Ich habe dich beim Namen gerufen

Ich habe schon ein paar Tage Kopfschmerzen und das ist jeweils das Zeichen für mehr Schlaf und PC-frei. Aber bevor ich die Maschine für mindestens drei Tage herunterfahre, noch eine Buchempfehlung, die ich schon lange machen wollte.
Ich habe dich beim Namen gerufen Lesealbum 26. Seite
Dieser Band ist bei der Kritik durchgefallen. Von der Anderen Bibliothek hatte man mehr erwartet als ein gefällig aufgemachtes Namensbuch. Man sah darin den Anfang vom Abstieg in die Trivialität nach Enzensberger. Aber wie so häufig waren sich Kritiker und Käufer nicht einig und der Titel ging im Dezember 2007 viele Male über den Ladentisch.
Zu Recht. Das Buch vereint bekannte aber auch unbekannte Namensgedichte, jedes mit einer Bemerkung zur Herkunft des Gedichtes und – wo eruierbar – zur Motivation des Dichters. Etwas zur Etymologie der Vornamen ist wie in allen Namensbüchern auch dabei.
Hier wurde viel Lesenswertes von deutschen Dichtern und erstaunlich vielen Dichterinnen seit dem 17. Jahrhundert gesammelt. Konrad Bayers „für judith“, Elisabeth Borchers „Für Maximilian am ersten Schultag“, Paul Celans „Marianne“, Matthias Claudius‘ „An Frau Rebekka“, Theodor Fontanes „An Georg Fontane“, Marie Luise Kaschnitzs „Meine Schwester Lonja“, Else Lasker-Schülers „An den Prinzen Benjamin“, Doris Runges „für Kasper – du also“ und Karl Stamms „Sonnett an Inez“ sind nur einige Beispiele von Gedichten, die nicht jeder kennt.
Es handelt sich dabei – das liegt in der Natur der Sache – zu einem grossen Teil um gewidmete Lyrik. Aber genau diese ist ein wichtiges Zeugnis dafür, wie Menschen über die Jahrhunderte Gefühle teilen, wie sie Liebe, Freude, Sehnsucht, Not und Leid in Worte fassen, wenn es mindestens so sehr wie um sie selber, um einen anderen geht.

Die letzte FRAZ

Heute habe ich die letzte FRAZ bekommen, die „Ex & Hopp“-Nummer. Vieles, was ich mag, ist nicht mehr kommod oder existenziell bedroht. Mit noch nicht ganz vierzig habe ich schon allen Grund, schrullig zu werden. Es ist nämlich dem Alter vorbehalten, persönlich beleidigt zu sein, wenn etwas Gewohntes abgeschafft wird, sei es auch nur ein Satz auf der Rückseite der Verpackung vom Ankemödeli. Oder eben ein defizitäres Printprodukt.
Die letzte Nummer
Don’t miss:
Das erste Editorial
Der Bestelltalon für alte Nummern
Referenz in diesem Blog:
25. Seite
Zum Weltfrauentag 2008

Oper live daheim

Dass die Oper „La Bohème“ heute live übertragen wurde, bedeutete wirklich, dass in Echtzeit gespielt wurde. Die Sängerinnen und Sänger mussten zwischen den Schauplätzen hin und her rennen. Es war sehr unterhaltsam von oben zuzuschauen, wie die Mimi von der Liebeszene in der Hauswartswohnung zum Streit in der Pizzeria und wieder zurück ins Malatelier zum Duett sprintete und danach gleich wieder die vielen Treppen hinauf zur Haltestelle, um endlich im Bus zu sterben.
Ich habe viel über Fernsehtechnik gelernt, Neues über Medienarbeit erfahren, ein Mini-Interview gegeben, oft gelacht und vorhin noch rasch die Quartierwebsite aktualisiert. Nun ist „mein“ Block keine Opernkulisse mehr, sondern was er immer war: ein guter Platz zum Leben.

Mein ganz persönlicher Scheinwerfer

Ich hatte ein in vielerlei Hinsicht erhellendes Wochenende.
Freitags war ich im Theater einer Jugengruppe von Bern West. Es fand in unserem Gemeinschaftszentrum statt. Die Beschreibung klingt vielleicht etwas gewunden, aber das Stück selber war’s überhaupt nicht, im Gegenteil. Es war zum Lachen und zum Heulen, genau wie Fluchtgeschichten häufig sind. Authentisch.
Samstags haben Mann und Kind mein Büro gestrichen. Und es wurde Licht. Vielen Dank.
Und abends hatte ich sehr angenehme Gäste aus dem Leherkollegium, daneben laufend und gut hörbar die technischen Proben zum „Opernereignis“ über uns, unter uns, neben uns. Die Lüfte teilen sich im Moment die Spider-Kameras mit den wegziehenden Schwalben, das schafft Ruhe von den Tauben.
Bis vor einer halben Stunde klang Puccini durchs ganze Quartier, diese Opernstimmen tragen beeindruckend weit. Nun wird es ruhiger. Aber es bleibt noch ein ganz persönlicher Scheinwerfer, der genau in unsere Wohnung leuchtet.
Scheinwerfer SF DRS in meine Wohnstube

Warum man (trotzdem) wählen muss

Vor vier Monaten habe ich ein paar Fragen zu deutscher Politik gestellt und ein paar Antworten bekommen. Danke.
Was mich heute beelendet, ist die tiefe Wahlbeteiligung. In Deutschland gibt es im Vergleich zur Schweiz weniger Möglichkeiten, sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen und denmanch weniger häufig Meinungsbildungsansprüche und weniger Wahlstress. Warum gehen trotzdem nicht alle zur Wahl?
Es gibt für mich nur zwei Gründe, nicht zu wählen: Das Resultat ist abgekartet oder das Resultat ist egal. Beides trifft für Deutschland nicht zu. Was ist also los? Werden Wahl-Killerargumente im Alltag zu wenig gekontert?
Meine Antworten sind weder orginell noch neu. Eigentlich ganz und gar unspektakulär. Aber weil sich die Phrasen doch hartnäckig halten, schadet Wiederholung nichts.

  • Meine Stimme bringt nichts.
    So denkende Menschen beeinflussen das Wahlergebnis und die Politik enorm. Denn sie allein lassen zu, dass zu wenige bestimmen, wer regiert und wie das getan wird. Nichtwähler nützen extremen Parteien, weil die ihre Wählerschaft in der Regel gut mobilisieren können. Und das sind meist nicht die, die sich Nichtwähler wünschten. (Wenn ich nicht irre, ist es in Deutschland so: Wenn alle 60 Millionen -? – Wahlberechtigten zur Wahl gehen, braucht eine Splitterpartei 3 Millionen Stimmen, um ins Parlament zu kommen. Geht aber nur die Hälfte der Wahlberechtigten zur Wahl, genügen der Splitterparteil schon 1,5 Millionen Stimmen, und sie ist im Parlament.)
  • Politik ist immer gleich blöd, es spielt keine Rolle, wer regiert.
    Diese Eindruck ist falsch, aber das ist in Deutschland nicht immer spürbar. In der Schweiz, wo es halt viele Abstimmungen – oft auch mit geringer Stimmbeteiligung – gibt, wird über eine Legislatur viel klarer, wer welche Antworten zu welchen Fragen hat. Aber auch in Deutschland müsste doch eine Mehrheit der Menschen mindestens ein Thema haben, das ihnen besonders am Herzen liegt. Bei einzelnen Themen sieht man nämlich die Unterschiede zwischen den Parteien und Politikern viel besser als bei den Meta-Themen, mit denen sich zwangsläufig alle befassen und einander annähern müssen (z.B. Wirtschaftskrise).
  • Ich weiss nicht, wen ich wählen soll.
    Hier wieder: Ein Thema nehmen, das einem selber wichtig ist. Oder mehrere. Es ist heute dank dem Medien-Archiv Internet einfacher geworden, die Positionen einzelner Politikerinnen und Parteien zu einzelnen Sachfragen zu eruieren. Eine Alternative wäre, sich selber politisch zu engagieren. Es gibt sicher auch in Deutschland verschiedene Möglichkeiten dazu und nicht alle sind gleich aufwändig. Wer das tut, findet nebenbei heraus, von wem er sich besser vertreten fühlt (und lernt auch sonst eine ganze Menge).
  • Wahlkampf nervt, ich mag das gar nicht mehr hören/lesen.
    Leuten, die das sagen, ist schwer beizukommen. Denn sie wissen nicht, dass keine Wahl und kein Wahlkampf tausendmal schlimmer sind. Man kann es ihnen deshalb nicht recht machen. Schröder war zu laut, zu sehr auf Show. Merkel ist zu leise, zu wenig Bühnenmensch. Ich habe keine clevere Antwort und zitiere deshalb Herrn di Lorenzo, DIE ZEIT:
  • (…) das ist Ausdruck eines Anspruchsdenkens, das inzwischen einer Selbstbeschädigung gleicht. Bei uns ist der unglückliche Umgang mit einem Dienstwagen eine Staatsaffäre, der Gebrauch von Flug-Bonusmeilen ein Rücktrittsgrund und ein sogenanntes Fernsehduell, in dem zwei Kandidaten an einem sachlichen Austausch interessiert waren, eine Schandtat. Sind wir eigentlich noch recht bei Trost?

    Aufs Ganze.

  • Ich wähle aus Protest nicht.
    Nichtwählen kann nur ein Protest sein, wenn das Ergebnis abgekartet oder unerheblich ist. Wer aber in Deutschland protestieren will, muss wählen. Das ist der einzige Weg, seine Meinung Kund zu tun und der einzige, Extremismus und Einseitigkeit in der Politik zu vermeiden.
  • „Warum man (trotzdem) wählen muss“ weiterlesen

    Tischgespräch [39]

    [In der Waschküche]
    Mutter:
    Kiiiind! Komm her!
    Kind:
    Bin ja da. Was ist los?
    Mutter:
    Ich habe die weissen T-Shirts verfärbt.
    Kind:
    Ich seh nichts.
    Mutter:
    Doch! Alles blau-grau.
    Kind:
    Die waren schon immer so.
    Mutter:
    Nein. Ich habe alles verfärbt. So eine Scheisse.
    Kind:
    Und wenn schon. Sind sowieso solche, die man drunter trägt.
    Mutter:
    Aber nur schlechte Hausfrauen haben verfärbte Wäsche!
    Kind:
    Seit wann bist du eine gute Hausfrau? Seit Jahren sagst du, dass du das nicht sein willst. Ist doch in Ordnung.

    Das bisschen Alltag

    Heute Morgen war ich am Telefon sehr genervt zu einem Ehemaligen. Mit ihm hatte es nichts zu tun. Ich bezweifle, dass ich mich angemessen entschuldigt habe. Hoffentlich liest er hier mit.
    **
    Das Kind findet den neuen Bänz Friedli witzig. Aber er stelle sich selber immer gut hin, indem er sich schlecht hinstelle. Des Kindes erste Begegnung mit dem kolumnistischen Ich, welches mir aus diesem und anderen Blogs bestens vertraut ist.
    **
    Ich schlüpfe beim Gehen aus einem meiner neuen Herbst-Heels, habe sie wohl mit zu warmen Füssen probiert. Man muss in dem Fall etwas kaufen was „Fersenhalter“ heisst und nicht in besonders vielen Läden erhältlich ist.
    **
    Der Hausdienst unserer Schule hat – es sind Herbstschulferien – alle Innereinen aus den Wasserhähnen (diesen Plural muss ich immer nachschauen) entfernt. Sieht man als User nicht, dafür kommt einem der Stahl absolut unkontrolliert und überraschend entgegen. Meine Jeans und Bluse sind jetzt halt nass.
    **
    Ich habe alle Unterrichtsbesuche und alle Mitarbeitergespräche dieses Schuljahres fertig geplant und frage mich, wie ich die Zeit überlebt habe, als man auf einem PC nur ein Programm auf einmal offen halten konnte.
    **
    In unserem Quartier wird eine Oper gefilmt, jeder gerade Quadratmeter ist überstellt mit Wägelchen und Wagen von SF DRS. Wir sollen in der Nacht das Licht brennen lassen, weil dann die Häuserblöcke schön aussehen. Wir haben dafür einen Kinogutschein bekommen.

    Ungehinderte Kindheit

    Als ich neulich einen Abendspaziergang machte, fielen mir – ich weiss nicht, ob es an einem Duft, der Jahrezeit, einem entgegenkommenden Spaziergänger lag – viele Namen von Behinderten ein, mit denen ich als Kind viel Zeit verbracht hatte. Ich habe zu Hause meine Fotos hervorgeholt und mich noch besser erinnert. (Und ich habe auch gesehen, dass ich zwischendruch ganz schön wild und unfreundlich sein konnte, wie auf dem letzten Bild.)
    Eriz 4
    Eriz 5Eriz 6
    Eriz 2
    Eriz 7Eriz 1

    Ich verbrachte eine Menge meiner Vorschulzeit mit Behinderten, ich habe es in einer Buchbesprechung schon einmal erwähnt. Ich dachte seither manchmal, das hätte meine Sozialisation erschwert, aber inzwischen sehe ich, wie gut mir das getan hat. Diese Kindheit vermochte mich zwar nicht genormt zu erziehen und ich musste diesbezüglich einiges nachholen. Aber sie lehrte mich das, was man braucht, um sich überall schnell zu integrieren: Umgang mit dem Fremdsein. In diesem Zusammenhang ein Hoch auf die Kuschel-Heilpädagoginnen und -pädagogen, die anstatt Abgrenzung Basisdemokratie anstrebten, die mit Wiedersprüchen und Rückschlägen umzugehen wussten, die mein Leben liebe- und verständnisvoll prägten und die mir bis heute Vorbilder geblieben sind.

    Tagesbilanz

    Schlecht ist:
    Ich komme nicht zum Schreiben. Ich habe gerade zu viele Probleme zu lösen und brauche die wenige verbleibende Wachzeit zum Lesen, weil ich ohne kaum funktionieren täte. (Andere brauchen Sudoku oder sonstige Drogen.)
    Gut ist:
    Dass der heutige Tag vorbei ist. Der Mann fürchtete, bei einem Geschäftstermin gegrillt zu werden und wurde es nicht (ganz). Ich fürchtete, an einer Sitzung der Kantone nicht erhört zu werden und wurde es doch (ein wenig). Und das Kind ist so gut wie wohlbehalten aus der Landschulwoche zurück. Wenn auch mit zwei eiternden Handballen und einer geplatzen Augenbraue.