Pendelgedanken

Zum Pendeln habe ich ein ambivalentes Verhältnis.
Für mich wäre es schwierig, aber ich sehe ein, dass eine Menge Leute nicht anders können. Doch der Verkehr – vor allem der mit dem Auto – stört mich. Ganz besonders in der Schule, wo man zu Pendlerzeiten sein und der anderen Wort nicht mehr versteht. Pendlerzeitungen begleiten mich den ganzen Tag, ohne dass ich je eine lesen würde: als Abfall, als Ablenkung in den Klassen, als Konkurrenz zu besser Gedrucktem. Aber vielleicht ist es ja Leseförderung.
Ich war immer in Berufen mit vielen Teilzeitleuten tätig, und deswegen ist auch die betriebswirtschaftliche Erfahrung mit dem Pendeln durchzogen. Pendlerinnen und Pendler kommen ab einer gewissen Distanz nicht mehr zu Anlässen, die an Nicht-Arbeitstagen stattfinden, selbst wenn diese lustig oder nachhaltig nützlich sind. Und wenn man sie zwingt, sind sie unzufrieden („extra für diese Kleinigkeit nach B…“) oder zu spät („Parkplatzproblem in B…“) oder gehen früher („Mein Zug..“). Dafür sind sie an den Arbeitstagen pünktlicher, weil sie ihren Arbeitsweg besser planen und auch mittags nicht tausend Dinge zu erledigen haben.
Pendeln muss wohl, wer vom Lande kommt, weil da haben nicht mehr alle Nachkommen ein Auskommen. Pendeln muss auch, wer seine Partner wie z.B. die Familie nicht vom Umzug überzeugen kann, weil Wohnort ja auch Arbeitsort oder Schulort ist. Pendeln muss, wer befristet an einem anderen Ort arbeitet oder studiert.
Und sonst? Was hält einen davon ab, dort zu arbeiten, wo man wohnt oder umgekehrt? Die Wohnungsnot in den Städten? Ich glaube eher, es ist das Häuschen im Grünen, die Kinderaufzucht auf dem Lande, die Unsicherheit, die mit Umzügen verbunden ist.
Ich reise nicht so viel in meinem Beruf, aber genug, um zu erleben, dass Pendeln eine höchst ungeliebte Tätigkeit ist. Auf der Strecke Bern-Zürich v.v. schlägt jede noch so gute Stimmung rasch um in Unzufriedenheit. Mit hunderten von Menschen zusammen zu sein, die etwas ungern tun, deprimiert mich seit jeher; ich kann beispielsweise nicht dauerhaft mit Leuten zusammen sein, die ihre Arbeit nicht mögen.
Ich bin nun dazu übergegangen, etwas längere Reisewege in Kauf und dafür anstatt den Inter City den Inter Regio zu nehmen. Das reicht sogar für Blogbeiträge, die man sonst niemals verfasst hätte. Kann ich nur empfehlen.

Buchhandel im Wandel: ein Ausschnitt

In der Münstergass-Buchhandlung 1993
Es gibt drei Fotos von mir bei der Arbeit in einer Buchhandlung: Dieses und eines, auf dem ich Druckerpapier (gestreift, mit gelochtem Rand) einlege und noch eines, auf dem ich nach einem Ordner greife. Alle sind aus den Neunzigerjahren.
Was ist anders, was gleich?
Hinter mir sieht man sechs grüne Bände VLB: das Verzeichnis der lieferbaren Bücher im deutschsprachigen Raum. Heute gibt es das als sekundenaktuelle Datenbank, die selten mehr direkt, sondern via Schnittstelle zum eigenen Warenwirtschaftssystem benutzt wird. Darüber sieht man das Abholfach, welches wohl in jeder Buchhandlung nach wie vor existiert. Hier werden Bestellungen, die von Kunden abgeholt werden, nach Kundennamen geordnet eingeräumt.
Ganz oben auf dem Gestell in meinem Rücken sieht man zwei Brockhaus-Ausgaben, einmal den dtv-Brockhaus und einen Band des 24 bändingen Brockhaus. Tempi passati (s. Pegasus 89, S. 4).
An der Ecke vorne liegen Zeitschriften auf. Der „Widerspruch“ (violett) existiert nach wie vor. Der „Freibeuter“ (rot-orange), die Zeitschrift für Kultur und Politik aus dem Wagenbach Verlag wurde 1999 zwar eingestellt, aber der Verlag ist noch da. Von Wagenbach ist auch der blaue Band (aufgestellt) über Ludiwig XIV, welcher als Taschenbuch nach wie vor lieferbar ist.
Der Titel links davon Adieu, Monsieur ist natürlich vergriffen. (Die Bundesrätin, die damals auf Duck der Frauen gewählt wurde ist inzwischen längst zurückgetreten. Wir haben heute drei Bundesrätinnen und eine Bundeskanzlerin. Das Kick-off war 1993 auf der Strasse vor dem Bundeshaus.)
Dann der Computer. Der war beige und lief heiss. Wir hatten noch kein Internet, aber wir übermittelten unsere Bestellungen schon damals elektronisch. Ob ich dazu 1993 noch den Hörer abheben und mit Klettverschluss auf eine Vorrichtung am Modem fixieren musste und mich während der Übermittlung kaum bewegen durfte, weiss ich nicht mehr genau. Vielleicht war das noch früher.
„Buchhandel im Wandel: ein Ausschnitt“ weiterlesen

10 Irrtümer über Feminismus

Frau Kaltmamsell hat sich in PR-mässig gekonnter und daher besonders einfach verständlicher Weise um den Feminismus verdient gemacht, indem sie „10 Irrtümer“ dazu aufgeklärt hat. Merci beaucoup.
Teil 1:
1. Feministinnen mögen keine Männer
2. Feminismus schadet der Beziehung zwischen den Geschlechtern
3. Feministinnen sind hässlich
4. Feminismus ist überflüssig geworden
5. Feministinnen halten Männer und Frauen für ununterscheidbar
Teil 2:
6. Feministinnen verleugnen ihre Weiblichkeit
7. Feminismus ist gleich Alice Schwarzer
8. Feminismus bedeutet Verbote
9. Feminismus ist altmodisch
X. Feministinnen halten aus weiblicher Solidarität zusammen
Ich hätte noch eine kleine Ergänzung zu 3. und 6.:
Feministinnen haben etwas gegen weibliche Schönheit.
Nö. Feministinnen haben etwas gegen Schönheit als Währung.

Weniger zu lachen

Er sei ungefragt auf die Welt gekommen und habe versucht, aus dem Ungefragten etwas Gefragtes zu machen, konstatierte Hugo Loetscher, als ich ihn zum letzen Mal gehört habe. Er las nie nur vor, er erzählte viel mehr und schweifte gerne ab, aber immer so, dass das Publikum bei der Sache blieb. Wie sehr er es liebte, zu lesen, merkte ich erstmals, als er an der Abschlussfeier einer meiner Lehrfrauen auftrat, das war wohl 1993. Es gab eine Menge, was nicht geklappt hat an dieser Feier (ja, schon damals), es war zu eng, stickig heiss und dafür umso lustiger mit Loetscher. Jetzt werden wir weniger zu lachen haben in der helvetischen Literatur, schrieb Jürg Altwegg passend im Nachruf der FAZ.
Loetschers Buch War meine Zeit meine Zeit, das er augenzwinkernd zur „späten Prosa“ erklärt hatte, wird noch diese Woche im Buchhandel erwartet.

Schnäppchenglück

passiert mir wirklich nie. Aber gerade jetzt, wo man vor lauter Hitze nicht mehr mit der Wäsche nachkommt und es doch überall nur Wintermäntel zu kaufen gibt, gerade jetzt wird mir der bequemste Rock meines Lebens zum halben Preis zugetragen. Dass er die falsche Farbe hat, ist gut zu verschmerzen.
Design: Maria Westerlind (lädt ewig)
Erworben bei: Kitchener
Zum Schnappschuss vom Schnäppchen „Schnäppchenglück“ weiterlesen

Berufsbildung hilft

Meine Worte, heute ausnahmsweise einmal in der NZZ am Sonntag, so richtig Schwarz auf Zeitungspapier, geschrieben von Michael Furger:

Nichts gegen akademische Laufbahnen und schon gar nichts gegen unsere Hochschulen und ihre herausragende Forschungsleistung. Aber das Schweizer Bildungswesen ist nicht ihretwegen so erfolgreich – sondern wegen der Berufsbildung.
Klar wird dies, wenn wir unser Bildungswesen an jener Grösse messen, an der wir es massen sollten; nicht an der Akademikerquote, sondern daran, wie die Integration der nächsten Generation in den Arbeitsmarkt gelingt. (…)
In diesem Punkt kann der Schweiz kein Land in Europa etwas vormachen. Nirgends gelingt die Integration ins Berufsleben besser als hier. Die Arbeitslosigkeit der 15- bis 24-Jährigen beläuft sich derzeit auf 4.5 Prozent. Wegen der Krise ein hoher Wert, aber nichts im Vergleich zu unseren Nachbarn: 10 Prozent in Deutschland, 22 Prozent in Frankreich, 25 Prozent in Italien. In Finnland sind es 19 Prozent.

Wer ahnt oder erlebt, wie oft in der Schweiz nach einer höheren Gymansialquote gerufen wird und wie häufig gerade Lehrpersonen sich die Strategien Finnlands vorführen lassen müssen, weil dort 95 Prozent – 2% (!) Migranten inklusive – das Gymansium schaffen, versteht vielleicht, weshalb ich mich morgen ein wenig aufrechter in eine neue Woche im Dienste der Berufsbildung begebe.

Wochenrückblick

Die Woche begann gut, die Neuen waren sehr nett und was ich bei der Planung vergessen oder unterlassen hatte (es ist immer etwas!) nicht weiter schlimm.
Es ging auch gut weiter, nur bereute ich, im Voraus Termine vereinbart zu haben. In der ersten Schulwoche ist es nämlich so, dass so viele neue Termine ganz von allein auf mich zukommen, dass ich es kaum noch bewältigen kann, wenn schon welche da sind. Ich träume dann davon und weiss morgens kaum noch, welcher Tag gerade ist, geschweige denn, wer mich was gefragt hat. Note to myself: Agenda in der ersten Schulwoche leer lassen. (Ausser Unterricht natürlich.)
Auch das Kind hat gut angefangen, es ist mit Klasse und Lehrern sehr zufrieden und endlos erleichtert, dass es den Mathematiklehrer versteht und der Geschichtslehrer wirklich und wahrhaftlich Geschichte und nicht (wie der vorherige Geschichtslehrer) vorwiegend Physik lehrt. „Kann man ohne Geschichtsunterricht leben?“, habe er rhetorisch gefragt und sich die Frage auch gleich mit „Ja.“ beantwortet. „Kann man ohne Geschichte leben?“ habe er danach gefragt und auch diese Frage gleich selbst beantwortet, aber mit „Nein. Jeder möchte seinen Geburtstag kennen, jeder will wissen, wer seine Eltern sind.“
A propos Geschichte. Ich musste diese Woche häufig an Shalom Auslander denken, den Autoren von „Eine Vorhaut klagt an“. (Habe ich schon gesagt, dass dieses Buch unbedingt gelesen werden sollte? Dass es Balsam für die verlorenen Seelen sämtlicher nicht religiöser Menschen sei? Falls nicht, tue ich es hiermit. Gebunden und als Hörbuch(Download) erhältlich und das Taschenbuch erscheint nächsten März.)
Eben, an Auslander habe ich mich erinnert, weil er sich von seiner frommen New Yorker Familie nach Woodstock abgesetzt hat. Zitat aus Eine Vorhaut klagt an, S. 294:

Woodstock ist ein blühendes Touristenstädtchen, das auf der ganzen Welt für etwas bekannt ist, das dort eigentlich gar nicht stattgefunden hat; das berühmte Musikfestival war in Bethel, einem nichtblühenden Städtchen, das für etwas, das dort stattgefunden hat, nirgendwo berühmt ist.
Die Bilder geben nicht den tatsächlichen Inhalt wieder.
[Hier zitiert der Autor, was er als Junge auf den Pornovideos gelesen hatte, sic.]

Obwohl mich das Thema Woodstock als Event nur bedingt interessiert – den Film habe ich einmal gesehen, die Musik gehört aber zu meinem Leben – habe ich heute im Feuilleton meiner Tageszeitung gelesen, dass es ein neues Museum gebe, welches der von Auslander erwähnten Tatsache Rechnung trage: Das BethelWoodsCenter. (Ich freue mich aber sehr auf den Film von Ang Lee „Taking Woodstock“. Wenn jemand, dann hat Lee das Zeug dazu, aus dem Mythos eine brauchbare Geschichte zu machen.)

Anfang und Ende

Ich hatte gerade einen verklärten Entwurf über die Bedeutung des Schulanfangs geschrieben: Die Nachbarn im Block sind aus ihren Heimatländern ins schweizer Exil zurückgekehrt, das Kind hat das Gymansium begonnen und an der Berner Buchhändlerschule haben 43 neue Azubis und fünf neue Lehrpersonen ihre Arbeit angefangen.
Dann kam die Nachricht, dass der werte literarische Verlag der Deutschschweiz und treue Partner unserer Schule aufhöre. Und mit dieser Meldung ist mir die „Alles-wird-gut“-Schreiberei völlig verleidet.
Alles habe seine Zeit, schrieb Egon Ammann in seiner Pressemitteilung.
In Ordnung. Abends bin ich sentimental.

Kick-Off fürs neue Schuljahr

Gestern hatten wir unsere „Einsteigtag“ ins neue Schuljahr. Morgens und sogar über Mittag waren Fachschaftssitzungen und Abteilungskonferenzen, nachmittags folgte dann die grosse Schulkonferenz. Unsere Schule zählt um die 500 Angestellte und das ist der Anlass, an dem ein grosser Teil von denen dabei ist. (Ich hatte extra den Fotoapparat mitgenommen, doch ist kein gutes Bild gelungen. Es können sich bestimmt alle vorstellen, wie ein Gross(informations)anlass in einer Schule aussieht.)
Was ich gestern zu sagen und zu erklären hatte, ging gut über die Bühne; unsere Abteilungskonferenz ist zum Glück ein unkomplizierter Anlass. Nur etwas stört mich: Da Lehrpersonen per se verschiedene Funktionen haben und also oft an mehreren Konferenzen gleichzeitig sein müssten, sind leider nie alle dabei. So kommt es auch, dass sich das Team der Abteilung Buchhandel nie mit eigenen Augen als solches sieht. Entweder man ist an Veranstaltungen nicht komplett oder löst sich in der Masse auf. Das kann man sich in der Buchhandlung und auch sonst in der Privatwirtschaft nicht vorstellen. Ich musste lange lernen, dass die Berufsfachschule einfach eine Drehscheibe ist, die niemals still steht.
An der grösseren Konferenz hatte ich auch noch fünf Minuten Redezeit, ich stellte unseren neuen Verhaltenskodex vor. Erarbeitet habe ich den gemeinsam mit anderen Abteilungsleitern und er war bei allen Lehrpersonen in der Vernehmlassung. Der Verhaltenscodex mit einer Handvoll Punkten, ersetzt ab sofort unsere zweiseitige Hausordnung. Weil es aber viele Lehrerinnen und Lehrer gibt, die genauere Regeln wollen, haben wir den Kodex durch ein ABC ergänzt, in das laufend neue Begriffe aufgenommen werden können. Auch individuelle Regelungen mit Klassen sind nach wie vor möglich, die dürfen aber dem Verhaltenkodex nicht widersprechen. Diese Lösung scheint bis jetzt einigermassen gut anzukommen. (Gesagt ist noch nicht gehört und gehört nicht verstanden und verstanden noch nicht angewandt… Ich weiss das schon und ich erwarte nicht, dass es schnell geht mit der Umsetzung. Dennoch bin ich ein wenig stolz und sicher, dass wir hiermit mehr Verbesserungen erreichen können, als mit einer minutiösen Top-Down-Hausordnung.)
Und jetzt geh ich den 2. Teil vom 1. Teil von Kill Bill schauen. Das Samurai-Schwert ist fertig, ein neues Kapitel beginnt: „Showdown at House of Blue Leaves.“ Entspannung naht.