1. Schultag, 5 Ausschnitte

Nette, junge Leute und irgendwie unbeschwert heute. Vielleicht etwas müde, vielleicht etwas zum Motzen aufgelegt. Und zu erzählen gibt es halt viel nach der schulfreien Zeit. Meinem „Tsunami-Spendenaufruf“ sind auch einige gefolgt, denn wenn alle nur ein Fränkli entbehren und die Abteilung Buchhandel noch aufrundet, gibt das schon wieder ein paar Bastmatten in Sri Lanka.
Ein freundlicher Abteilungsleiter, freundliche Kolleginnen und Kollegen, am ersten Tag den Handschlag zum neuen Jahr. Und die Bitte, eine Kerze ins Fenster zu stellen, heute Abend. Sie brennt hier in meinem kleinen Büro und ist sicher gut zu sehen, die Menschen schauen gern hinter Fenster. Die aus dem Quartier fragen mich manchmal, was ich für ein merkwürdiges Zimmer hätte, in dem fast die ganze Nacht Licht brenne? Des Rätsels Lösung ist mein Bildschirm.
Eine lehrreiche Hospitation bei Kollegin WEBA und vice versa (also ob vice versa lehrreich weiss ich noch nicht, wir reden am Samstag). Eine Befragung der Lernenden, die WEBA für mich auswerten und kommentieren wird, bin gespannt was rauskommt dabei. Ich habe schon diverse Unterrichtsbefragungen hinter mit, von kurzen Feedbacks (Ziele erreicht?) bis zu mehrseitigen, ausgeklügelten ISO-Auswertungen mit Verlgeichszahlen und Durchschnittswerten.
Aber dass der Umgang mit Kritik schwierig ist, zeigt sich halt jedes Mal. Und dass Lernende einen ziemlich unterschiedlichen Massstab haben auch. Heute zum Beispiel: „Ihre E-Mails bleiben bei mir im Spam-Filter hängen, weil sie so viele in so kurzer Zeit schicken.“ „Warum kriege ich von Ihnen nie ein Mail? Haben Sie meine Adresse falsch geschrieben?“ „Ich will die Mails auch, können Sie sich meine Adresse bitte schnell notieren?“
Es heisst einerseits, man müsse jeden Lerntyp berücksichtigen, jeden Lernenden abholen wo er gerade sei, zwischen den Taxonomiestufen abwechseln und das Umfeld berücksichtigen. Gleichzeitig schreien andere nach dem Ende der Kuschelpädagogik, wieder andere nach Vergleichbarkeit der Testresultate, quer durch Kanton und Schweizerland nach einheitlichen Bewertungsschemen. Es ist eine ewige Wanderung und zwar auf mehr als einem Grat. Bisweilen sogar rückwärts balancierend.

Wahl
Kannst du nicht allen gefallen durch deine Tat und dein Kunstwerk,
Mach‘ es wenigen recht, vielen gefallen ist schlimm.


Ein schlechter Rat für Lehrpersonen. Aber trotzdem willkommen im Schiller-Jahr.

Blick zurück in Bücher

Ich mach davon nur Position acht. Dafür acht.
1. Jens Rhen, Nichts in Sicht
2. Russische Liebesgeschichten
3. Satrapi, Persepolis 1 + 2
4. Amos Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
5. Kurt Marti, Leichenreden
6. Die komischen Deutschen
7. „Ich möchte jetzt schliessen“
8. Ernst Burren, Zirkusmusig
1. war mit Abstand die beste Belletristik. 2. War meine Tür zur russischen Literatur, nachdem ich lange Zeit nur russische Sachbücher gelesen hatte (die allerdings literarischer sind als unsere). 3. und 4. waren die Autobiografien, aus denen immer wieder leise Geschichte, Theologie und Politik in meinen Alltag einfliessen. 5. und 6. waren und bleiben beste Lyrik von Liebe und Tod, 7. waren ultimative Briefe. 8. war Schweizer Alltag in Mundart und Ich-Erzählung, treffend und fein, wie seit Jahren nicht gelesen und vorgelesen.
[Zusammengesucht für MügaBlog.]

Blick zurück in Zahlen

Wie schon an anderen Orten festgestellt, ist Lob nicht gerade das, was einem als Lehrperson oft zu Teil wird. Deshalb und auch sonst, mache ich normalerweise einen Schul-Rückblicke in Prosa, für mich allein. Ich blättere in meinem unleserliches Notizheft, scrolle durch meine Agenda, lese die Einträge in diesem Weblog und ein wenig die Mailordner. Ich finde Witz, Dank, verhaltenen, diplomatischen und unverhohlenen Ärger, Enttäuschung, Leistung und dann und wann ein Kompliment.
Aber angesichts der Zeiten, in denen ich mit vielen Zahlen konfrontiert bin, in denen auch über die Fassbarkeit der Zahlen nachgedacht wird (zum Beispiel bei Ingrid), fällt mir keine Prosa ein.
Deshalb mein Rückblick in Zahlen, weil mir zum Jahresende 2004 nur das möglich ist.

  • 324 schriftliche Fragen von Lernenden beantwortet
  • 34 Fragen von Lehrfirmen beantwortet
  • 21 Fragen vom Berufsverband und der Gewerkschaft beantwortet
  • 211 E-Mails als Assistenz der Abteilungsleitung ver- oder bearbeitet
  • ca. 300 E-Mails mit Kolleginnen, Kollegen, der Verwaltung und anderen ausgetauscht
  • 63 E-Mails von und für und wegen DIK1
  • 120 Einträge für dieses Weblog geschrieben
  • Für 14 Lektionen Fachreferentinnen und Fachreferenten engagiert
  • 2 Tage Exkursion für 42 Leute (an der Frankfurter Buchmesse) vorbereitet
  • 3 Tage Abschlussreise für 17 Leute (nach München) vorbereitet und begleitet
  • 53 verschiedene Tests erstellt (davon 14 Superspezial-Nachholtests) und ca. 640 korrigiert
  • 1 ISO-Audit absolviert (im Rahmen der Zertifizierung)
  • 1 Kollegiumstag
  • 3 Apéros + 1 Weihnachtsessen
  • 6 Sitzungen und Konferenzen
  • 21 Updates der Website gemacht
  • 7’452 Minuten anerkannte LAP-Arbeit geleistet
  • ∞ Noten berechnet und berechnet und noch mal
  • 23 Buchhandlungen meiner Lernenden besucht
  • Zu jedem Punkt gäbe es noch einmal eine ganze Reihe zu sagen. Aber ich wüsste nicht bei welchem anfangen. Any one?

    Kinder von Beslan

    Susan Sontag ist gestorben. Ich könnte einen wundervollen Nachruf schreiben, die Frau hat mich geprägt, an ihren Essays habe ich gelernt.
    Und die Kaltmamsell hat ein wunderschönes Bild aus einer alten Altjahrswoche in ihrem Weblog. Auch das könnte ein Anstoss sein für ein Lieblingsthema von mir: Kinder lesen.
    Aber heute geht es nicht. Die Tamilien, die nicht wie gewohnt an der Kasse stehen, nicht bedienen im Restaurant, die Thailänderin, die nicht vorbeigejoggt ist und die Familie aus Madras, die vier Stöcke unter mir wohnt, von denen niemand die Wohnung verlassen hat. Es ist das Raunen des Leidens, das auch mich erreicht. Ein Echo von Hunderten, die sich über geknickte Kinderköpfe beugen, von Tausenden, die tote Hände halten und zu verdursten drohen mitten im Wasser.
    Und „Die Kinder von Beslan“ – sie lagen heute als neuer SPIEGEL-Titel (Heft 53/2004) im Briefkasten. Ein unerträglicher Bericht. Von sechs Journalistinnen und Journalisten ausgezeichnet recherchiert.
    Unerträglich, weil ich nicht wissen will, dass man dem Vater ein Formular mit dem Namen seiner Tochter, Alana Kazanowa, geboren am 23. Februar 1989, zur Unterschrift hinhält, um ihren Tod zu bestätigen. Ausser wenn er für 300 Euro eine Genprobe machen lassen möchte natürlich. Weil ich nicht wissen will, dass er aufgefordert wird, zwei Decken und sieben Meter Zellophan zu beschaffen, bevor er die Leiche, die vielleicht sein Kind ist, erhält. Weil ich nicht wissen will, dass Spediteure Kühllaster vorfahren und Stauraum verkaufen, pro Leiche und Nacht für 300 Rubel und nicht wissen will, dass der Vater einen Platz kauft für seine Alana.
    Ausgezeichnet recherchiert, weil das sehr schwierig ist in Russland. Weil viel Aufwand betrieben wurde, um eine Chronik der Ereignisse zu erstellen und damit wenigstens einen Teil der minutiösen Arbeit zu leisten, die russische Behörden und Presse hätten leisten sollen. Aber solche Arbeit wird nur auf öffentlichen Druck hin gemacht, und den gibt es nicht in Russland.
    Mich hat Tschernobyl politisiert. Und deshalb habe ich mich immer wieder mit der Informations-Tradition in Russland beschäftigt. „Schweigen und Verschweigen sind über die Jahrhunderte zum festen Bestand der Kultur geworden, zu einem Schutzschirm vor den Zumutungen (..)“ schreibt der SPIEGEL. „Unsere Geschichte ist eine Geschichte des Leidens. Leiden ist unsere Zuflucht, unser Kult. Wir sind von ihm hypnotisiert. Aber ich wollte (…) nach etwas anderem fragen – nach dem Sinn des menschlichen Lebens, unserer Existenz auf Erden, “ schreibt Swetlana Alexijewitsch zu ihren Interviews mit Überlebenden von Tschernobyl.
    Ich brauche wenige Fotos, das meiste erlese ich mir. Im Wortsinn, ich brauche guten Journalismus, gute Bücher, gute Bilder. Denn nur Qualität gibt der Information Kraft. Die Opfer haben keinen Schund verdient, was sie brauchen, ist eine Stimme.
    Und also finde ich doch noch zurück zum Anfang: Susan Sontag war eine klare Denkerin in humanistischer Tradition und keine mit Wortverschleiss. Ich werde sie vermissen. Und ich war ein Buch-Kind. Lange auch ein Ein-Buch-Kind. Denn auf der Reise nach Indien hatte ich ein Jahr lang nur ein einziges. Viele seiner Seiten sind angesengt von flackernden Kerzen. An elektrisches Licht kann ich mich nicht erinnern in Bam, Madras, Goa, Amritsar, Kabul und Teheran.

    Information is Power

    Meine Katastrophenbilder sind solche aus Zeitungen, vom Internet und aus Büchern, denn ich habe seit sieben Jahren keinen Fernseher mehr und schaue auch sonst niergends TV.
    Aus Büchern wie James Nachtweys Inferno kenne ich jedes Bild, vielleicht fast jeden Bildausschnitt. Über das Einstürzen der WTC-Türme bin ich online wie offline so umfassend dokumentiert, dass mir an den Jahrestagen kleinste Fehler in Bildunterschriften sofort ins Auge stechen.
    Ich weiss nicht, ob diese Meldung stimmt. Indische Online-Medien berichten bis jetzt nichts davon, aber ich hoffe sehr, dass es rasch gelingt, Alarmwege einzurichten.
    Diese Katastrophe ist einmal mehr eine der Armut und der mangelnden Information. Wissen wird nicht verteilt, es wird nicht geteilt. Man möchte ja schon, aber der Transfer lässt sich nicht schnell genug umsetzen. Der von mir hoch geschätzte Freire hat Grundsteine gelegt, die von mir ebenfalls sehr geschätzte UNO hat alles deklariert, zu den Konferenzen wurde geladen. Aber es hilft nichts. Eine Welle bricht los, viele Wissenschaftler sehen sie kommen, es bleiben eineinhalb Stunden für die Flucht, aber keiner vor Ort weiss es. Wie in Tschernobyl. Ein Reaktor explodiert und die Bevölkerung hat keine Ahnung, was Strahlung ist.
    Seit Jahren begleitet mich die schriftliche Aufforderung einer Gruppe von Frauen, mit denen ich einmal zusammengearbeitet habe:

    „Information is Power. Use it. Share it.“

    Doch ich sitze hier und kann verzweifeln darüber, dass es nicht funktioniert. Oder aufstehen und mithelfen, dass es wenigstens ein bisschen funktioniert. Auch wenn es Generationen dauert, bis man es merkt.

    zum Stephanstag…

    … eine Sibyllengeschichte. Frau Berg höxtpersönlich hat die einmal ausgesetzt. Ihres Zeichens Autorin und Redaktorin, hat sie dies‘ grosse Los vor zwei, drei Jahren den Abonnentinnen ihrer Mailingliste verteilt.
    Geldsegen ist etwas, worüber sich Buch-Menschen zwar köstlich amüsieren aber woran sie sich bestimmt nie gütlich tun können. Das fördert das absurde Gedankengut:

    Über Nacht war ich reich geworden. Eines meiner Bücher hatte sich innerhalb einer Woche einige Millionen Mal verkauft. Das hatte bis dahin nur Herr Cohelo geschafft. Die Bibel. Hitler. Sagte mein Verleger, schickte mir einen Strauß roter Rosen und einige Luchse. Ich ass das auf und dachte über die Ursache meines plötzlichen Erfolges nach. Da war es zu spüren, das Ende der Spassgesellschaft.

    [Aufs Ganze.]

    von der Verkaufsfront

    Mich erreicht ein Mail mit diversen Fragen von der Verkaufsfront. Nach besten Wissen und Gewissen habe ich das Mail der Lernenden beantwortet, aber eine Frage war knifflig:
    Situation:

    Ich bin gerade am Geschenke verpacken und alle anderen sind auch besetzt. Nun kommt ein Kunde und spricht mich an. Ich erkläre ihm freundlich, dass ich gerade am Bedienen sei und er spricht einfach weiter. Was soll ich tun, damit er nicht enttäuscht ist?

    Vielleicht hat trotz des Stresses jemand einen klugen Rat?