Nicht nur Kürzungen von Geldern und nachhaltige Fehlentscheide der Behörden, sondern vor allem der Anstieg von Ansteckungen und Todesfällen durch HIV/Aids könnten lähmen. Die aids hilfe bern erstatten authenisch Bericht und lässt sich Resignation nur wenig anmerken. Und wenn, dann wirkungsvoll. Ein Bestandteil des Berichts 2004 ist „das Jahr von A bis Z“. Unter dem Buchstaben „N“ steht:

Nichts
Manchmal bleibt uns nichts mehr hinzuzufügen. Oft verschlägt es uns die Sprache, wenn wir von Schicksalen, Erfahrungen oder Erlebnissen hören. Über sachpolitische Entscheide sind wir bisweilen sprachlos.

Jahresbericht Gäbelbachverein [nicht online verfügbar]
Hier ist neben dem Engagement Einzelner auch die Einheitlichkeit der Berichterstattung über die Jahre beeindruckend. Sie verschafft mir Informationen zur Entwicklung, die bei anderen Quartiervereinen, die jedes Jahr eine neue Strategie, einen neue Farbe wie auch ein neues Format oder gar ein anderes Medium wählen, fehlen. Seit Jahrzehnten erstattet dieser Verein, der unter zunehmender Arbeits- und Sprachlosigkeit der Bewohner, unter Spardruck, Migrations- und Generationenkonflikten agiert, Bericht über das Machbare. Eine Vereinigung von Menschen mit oft gegensätzlichen politischen Einstellungen, die die Zukunft zum Bessern gestalten wollen und das getreulich dokumentieren. Eine kurze Berichterstattung und eine sorgfältige Rechnung präsentiert von zuverlässigen Leuten, die neben dem Ehrenamt meist einer harten Erwerbsarbeit nachgehen.
Jahresbericht EMS Chemie [nur teilweise online verfügbar]
Hier gilt die Auszeichnung der raschen Umstellung auf heutige Zeiten und den regelmässigen Updates. Denn auch Geschäftsleiter mit kaum versiegenden Geldquellen (wie ich sie bei der EMS vermute), schaffen es oft genug nicht, rechtzeitig das Wesentliche zu präsentieren. Innerhalb von kurzer Zeit hat sich Frau Martullo nicht nur vom Vater, sondern auch von dessen Folie und Hellraumprojektor emanzipiert und präsentiert nun ihre Ergebnisse als PDF im Internet. Und zwar immer mit Ausblick auf die Updates, die pünktlich der Presse vorgestellt und online geschaltet werden.
Das waren die Lobreden, auf die Verrisse verzichte ich an dieser Stelle, ich möchte weder mich noch andere unglücklich machen. Ich habe schliesslich heute die Abstimmungen gewonnen. Und dank denn wetternden alten Herren dürfte ich auch wieder „autofahren“ rechtschreiben. Aber ich muss nicht.
Es gibt so viele Gründe, glücklich zu sein. Gibt es nicht?

Gratulation zum Geburtstag

Treue Buchtipp-Leserinnen und Leser wissen es:
Ich mag Reich-Ranicki. Selbst im Ärger über seine Äusserungen verehre ich ihn. Ich bin überzeugt, dass keine und keiner ihm das Wasser reichen kann punkto Qualitätssicherung in der deutschen Literatur. Und dass er verdammt viel beträgt zum Geschichts- und Generationenverständnis. Ein deutsch-polnischer Jude, der sich nach Krieg, Verfolgung und Vernichtung der Familie nichts mehr wünschte als die Rückkehr zur deutschen Sprache.

Man kann nicht über Deutschland allgemein sprechen, auch nicht über die Deutschen, sondern muss von den verschiedenen Generationen reden: Für die Jüngeren spielt die Frage, ob es 1945 eine Befreiung oder einen Zusammenbruch gab, keine Rolle – für die ist der Krieg so weit weg wie für mich in meiner Jugend der deutsch-französische Krieg von 1870/71. Die Generation derjenigen, die den Krieg mitgemacht haben und heute über achtzig sind, hat den 8./9. Mai 1945 nicht als Tag der Befreiung, sondern als Zusammenbruch erlebt. Alles andere ist eine unzulässige, wenn nicht verlogene Beschönigung.

[Quelle: SPIEGEL online heute. MRR wird am 2. Juni 85 Jahre alt.]

Futura 2005

Futura & Fortune!
Hierhin habe ich heute E-Mails mit Anfragen geschickt. Das ist die Prüfungsbuchhandlung Futura, eine schönere Mini-Buchhandlung gibt’s in keinem Schulzimmer. Das Beantworten von Fragen per Mail gehört auch in diesen Teil der Lehrabschlussprüfung „Praktische Arbeiten im Betrieb“, die ich mit meinen Kolleginnen kommende Woche abnehmen werde.
Wie läuft das ab?
Die Kandidatinnen und Kandidaten richten vorgängig zusammen mit mir ein. Wir unterhalten uns laufend über die Geschäftsphilosophie, bei Futura zum Beispiel ist man „kultant, bis die Augen tränen“, wie das Jörg Winter zu nennen pflegt. Daneben kann jeder, der geprüft wird, drei Titel angeben, zu denen er befragt werden möchte.
Eine Prüfungsexpertin kommt einkaufen. Zuerst in einer Testsituation mit Freiwilligen und dann in der Prüfungssituation bei jedem. Sie tätigt ihren Einkauf genau nach Protokoll und zu einem grossen Teil auf die Arbeitsgebiete der Kandidatinnen und Kandiaten ausgerichtet. Zu den Spezialaufgaben gehören das Beanworten von Telefonanrufen, von E-Mails und die Reaktion auf Reklamationen. Nur mit guter Planung und durch sorgfältige Absprache zwischen der Expertin, die einkauft, und der Expertin die protokolliert, ist Chancengleichheit gewährleistet.
Wir werden oft gefragt, warum wir das nicht in den Lehrfirmen prüfen? Weil es logistisch und finanziell nicht machbar ist. Wir haben Lernende aus der ganzen Deutschschweiz. Unsere Branche verfügt nicht über genügend finanzielle Mittel und die Buchhändlerinnen und Buchhändler nicht über genügend Zeit, um die praktischen Prüfungen in nützlicher Frist am Lehrort zu Lehrort zu bewerkstelligen und das auch noch gut eingespielt und fair.
Wo auch immer, für nächste Woche heisst es Daumen drücken. Und noch weit darüber hinaus, ich wünsche allen von Herzen, dass sie eine gute Arbeitsstelle finden. Ich habe mich bemüht, die Lernenden gut zu coachen. Doch das Gefühl, dass ich noch mehr hätte tun können, gehört wohl einfach dazu.

MMM

Nur schnell schnell im Vorbeifliegen: Herr Röll reflektiert über seine Beteiligung am (Männer-) „Medientreffpunkt Mitteldeutschland“ und dem, was da über Weblogs gesagt wurde. Lesempflehung von mir, weil er über diese neue Kommunikationsform ähnlich denkt wie ich und der Bewertung von Weblogs (Amateur hier, Profi da) eher skeptisch gegenübersteht.

Wie reden Leute miteinander? Wie tauschen sie Informationen aus? Wie finden sie sich? Wie können sie netzvermittelt Vertrauen zueinander finden? Das ist spannend. Deswegen bin ich in die Blogosphere gekommen, nicht wegen einiger schöner, „Qualitäts“-Weblogs. Schön, dass sie da sind! Aber sie sind nur ein kleiner Teil von etwas ganz Großem.

ALL IBM

Ich bin bekennende IBM-Userin, hatten schon deren Schreibmaschinen gemocht und bin heute mit dem X40 glücklich.
Doch der Dividenen-Zahn-der-Zeit nagt auch an den Business Machines. Die PC Sparte ist bei Lenovo ja wohl einigermassen gut aufgehoben, China ist China. Nur kennt Lenovo ausserhalb kein Mensch. Kein Wunder muss Ogilvy & Mather ran. Und auch kein Wunder, lassen die Businesspläne die Arbeitsplätze kullern. Die Schweiz wird’s weniger arg treffen als andere Europäer, der Standort soll innerhalb des IBM-Konzerns aufgewertet werden. Mögen weitere mit Headoffices und Entscheidungszentralen folgen, solange wir noch nicht auf Grund gelaufen sind.
Man lese zu dieser pessimistischen Einschätzung die Schweizer Resultate der Erhebung ALL, Adult Literacy and Lifeskills. Zu der ich übrigens schon einmal gebloggt habe, im Geheimen. Denn den Nachweis, dass Lesen eine für Dreiviertel der Bevölkerung unnötige Fähigkeit geworden ist, kann ich mir als Buchhändlerin und Ausbilderin öffentlich nicht leisten. Nicht alle würden den Zynismus verstehen.
By the way: Lanu buht wieder, was mich freut. Ich bin mir nie so sicher, ob sie zu den Chamäleonen der Blogosphäre oder zu den Heerführerinnen zählt, aber sie gehört zu den „grand old“ (Blogladies).
So, ich verabschiede mich eine Runde, die Lehrabschlussprüfungen stehen an. Weil ich auch sehr viel mündlich (individuell ist toll aber ineffizient) prüfe, braucht das meine Tage locker auf, meine Abende gehören den Korrekturen und Expertinnen, meine Nächte den Vor- und Nachbereitungen. Zum Glück mit X40. Falls ich das noch nicht gesagt hätte.

Authentik um einen Preis

Ich schätze den Verlag „Beobachter“, der macht sorgfältig gut schweizerische und nützliche Ratgeber. Ich besitze selber einige und habe sie immer gerne empfohlen. Meine Eltern hatten die gleichnamige Zeitschrift aus diesem Verlag abonniert und – ähnlich wie Waschmittelmarken – bleibt man auch Medien aus dem Elternhaus in der Regel verbunden.
Vor zwei Jahren jedoch hatte ich eine unschöne Begegnung mit einem Beobachter-Journalisten. Der Mann wollte eine Story zum Thema Anlaufschwierigkeiten für Flüchtlinge aus dem Irak machen. Er brauchte Kontakte und Erfahrungsberichte via unsere Familie, eigentlich ein begrüssenswertes Anliegen. Allerdings entpuppte er sich als Thesenjournalist, die Schlagzeile war schon klar, ehe er überhaupt mit jemandem von uns gesprochen hatte und derart daneben, dass ich darauf verzichte, sie hier wiederzugeben. Deshalb haben wir nicht mitgeholfen. So wichtig informieren ist, verheizen geht nicht, das wird mit Flüchtlingen genug getan. Die Nachricht hat ihn auf dem falschen Fuss erwischt und er hat es nicht geschafft, höflich zu bleiben. Dennoch kein Grund, den „Beobachter“ in globo blöd zu finden.
Das ist mir wieder eingefallen, als ich gelesen habe, wer die „Goldene Feder 2005“ erhalten hat. Diesen Preis unterstützen zum Beispiel buch.ch und eben der „Beobachter“, welcher auch in der Jury sitzt. Dieses Jahr waren Texte zu Jugendgewalt gesucht, gewonnen hat einer der Täter im brutalsten Überfall seit ich Bern und Jugendliche kenne (und das ist mein ganzes Leben) mit dem Text „ohne die richtigen Freunde…“
Diese als Bekenntnis getarnte Rechtfertigung, diese als Perspektive verkleidete Anbiederung und Pseudo-Reflexion darf von mir aus geschrieben und gelesen werden. Aber prämiert, weil ach-so-authentisch? Mit einem Vorbildpreis, einem Jugendpreis? Weil das das Brauchbarste unter dem Eingereichten gewesen sein soll? Never ever.
Ist vielleicht schon ein Buch, eine Autobiografie oder gar ein Ratgeber in Planung?
Trostlos. Einfach nur trostlos.

über Wetter

Im Lift spricht man hauptsächlich über drei Dinge: Arbeit (gehst du dahin?), Arbeit (kommst du daher?) und das Wetter.
Frau vom 8. Stock:

Schon wieder Regen.

Ich:

Ja, ja.

Frau vom 8. Stock:

Schon Mai und keine zwei Tage ohne Regen.

Ich:

Ja, das ist wahr.

Frau vom 8. Stock:

Die kalte Sophie ist durch und immer noch Regen.

Ich:

Ist doch gut, dann sind die einheimischen Früchte im Sommer nicht so teuer wie im Vorjahr.

Frau vom 8. Stock:

Da haben Sie auch wieder Recht. Sie sind ja Lehrerin.

14. Mai 1935 und 1948

Eigentlich dachte ich, ich überlasse die Berichterstattung kumulierter Gedenktage anderen, die das besser können und eher betroffen sind. Zum Beispiel Lila, die wieder einmal grandiose Blitzlichter aus dem Kibbuz geliefert hat (ja, ich kann die Hatikva auch besser als den Schweizer Psalm, meine Mutter ist schuld.).
Aber heute habe ich im Berner „Bund“ einen Artikel gelesen, der mein Buchhändlerinnenherz erschaudern liess. Offenbar finden die indizierten „Protokolle der Weisen von Zion“ immer wieder den Weg nach Europa. Vor 100 Jahren wurde dieses üble Falsifikat in Umlauf gebracht und am 14. Mai 1935 hat es ein sozialdemokratischer Berner Richter verboten. Allerdings „nur“ wegen Verstoss gegen das Schundliteraturgesetz, was in diesen Zeiten nicht lange vorhielt. Das anders lautende Berufungsurteil hat die 100 Mitglider NSDAP-Ortsgruppe Bern natürlich gefreut und ganz besonders die Nachbarn! Die verbreiteten den als Sachbuch getarnten Schund über die geheime Verschwörung der Zionisten, die nicht ihre Rückkehr nach Palästina sondern die Weltherrschaft planten, immer gern. Lesestoff war gesucht, mit den Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 war ja plötzlich viel dahin gegangen.
Ich halte buchhändlerische Zensur selten für angebracht, aber „Mein Kampf“ und „die Protokolle“ hätte ich nie und nimmer in einer kompletten und unkommentierten Fassung verkauft oder auch nur vermittelt, ganz egal, ob sie auf dem Index stehen oder nicht.
1948, genau 13 Jahre nach dem kurzzeitig klugen Berner Urteil waren die Juden um Millionen dezimiert, beraubt und vertrieben worden – und bekamen die knappe Zustimmung der UNO für einen eigenen Staat Israel.
Zum Historischen ein Auszug aus der Autobiographie von Amos Oz, eine Geschichte von Liebe und Finsternis, S. 538:

Um Mitternacht von Freitag, dem 14. Mai 1948, auf Samstag, den 15. Mai 1948, nach Ablauf der dreissigjährigen britischen Mandatszeit, entstand der Staat, den David Ben Gurion einige Stunden zuvor in Tel Aviv ausgerufen hatte. (…)
Aber um eine Minute nach Mitternacht fielen, ohne Kriegserklärung, Infanterie-, Artillerie- und Panzertruppen der arabischen Armeen ins Land ein: Ägypten von Süden, Transjordanien und Irak von Osten, Libanon und Syrien von Norden.

So begann der Leidensweg zweier Staaten im gleichen, von dem ich nicht glaube, dass er je eine Chance auf Abkürzung hatte. Und unabhängig davon, wie es mit den Unabhängigkeiten weitergeht, wird immer wieder zwischen Buchdeckeln auftauchen, was unendlich schlimmer ist als Schund, nämlich Hetze.

im Grunde erfinderisch

Im Zusammenhang mit einer Anfrage meiner ehemaligen Schule, muss ich mir wieder einmal überlegen, welche Bedeutung Weblogs und Bloggen haben können. Klar, dass ich zuerst den Artikel von Lyssa heraushole.
Es ginge im Text darum zu erklären, was ich hier mache und warum. Das Thema dieser Ausgabe des Forums wird „im Grunde erfinderisch“ sein, was ganz gut passt.
Dieses Weblog zum Beispiel hat ein ehemaliger Steiner-Schüler angekickt, der seine internetskeptischen Kumpelz von ein paar Vorteilen überzeugen möchte, wohl wissend, dass dies ein langer Weg wird.
UPDATE 12. Mai:
Im gestrigen Stellenmarkt, einer „Bund“-Beilage, antwortet ein ehemaliger erfinderischer Steinerschüler auf die Frage, was ihm Erfolg bedeute:

Und zudem schenkt mir der Erfolg Freiheit zum Experimentieren. Ich wandle Geld ungern in Besitz um, ich verstehe es als Energie, etwas Neuese anzureissen, einem Traum ein Stück näher zu kommen.

Zum Glück hatte es ein Bild dabei und ich erkannte den so Erbauendes äussernden Künstler Matthias Winkler als den Mättu, der zwei Jahre über mir die Schul- und Werkbank drückte.
Und die hier gestaltet auch einer aus meiner Pultreihe, da habe ich sogar einen Zipper (black, Working Class) von. Ein Lieblingsstück.