Der Tisch

Der neue Platz
war da, als ich heute morgen meine neue Stelle in der Abteilungsleitung antrat. Der Stuhl kam später, der PC folgt. Ich brachte mein Notebook mit. Alle waren sehr nett zu mir. Einen halben Meter neben mir sitzt ab heute mein Chef. Oder umgekehrt.
Ich begrüsse diese Woche die Neuen, die ihre Lehre angefangen haben. Mit den „Bisherigen“ schaue ich zuerst die Unterrichtsbeurteilungen an. Weil in diesem Blog auch schon Interesse am „Lehrerzeugnis“ bekundet wurde, habe ich dieses Mal eine Beurteilung gescannt, mit deren Publikation ich einigermassen umgehen kann.
Das ist alles für heute.
Es ist Zeit für Langsamkeit.
Dazu Vereds Waffenruhe lesen.
Ich denke an David Grossman, wie er es hat kommen sehen und doch das Schlimmste nicht verhindern konnte. Und an meine Patentante, der besten Kinderbuchlektorin und einer treuen Leserin Grossmans, deren Todestag heute ist.

Ich habe fertig (Schule)

Das Praktische am Bloggen ist (neben der zu Unrecht verschrienen Ich-Politur) die Suchfunktion. Nicht-Bloggenden zu beschreiben, warum man sich zu TV-, Lese- oder Bettzeiten mit einem Expresso an den PC setzt um online Gedanken auf die Reihe zu kriegen, ist unmögich. Wie praktisch ein Archiv ist, begreift hingegen jeder ohne grossen Aufwand. In nur wenigen Sekunden sehe ich, was ich in der letzten Schulwoche vor einem Jahr gemacht habe.
Und um diesen fragilen Datenstrang nicht zu gefährden, deponiere ich hier einiges an Unterrichtsmaterial, vor dem ich Nicht-Buchhandelsleute nur warnen kann.
Im 1. Lehrjahr habe ich ein Glossar zusammengestellt. Zuerst bekamen die Lernenden die Kästchen blank und die Lösung später. Und sie durften meine Lösung korrigieren. Wer eine Erklärung nicht gut oder eine bessere Formulierung fand, meldete sich bei mir und ich änderte das. Trotz Fachliteratur mit Register sind so kleine Wörterbücher nützlich, weil sie den Langsameren helfen, sich an den Fachjargon zu gewöhnen. Und die Korrekturmöglichkeit ist für die, die schon weiter sind, eine gute Herausforderung.
(Wer mehr zum Thema „Mängel“ sehen möchte, ist im Buchhändleralltag richtig.)
Im 2. Lehrjahr habe ich einen Postenlauf zum Verkauf gemacht. Die Grundlagen kamen von Jörg Winter: Der Kunde ist Gast.

1. Posten: Verkaufsgespräch | Beobachtungen dazu
2. Posten: Einführung | Beobachtungen dazu
3. Posten: Einführung II
4. Posten: Kundengespräch
5. Posten: Preisargumente und Alternativen
6. Posten: Reklamationen
7. Posten: Position beziehen
Es gab teilweise sehr gute Antworten. Dass man sich im Verkauf bei jeder Kritik und jeder Reklamation einfach erst einmal entschuldigen muss, haben 90% der Lernenden verstanden. Insgesamt eine sehr schöne, runde Sache, um es mit Herrn Rau zu sagen.

Lehrabbruch

Zuerst war die Lernende schulisch schwach, wir fingen sie auf. Dann war sie krank, ein Therapeut fing sie auf. Dann wurde sie entlassen, und ich half erfolglos bei der Suche nach einer neuen Lehrstelle. Seit drei Wochen ist sie nicht mehr erschienen.
Auch wenn ich es nach Kräften zu vermeiden suche, ist das leider kein Einzelfall. Die Berufsfachschule ist ein Ort der Durchreise, die Auswahl der Lernenden treffen die Ausbildungsbetriebe, der Lehrvertrag wird zwischen ihnen und den Auszubildenden gemacht.
Lehrabbrüche sind schwierig zu erfassen und eine Tatsache, mit der eine Fachlehrerin leben muss. Aber ich möchte mich nicht abhärten lassen und rufe mir jedes Mal, wenn wieder ein Platz in der Schulbank leer bleibt, die letzte Strophe eines Heine-Gedichts in Erinnerung:

Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.

Ein Lehrabbruch, die Ursache für den Verlust der wichtigsten Perspektive in der Jugend, ist immer eine emotionale Belastung und wegen der Schuldfrage oft eine Zerreissprobe in Familie und Freundeskreis.
Neben dem richtigen Umgang mit den Emotionen ist es für mich wichtig, die Zahlen zu kennen. Deshalb bin ich sehr froh um die neue Studie Lehrvertragsauflösung, ihre Ursachen und Konsequenzen. Ich kann sie allen an Berufslehren Beteiligten als Pflichtlektüre ohne Langeweile sehr ans Herz legen.
Im Kanton Bern liegt die Anzahl der Lehrabbrüche bei 22%. Das ist zuviel, aber immerhin seit langer Zeit konstant. Der Buchhandel ist mit einer Abbruchquote von 12% aufgeführt, was mit meiner Erfahrung übereinstimmt. Uns kommt offenbar zu Gute, dass wir ein „hohes“ Niveau haben, weil in solchen Berufen weniger Lehren abgebrochen werden. Dazu profitieren wir offensichtlich davon, dass nur wenige ausländische Jugendliche diesen Beruf lernen wollen oder können, denn bei ihnen werden die Lehrverträge massiv häufiger gekündigt.
Der erste Grund ist mit unserer tollen Arbeit im Buchhandel leicht erklärt: gute Ausbildungsplätze, laufende Präventionsmassnahmen, fachlich und sozial kompetente Lehrpersonen, hohe Motivation, Konflikt hemmende Teamarbeit allüberall.
Und der zweite Grund bestätigt, was wir sowieso schon wissen: ausländische Jugendliche haben tendenziell schwierigeren Zugang zum Lesen und zu Büchern. Doch in jeder meiner sechs Klassen hat es Jugendliche mit eingewanderten Eltern… und sie haben ausnahmslos Schweizer Pässe.
Es erweist sich einmal mehr:
Die Massnahme gegen jeden Misstand, den Studien, die mich betreffen, je zu Tage gefördert haben, ist Integration.

Esc

Die Frau Kollegin rechnet bis spät
Pfingstmontag: Prüfungsbuchhandlung einrichten
Dienstag: Schriftliche Branchen-Prüfungen abnehmen
Mittwoch: Praktische Prüfungen
Donnerstag: Praktische Prüfungen
Freitag: Praktische Prüfungen und Prüfungsbuchhandlung auflösen
Samstag: Aufsicht bei kaufmännischen Nachholprüfungen
Sonntag: Korrektur der schriftlichen Prüfungen vom Dienstag
Ich frage mich, wie ich aus dem Prüfungsmodus (freundliche Stimme, Sie-können-das!-Gesichtsausdruck, ermutigendes Lächeln in alle Richtungen) je wieder herauskomme. Einblick in mein Wohnzimmer der letzten Woche gibt es bei buchhändlerin.ch.

Futura 2006

Die Prüfungsbuchhandlung „Futura“ ist fertig eingerichtet, die Notebooks stehen bereit, das Internet ist zugänglich, die CD-ROMs sind installiert, der Kassenstock ist gezählt, die Bleistifte sind gespitzt, die Büchergutscheine geordnet und die Titel-Auswahl der Lernenden habe ich nach deren Wünschen präsentiert. Es sieht aus wie eine klitzekleine Buchhandlung und wird den Rest der Woche mein Wohnzimmer sein.
Die praktische Abschlussprüfung dauert für jede Kandidatin eine Stunde. Es werden zwei Kandidatinnen gleichzeitig geprüft, je eine halbe Stunde in „Verkaufsgespräch“ und eine in „Bibliografieren“. Die Beurteilungskriterien sind unterschiedlich.
Im Verkaufsgespräch wird der Umgang mit der Kundin beurteilt, in „Bibliografieren“ der Umgang mit den Hilfsmitteln. Die Kundin ist immer eine Expertin, das ist in allen Verkaufsberufen so, auch bei den Textilverkäuferinnen, die direkt in den Läden geprüft werden. Man hat auch Pilotversuche mit Alltags-Kundschaft gemacht, aber es hat nicht funktioniert. Nicht nur, weil Kundschaft unterschiedlich (angenehm) ist, sondern weil in der Prüfungssituation meistens keine kommt, da schlotternde Kandidatinnen und Experten mit Klemmbrettern nicht besonders anziehend wirken.
Im einen Teil der Schulzimmer-Buchhandlung wird wie gesagt bibliografiert, vom Cornelsen-Lehrmittelverzeichnis bis zum Electre steht alles zur Verfügung, um Bestellanfragen möglichst rasch und richtig beantworten zu können. Es geht in diesem Qualifikationsverfahren um den effizienten Weg, die richtige bibliografische Auskunft geben zu können. Hier wird nicht der Auftritt benotet, es zählen Weg, Ziel und Suchstrategie.
Meine Domäne ist der andere Teil, das Verkaufsgespräch. Meine Expertin „spielt“ die Kundin und hat auch die Fragen erstellt, ich schreibe das Protokoll und mache die laufende Beurteilung, die wir danach 5 Minuten besprechen. Dafür haben wir im Laufe der Jahre eine gute Vorlage erarbeitet, an der wir aber jedes Jahr noch feilen.
Es gibt für alle gleich lange Prüfungen, die zur Hälfte auf die Gewohnheiten der Kandidatinnen zugeschnitten sind. Die andere Hälfte ist buchhändlerisches Allgemeinwissen wie „Grüessech, ich will Auto fahren lernen und brauche so eine CD dazu“ oder „Ich brauche das Buch, in dem ich das Zivilgesetz finde“ oder „…warum ist das so dick und so billig und das andere so dünn und so teuer?“ oder „Wir lesen in der Schule so ein Buch in Englisch und ich brauche es dringend sofort in Deutsch.“ Telefonate (aufs Handy) und Anfragen per E-Mail gibt es auch.
Und lächeln müssen die angehenden Buchhändlerinnen fast immer, sogar am Telefon. Freundlich, lösungsorientiert, erfolgsinteressiert und nahe am Produkt – wer sich so verhält, hat keine Probleme, die Prüfung zu bestehen.
Futura 2006
[Mehr Fotos gibt’s nach und nach im Kommentar und
Beobachtungen zur Prüfungszeit bei niemehrschule.]

Weltbuchtag 2006

Während die einen uns für gestrig halten, weil wir heute keine Bücher verkauft haben, können die anderen dem Leben in Büchern wenig Zeitgemässes abgewinnen. Die Widersprüche der Kundenerwartungen wurden hier ja schon oft verbloggt, ich schreibe jetzt lieber darüber, was meine Schülerinnen und Schüler geleistet haben.
Denn bei mir trudeln langsam die Berichte der Lernenden aus der ganzen Deutschschweiz ein. Viele hatten selber Freude am Aktionstag, sie sind mit verschiedensten Leuten ins Gespräch gekommen und haben auch einander besser kennen gelernt. Andere wiederum waren enttäuscht über das Material, die Reaktionen, den Tag an sich.
Neben der Rätselaktion habe ich für die, die sich nicht so gerne exponieren, eine Schaufensteraktion geplant. Eine Bildersammlung dazu gibt es im Forum für den Buchhandel.
Mein Lieblingsfenster habe ich an der Neuengasse in Bern gefunden. Leider sieht man auf den Fotos die aktuelle, originelle Auswahl der Buchtitel und die selber gemachten Pop-Ups nicht:
Schaufenster: Schritt 1
Schaufenster: Schritt 2
Schaufenster: Schritt 3
Schaufenster: Schritt 4

Von Rätseln und Ratten

Orte für Leseleidenschaften
Heute war unser Aktionstag zum Weltbuchtag, der eigentlich erst morgen stattfindet. Der UNO-Tag für das Buch – der „World Book and Copyright Day“ – steigt heuter zum elften Mal am 23. April. Warum? Weil die Katalanen die Initiative ergriffen haben und bei der UNO anfragten, ob man ihren Sankt-Georg-Tag, zu dem sie sich schon seit Ewigkeiten Bücher schenkten, nicht gleich weltweit erklären könnte? Völkerverbindend kommt hinzu, dass Cervantes und Shakespeare an eben diesem Tag 1616 das Zeitliche segneten und wir damit auch den Todestag von zwei gelinde gesagt namhaften Autoren begehen. Wozu? Weil Lesen und Schreiben genau so wichtig ist wie Nichtrauchen (31. Mai).
Ich habe die Lernenden des 2. Lehrjahres zu mehreren Aktionen motiviert verdonnert. Unter anderem zur Produktion eines Publikumswettbewerbes. Weil „meine“ Azubsi so gute Ideen hatten, hat die Buchlobby gleich eins, zwei, drei ihrer Rätsel als Karten gedruckt. Darauf bin ich stolz und es entschädigt eine Menge Ärger, welchen ich aus Gründen überbordenden Selbstmitleids nie verbloggt habe.
Und heute haben wir die Karten an 24 Verteilorten unters Volk gebracht. In Leseratten-T-Shirts sind wir durch Bern gezogen und haben für den Weltbuchtag geweibelt. Die Verteilaktion war freiwillig und deshalb haben lägst nicht alle mitgemacht. Aber lieber wenige, die wirklich lächeln, als viele, die schmollen.
Fotos von zwei pfiffigen Ratten im Kommentar. Und morgen, zum waschechten Weltbuchtag, gibt’s etwas über die Schaufenster. Die kann man auch ansehen, wenn die Buchhandlungen geschlossen sind und die Buchhändlerinnen Lindenstrasse gucken.

Nur Comix

Ich unterrichte im Moment Lernende aus 38 Buchhandlungen, die verstreut in ganz verschiedenen Ortschaften der Deutschschweiz ihre Lehre machen: Allschwil, Basel, Bern, Biel, Brig, Interlaken, Langenthal, Luzern, Lyss, Meiringen, Olten, Riehen, Solothurn, Sursee, Thun, Visp, Worb. Da ich nicht nur Theorie sondern auch die Praxis – also Verkauf und Beratung – prüfe, erwarte ich von mir, dass ich die Buchhandlungen alle kenne und zwar nicht so, wie sie vor zehn Jahren waren, sondern so, wie sie jetzt sind.
Comix Shop zum Ersten,
Das erfordert einige Reisen, und heute war ich in Basel. Der Reichtum aus der Chemie manifestiert sich nicht nur in Frau Oeris FC Basel, nein, ganz grundsätzlich ist hier das Mäzenentum Humus der Kultur. Druckkunst, Papierherstellung, Verlagswesen, Museums- und Theaterentwicklung, alles da im Dreiländereck. Basel hat es zum Leidwesen viel grösserer Weltstädte sogar geschafft, Tutanchamun (komplett) zu bekommen und wird auch sonst nicht müde, sich die Kultur etwas kosten zu lassen. Dies ist einer der Gründe, weshalb in dieser Stadt auch in dürren Zeiten noch immer über vierzig Buchandlungen domestiziert sind.
Comix Shop zum Zweiten,
Typisch für mich und das Kind, dass wir heute nur eine einzige geschafft haben, den Comix Shop. Dieser bestaufgeräumte Comicladen, den ich auf diesem Planeten kenne, ist auch für Touristen leicht zugänglich. Es liegt dort vieles in Originalsprachen am Lager und er selber am Weg: Einfach beim Tinguely-Brunnen die Treppe runter rechts.
Comix Shop zum Dritten!
Was wir alles gekauft haben, schreibe ich jetzt nicht auch noch auf. Das Kind hatte in weiser Voraussicht seinen Rucksack mitgenommen und gut daran getan. Und ich kenne wieder einen schönen Arbeitsplatz, an dem nächsten Sommer eine neue Azubi ihr Leben in Büchern beginnen wird.