Rührung bei Lehrern

Dies ist unsere letzte Schulwoche vor Weihnachten. Die angehenden Buchhändlerinnen und Buchhändler haben zwei Wochen früher schulfrei als alle anderen, weil sie in den Buchhandlungen gebraucht werden. Ich mache zu dieser Zeit nicht ganz „courant normal“, manchen Klassen spiele ich ein Lied vor, anderen verteile einen passenen Zeitungsartikel und etwas Schokolade. Die anderen Lehrerinnen und Lehrer tun Ähnliches.
Mein Kollege in Deutsch liest zum Abschluss ein Weihnachtsgedicht. Vor der letzten Zeile von Brechts „Die gute Nacht“ macht er eine kleine Pause, weil er so gerührt ist. Auch ich muss kurz schlucken, als mir eine Schülerin mir selbst Gebackenes bringt. In solchen Momenten schätze ich mich wirklich glücklich, Lehrerin zu sein.
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Erinnerungen an lateinamerikanische Literatur

Ich habe meine Lehre in einer Zeit (1988-1991) gemacht, in der lateinamerikanische Autorinnen und Autoren vom Lesepublikum verlangt und deswegen von Verlagen (neu) entdeckt wurden. Der grosse Borges war damals zwar schon tot, aber ein Star und bekannt in der Schweiz, er hatte ja in Genf gelebt. Fuentes‘ Werke aus den Siebzigerjahren wurden gerade neu ins Deutsche übertragen und Cortázar gefiel nicht nur literarisch, sondern auch äusserlich, ich verkaufte in der Buchhandlung eine Postkarte mit seinem Portrait. Auch Puigs „Kuss der Spinnenfrau“ war dank der Verfilmung zum Longseller avanciert, ein Buch, das ich bis heute immer mal wieder empfehle (und dankbar bin, dass Suhrkamp eine umfassende – wenn auch bestimmt nicht rentable – Backlist führt). Neruda wurde Ende Achziger häufig zitiert, in den Medien ebenso wie auf Demos, was heute eher schwer vorstellbar ist. Galeanos historisches Werk „Die offenen Adern Lateinamerikas“ war weniger Buch als eine heilige Schrift der Intellektuellen. García Márquez war mir schon vor der Lehre ein Begriff gewesen, denn meine Mutter hatte alles von ihm und erwartete die Übersetzung seiner Neuerscheinungen jeweils mit Ungeduld. Auch Mauro de Vasconcelos kannte ich bereits, ich hatte ihn schon als Kind gelesen. Allende war im deutschsprachigen Raum mit dem „Geisterhaus“ bekannt geworden und sollte durch den Film mit Meryl Streep ja in den Neunzigern noch viel berühmter werden. Ihr Buch „Eva Luna“ war das allererste Leseexemplar, das ich von einem Vertreter bekommen habe.
Trotzdem kann ich bis heute der Handlung in lateinamerikanischen Romanen häufig schlecht folgen, es ist, als ob ich in einem riesigen, bunten Wollkorb voller Knäuel keinen greifbaren Faden fände. Das schmälert nicht meine Freude an der meisterhaften Erzählkunst der Lateinamerikaner und ich freue mich sehr auf den Ehrengast an der Buchmesse 2010. Ich höre die Lateinamerikaner alle sehr gerne reden, auch wenn ich mich meist mit Übersetzungen arragnieren muss. Lesungen und Podien mit lateinamerikanischen Autoren sind tiefgründig, hintergründig, politisch und pfiffig, ebenso ihre Interviews:
Kann der Roman als Form die Komplexität der heutigen Welt denn noch bewältigen?
Ja, denn er ist ein offenes und flexibles Genre, für alle Arten von Situationen oder Erfahrungen geeignet. Ich glaube nicht an den Niedergang des Romans. Das Problem scheint heute vielmehr, was mit dem Buch geschieht. Ist es dazu verdammt, durch Bildschirme ersetzt zu werden? Das würde unser Verständnis von Kultur nachhaltig beeinflussen.
Das ganze Gespräch mit Mario Vargas Llosa in der gestrigen NZZ.

Hausaufgabe: Interview zum Fall der Berliner Mauer

Ich weiss leider weder, wie ich vom Tod von Lady Di, noch wie genau ich vom Fall der Mauer erfahren habe. Letzteres musste ich gestern dem Kind gestehen, welches mit einer Interview-Hausaufgabe in Geschichte ankam. Aber der Geschichtslehrer sei zufrieden gewesen mit dem Ergebnis, er habe „sehr interessant“ gesagt. Was will man mehr? Ich finde es ja selber „sehr interessant“, was Jugendliche (auch meine Schülerinnen und Schüler) jeweils aus meinen Aussagen filtern:

  • Welche Bedeutung hat der Fall des eisernen Vorhangs für diese Person?
    Für sie als Buchhändlerin war wichtig, dass sehr viele Verlage eingegangen sind und viele Autoren die jetzt plötzlich frei waren, nach all den Jahren des „Eingesperrtseins“ gar keine Themen mehr zum Schreiben hatten. Im Allgemeinen war sie sehr erleichtert darüber, dass das Ganze friedlich verlaufen ist. Nach der Öffnung Ungarns befürchtete sie, dass bei noch mehr Druck auf Honecker grosse Unruhen oder sogar Krieg ausbrechen würde. Von dem her gesehen war es wie ein Wunder, dass die Sache gewaltlos ablief und dass es mit Gorbatschow einen Ostpolitiker gab, der freiwillig seine Macht aufgab.
  • Ganzes Aufgabe als PDF.

    Ein schöner Sonntag

    Zweimal gewonnen.
    Ein wunderbares Werk wurde heute völlig zu Recht mit dem Schweizer Buchpreis geehrt: Der Titel Mehr Meer von Ilma Rakusa, verdiente Autorin, Übersetzerin, Literaturkritikerin und Zugewanderte. Erschienen ist das Buch in einem österreichischen Verlag, der viel mehr kann als in rollenden Rubeln zu denken. (Und was für eine schöne Preisverleihung in Basel! Wiedersehen, Wichtigkeiten, Nichtigkeiten, Ironie und eine Prise Zunkunftszynismus im Kreise angenehmer Menschen, die alle Bücher lieben. Danke sehr.)
    Und unsere U-17 hat die Fussball-WM gewonnen. Danke Siegrist, Chappuis, Veseli, Rodriguez, Kamber, Buff, Xhaka, Martignoni, Kasami, Ben Khalifa, Seferovic (Siegestreffer), Goncalves, Hajrovic, Nimeley. Ein Equipe multicolore mit Jungs des Jahrgangs 1992 aus den Herkunftsländern Albanien, Bosnien-Herzegowina, Chile, Ghana, Kosovo, Portugal, Schweiz, Serbien, Tunesien.
    Ach du kleines, dummes Heimatland. Was wärst du ohne Einwanderer.

    Buchumschlag 2009 (mit Vorgeschichte)

    Notizen zur aktiven Ansprache
    Das Bild ist aus dem Buch „Bücher und Büchermacher“ von Erhardt Heinold, 2. Auflage 1988. Der S. Fischer Verlag hat eine turbulente Verlagsgeschichte, nach der Gründung 1886 folgten vor allem im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg verschiedene Metamorphosen, die im Konzentrationsprozess des neuen Jahrhunderts natürlich weiter gehen. Otto Eckmann hat 1895 das Signet mit dem Fischer und seinem Netz entworfen (s.a. Kommentar unten von S. Fischer). Die Idee dahinter war, dass Fischer die Literatur aus dem Weltmeer einholt und Weltliteratur zur Nahrung macht. Emil Rudolf Weiss (1) hat dem Fischer noch eine Fischerrute und einen Rahmen gegeben, Walter Tiemann (2) hat die Fischer-Buchstaben besonders für schmale Buchrücken tauglich gemacht. 1958 wurde das Signet dann von Jan Buchholz und Reni Hinsch (3) als Logo mit Rahmen, Fischer-Initialen und dem Fischer mit Netz neu aufgelegt.
    Notizen zur aktiven Ansprache
    Noch heute arbeitet der Verlag mit dem Fischer mit dem kräftigen Zug. Mein Favorit unter den Buchumschlägen dieses Jahres kommt ebenfalls aus dem Hause S. Fischer, zeigt mein Traumhaus und passt erst noch zum Inhalt. Letzteres ist bei Romanen ja seit jeher ein seltenes Vergnügen.

    Gedenke des Buchhandels

    Schön am Buchhandel ist, dass wir seit Jahren zu aufwändig ausgestalteten Abgesängen kommen. Das Produkt, welches wir verkaufen (gedrucktes Buch), der Laden, der wir sind (Detaillist), die Ausbildung, die wir gemacht und weiter gebracht haben (Buchhändlerin) – alles im freien Mauerfall. Die Buchhändler, die Ossis (können zwar lesen, neigen aber unter veränderten Bedingungen zu Intelligenzdefekten), auf der einen Seite und der Rest der Welt, die Wessis (können lesen, wissen immer wie’s läuft, auch in der Zukunft), auf der anderen.
    Der Pöstler, mein geschätzter Nachbar, die Kindergärtnerin, meine werte Bekannte, die Heilpädagogin, meine liebe Schwester: sie alle mussten den Untergang ihrer Berufe einsam und nahezu frei von medialer Abdankung ertragen. Ihre Berufung hat sich in Elementarteilchen aufgelöst, in englischen Begrifflichkeiten, praxisferne ECTS-Punkte und riesenhafte Post- und Schulkreise, die kaum mehr zu bearbeiten sind.
    Da lob ich mir die Grabreden auf meinen Beruf! Das ist Reminiszenz! Eine besonders umfassende ist im APuZ zur Buchmesse erschienen (Volltext online.) Alle Artikel dieser Nummer „Die Zukunft des Buches“ sind lesenswert, aber ich empfehle an erster Stelle: Der Buchmarkt im Strudel des Digitalen (Abschnitte im Inhalt einzeln anklicken).

    Rennen für Stimmrechtsalter 16

    Diesen Sonntag ging es nicht ums Überzeugen, sondern um das Monetäre. Wer Abstimmungen gewinnen will, braucht Geld. Der Sponsorenlauf begann um 16.00 Uhr, nach dem Einturnen mit Evi Allemann liefen die Engagierten eine halbe Stunde mit der Initiantin Nadine Masshardt um die Münsterplattform, pro Runde 250 m. Das Kind machte 22 Runden und holte 370.00 Franken, alle zusammen errannten über 4’000 Franken für die Kampagne. Der schnellste Fünfzehnjährige schaffte 25 Runden und schwang sich danach aufs Rad, um durch den kalten Abend heim in den Vorort zu fahren. Ja, ja, die heutige Jugend.
    Einlaufen Noch mehr Laufen
    Aussicht Austurnen

    Auf Achse für Stimmrechtsalter 16

    In einem Land, in dem ständig Abstimmungen stattfinden, ist die Arbeit auf der Gasse unabdingbar. Um eine Initiative oder ein Referendum zustande zu bringen, muss man einfach bereit sein, auf der Strasse zu diskutieren. Und um Abstimmungen zu gewinnen auch. Das Kind hat heute damit begonnen, für ein aktives Stimmrecht ab 16 Jahren.
    Werben für Stimmrechtsalter 16
    Ich war schon ein wenig stolz. Denn auf der Gasse wird man auch angegriffen, manchmal verhöhnt und oft für Dinge verantwortlich gemacht, von denen man gar nichts weiss, weil sie viel zu weit zurückliegen oder mit dem Thema nichts zu tun haben. Aber das Kind hat das alles mit Fassung getragen.
    Also, am 29. November 2009: Ja zum aktiven Stimmrecht der Sechzehn- und Siebzehnjährigen im Kanton Bern. Denn sie wissen, was sie tun.
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    Buchmesserückblick 2009

    Ich bin zurück, aber meine Fotos sind verwackelt, die Notizen unleserlich und beides trifft auch ein bisschen auf meine Erinnerung zu.
    Das Eiapopeia vom E-Content war sehr präsent, aber Neues gab es kaum, weswegen ich mich für mein Cross-Media-Burnout gar nicht besonders zu entschuldigen brauchte. Der Kindle steht – haargenau wie bei der letzten Messe – kurz vor dem Durchbruch in Europa, Google scannt schneller als das brancheneigene libreka das Angebot ausbauen kann, und ein Standardformat für E-Books ist noch nicht definiert; dass ePUB sich durchsetzen wird, scheint – wie schon im Vorjahr erkannt – wahrscheinlich.
    Es hatte etwas weniger Aussteller und vermutlich auch weniger Publikum. Wäre der Rollkoffer nicht der Boom, hätte man mehr Platz gehabt als andere Jahre. Die Verlage scheinen grundsätzlich der Meinung, dass es die Verlagsarbeit auch im Internet braucht, während die Buchhändler in den Workshops eine eher knappe Existenzrechnung machten.
    Harry Rowohlt kann immer noch lesen wie kein zweiter, ist aber etwas mager geworden. Auch der alte Kämpfer Klaus Wagenbach, posierte – zwar wie immer in rosa Hemd und roten Socken – etwas eingesunkener als auch schon am Treppengeländer.
    China präsentierte „Tradition & Innovation“, wobei ich nur ersteres fand, dafür in perfekter Form: Kung Fu in voller Härte, Peking Oper in ganzen Vielfalt, traumhafte Kostüme, phänomenale Masken, Gesang und Sprache, Akrobatik und Pantomime, dazu Drachenkünstler, Scheerenschnitt-Schneider, Kalligraphen und sogar ein Kabäuschen mit einem Thangka-Maler. Die „Gegenveranstaltungen“ hatten Anlaufschwierigkeiten mit vielen Absagen, aber die Helferinnen und Helfer – teils Exil-Chinesen -des PEN-Clubs verteilten stoisch die Tasche mit den aufgedruckten Bildern inhaftierter chinesischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Alles in allem präsentierte sich China als Land mit grossen ästhetischen Ansprüchen und widerstandsfähigen Bewohnern.
    Unsere Azubis waren motiviert und interessiert, machten ihre Aufgaben und hinterliessen – soweit mir das zugetragen wurde – einen ausgezeichneten Eindruck. Mir selber gefiel der kleine Vortrag des mare-Verlegers am besten, der als frisch promovierter Meeresbiologe aus dem Binnenland Schweiz auszog, um in Hamburg eine Zeitschrift zu gründen, die inzwischen um einen feinen und erfolgreichen Verlag ergänzt worden ist. Es gibt sie noch, die richtig gut gemachten Bücher, mit den passenden Bildern vom ausgesandten Fotografen, sorgfältig gesetzt, fehlerfrei und aus Papier, das gut riecht. Sie werden von einem Publikum gekauft, das überdurchschnittlich gebildet und gut verdienend ist, die Azubis haben extra nachgefragt.
    Sag ich ja. Bücher werden wieder zum Luxus.