Cold heart

Im Frühling vor zwei Jahren starb June Carter, die Country-Sängerin, Hit-Komponistin („Ring of Fire“) und die Partnerin von Johnny Cash, der danach nur noch wenige Monate lebte. Einen Tag nach seinem Tod am 12. September 2003, war ich in einer grossen Schweizer Stadt zu Besuch. Ich fand leider weder Bücher noch buchhändlerische Kenntnisse über Johnny Cash, in mehreren Buchhandlungen wurde ich von ausgelernten Berufsleuten gefragt, wie man das schreibe, trotz etlicher Nachrufe in TV und Tagespresse. Dies und die Tatsache, dass Hitparademusiker, allen voran die Rapper, auf seiner Beerdigung auftauchten, hat mich veranlasst, eine Lektion zum Thema Cash & White Trash zu machen.
Nun, es wurde kein Erfolg, die Lernenden schauten mir staunend beim Unterrichten zu und beteiligten sich ausser beim Phänomen EMINEM kaum, auch nicht an meinen Umfragen. Bei der Feedbackrunde meinten sie, sie könnten die Zusammenhänge, die ich angesprochen hätte (zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Macht der Literatur) nicht sehen.
Ich weiss, warum ich hier kein gutes Angebot zuwege kriege. Ich bin nicht in der Lage, die Realität zu akzeptieren. Und die Realität ist, dass es bei vielen Azubis keine Kenntnis zu historischen Hintergründen gibt, ohne die ich persönlich seit meinem 16. Altersjahr kaum einen (Berufs-)Tag über die Runden gebracht hätte. Ich wusste vieles nicht, als ich in die Lehre kam, vor allem bei der Geschichte des 20. Jahrhunderts klafften Riesenlücken. Aber ich konnte die Sprengkraft von Brüchen in Konventionen durchaus nachvollziehen und bin bei Übungen und Erläuterungen dazu nie eingeschlafen.
Mein Problem heute ist, dass ich das von meinen Lernenden auch erwarte, selbst wenn ich vorgebe, es nicht zu tun. Mir sind zwar viele Dinge gar nicht mehr wichtig, die andere Kollegen die Wände hochjagen (es ist mir schnurz, wenn niemand weiss, was die Abkürzung UNO heisst und OPEC sowieso und AIDS erst recht – ist längst ein neues Wort und schreibt sich inzwischen Uno, Opec, Aids). Aber dass die blühende Jugend kaum mehr als verwelkte Lust an Zusammenhängen hat, macht mir insgeheim furchtbar zu schaffen. Meine Hitliste für das „Auf-die-Kartoffel-Beissen“ ist:
Bibelübersetzung & Reformation
Aufklärung & Weltbürgertum
Realismus & Industrialisierung
Wahlen & Abstimmungen
Wie ist es möglich, sich für diese Themen nicht zu interessieren? Ohne Bibelübersetzung (und ohne Buchdruck) wäre das Deutsche nie zu dieser kunstvollen Hochsprache geworden. Die Klassik, die Philosophie, die Volksschule, Kant, die Aufklärung, undenkbar. Und der Realismus! Hier haben wir mit Gotthelf und Keller nationale Grössen, die das Erzählen vom „kleinen Mann“ erst angefangen haben. Die Industrialisierung, die Entstehung der Arbeiterschaft, das Elend als Antithese zum Welthandel, die ähnliche Konstellation wie wir sie heute mit dem Nord-Süd-Gefälle haben, alles langweilig? Die Erfindung der Druckmaschinen wie die Erfindung neuer Schriftypen (Times), die Neuerfindung der Medien als Machtfaktor. Und Politik? Viele (nicht alle!) finden sie einfach zu kompliziert. Aber das ist ein Thema für einen eigenen Beitrag, ich bin schon genug abgeschweift.
Zurück zur Countrymusik: Johnny bleibt unvergesslich und wer eine deutsche Biografie lesen möchte, wende sich Franz Dobler zu. Die umfassende Biografie von Stephen Miller ist in Deutsch schlecht erträglich, da miserabel übersetzt.
Zum Schluss sei noch der Rootigste von allen erwähnt: Hank Williams erinnert an Artur Rimbaud, er war ein verdammt guter Dichter, von weit unten und mit wenig Zeit. Und dank der Popularität der Norah Jones klingt auch „Cold, Cold Heart“ wieder über den Äther.
[Animiert von Herr Raus Eintrag zum Thema Interpretation und den Kommentaren dazu.]

Anker lichten

An den Ostertagen liegt die Schule gestrandet wie ein träges Schiff. Sonst ist immer jemand da, backbord wird ein Kopierer angestellt und steuerbord hurtig ein vergessener Ordner gesucht. Selbst in der Ferienzeit surrt es im Maschinenraum der Verwaltung und auch am Wochenende ist Licht oben auf Brücke, wo der Hauswart wohnt.
Nur zu Ostern und Auffahrt ist alles leer. Eine emsige Leere, denn die Abschlussklassen sind ausgeflogen, machen ihre Reisen, finden und verlieren sich in den Grossstädten Europas, tun manches zum ersten Mal und lassen anders schweren Herzens.
In dieser Zeit, in der es grünt an Land, schreibe ich die Lehrabschlussprüfungen. Drei Jahre haben ich Manöver gelehrt, Bojen geworfen, die Chancen und Gefahren der freien Fahrt gezeigt. Und jetzt bleibt nichts, als winkend und etwas wehmütig am Steg zu stehen.
Den Anker lichten sie selber.

engagiert bis destruktiv

Die Geschäftsleiterin der Münstergass-Buchhandlung und meine Mitbloggerin im MügaBlog transformiert Studienergebnisse.

Ich lese das WEKA Business Dossier und da steht:
“Man kann davon ausgehen, dass eine Person, die eine Stelle neu antritt, grundsätzlich hoch motiviert ist. Nun zeigt aber eine repräsentative Studie, dass von den Mitarbeitenden

  • 30% engagiert
  • 54% nicht engagiert, innerlich gekündigt
  • 16% destruktiv
  • sind.”

    Ich will auch. Mit meinen 131 Kolleginnen aus dem Lehrerzimmer. Von denen wären 39 engagiert. 71 wären nicht engagiert bis innerlich gekündigt. 21 wären destruktiv.
    Und mit meinen Lernenden, das sind per heute 104 Nasen. Nach Studie 31 Engagierte, 56 Unengagierte oder gar innerliche Lehrabbrecherinnen und 17 Destruktive.
    Hmm. Ich hoffe nicht, aber könnte sein. Und kommt drauf an , was unter „destruktiv“ zu verstehen wäre. Zählt Disketten ins CD-Laufwerk drücken dazu? An die Leinwand kicken, damit sie hochrollt? Kreiden zerbröseln? Kabel ganz, ganz eng zusammenrollen, als müsste es ein ganz, ganz kleines Nestlein für Däumlinchen werden. Büroklamern aufbiegen und ein kleines Häufchen solcher auf dem Lehrerpult hinterlassen?
    Auch Autoaggression wäre ein weites Feld. Bei Lehrenden und Lernenden.

    Light build

    Unser Leitbild sei zu lang, sagen die Berater. Kürzer, treffender, Powerpoint ist nun angesagt und in der Vernehmlassung. Diese Kürzerei macht mir Mühe, diese zwei Sätze pro Seite sind mir ein Graus.
    Ich frage mich, wie wir fair mit uns selber und anderen und sorgfältig mit dem Material und der Umwelt umgehen können, wenn wir es nicht schaffen, zehn Mal zehn Zeilen Prosa zu lesen und darin übergeordneten Ziele zu erkennen.

    Workshop-Tag

    Gestern war beispielhaft „anders als man denkt“. Ein bis ins Detail geplanter Workshop zum Thema „Perspektiven nach der Lehre“ sollte mein Nachmittag sein.
    Plan: Dem Kind Essen machen, entspannt das Gespräch über Schule und Hausaufgaben führen, abmachen, was erleidgt werden muss, bis der Teilzeithausmann heimkommt. Dann mit dem Material von Filzstiften über vorbereitete Cluster bis zu Magneten (ja, ich habe nach 10 Jahren immer noch keinen Schrank) los traben und eine Referentin von der Gewerkschaft und Kollegin WEBA (mit deren Material) treffen und – noch immer entspannt – etwas plaudern. Dann gemeinsam Zimmerbestuhlung ändern und Material bereitstellen. Dann die erste Lektion des Workshops möglichst plangemäss durchführen und in der Pause der Referentin einen Espresso holen. Dann eine Viertelstunde in eine andere Klasse gehen, die ich auch unterrichten sollte, aber beschäftigen muss, weil ich ja in den Workshop involviert bin. Denen ruhig das Programm und die Ziele der Lektion erklären und das Material abgeben. Dann wieder zurück in den Perspektiven-Workshop, den die anderen beiden voll im Griff haben. Dann Verabschiedung und Verdankung Referetin, Aktivierung der Lernenden bei Clustergruppenarbeit, schliesslich lockere Feedbackrunde und Kaffe mit WEBA.
    Realität: Dem Kind Essen hinstellen. Los sprinten, bei der bemitleidenswerten WEBA mit fiebrigen Äuglein das Material abholen und hurtig weiter die Referentin abfangen. Der Referentin erklären, dass sie mit der Klasse allein sein wird, während ich die andere Klasse instruiere. Die Lernenden schon in der Pause mit der Umstellung der Zimmerbestuhlung beauftragen, der Referentin ein Eptinger in die Hand drücken, das Material selber ankleben und -magneten, zwischendurch alle begrüssen und die Referentin vorstellen. Erste Lektion durchführen und konstatieren, dass wir genau halb so weit sind, wie es der Zeitplan vorsieht. Hurtig in die andere Klasse, dann wieder zurück und wieder hin und wieder zurück und in Absprache mit den Beteiligten Streichen eines ganzen Programmteils. Referentin verdanken und verabschieden, zweiten Teil allein durchführen, WEBAs Material nebenbei noch einemal sichten und gut erklären. Feedbackrunde moderieren, Lernende für eine Woche verabschieden und mich freuen über den Erfolg des Nachmittags. WEBAs SMS beantworten, dass alles gut.
    Eine Runde allein reflektieren (hiermit), und Programm korrigieren oder genauer: der Realität anpassen.

    Schulzeitung

    Meine Lernenden machen die nächste Nummer unserer Schulzeitung „Pegasus“ und brauchen mich überhaupt nicht dazu. (Heul.) Vielleicht ist es das der Grund, weshalb Lehrpersonen nicht immer mit dem gleichen Elan „präppen“. Denn wenn Gruppenarbeiten wirklich optimal vorbereitet, die Ziele klar, Motivation und Ehrgeiz geweckt sind und die Hilfmittel bereit stehen, dann ist die Lehrperson überflüssig.

  • Eine Gruppe wertet die Fragebogen aus, die sie zum Thema „Buchhändlerinnen und Sport“ erstellt und verteilt haben.
  • Eine Gruppe recherchiert und schreibt über die traditionelle Basler Fasnacht; in Baaseldytsch.
  • Eine Gruppe hat nach Motivationen für und gegen den Beruf der Buchhändlerin gefahndet, die es zu analysieren gilt.
  • Eine Gruppe vergleicht in einer Tabelle die Alltagsarbeiten in einer kleinen und grossen Buchhandlung.
  • Eine Gruppe zeichnet Karikaturen (klar, dass die Lehrpersonen dran glauben müssen).
  • Eine Gruppe macht Rätsel mit Büchern, Verlagen und Autoren.
  • Eine Gruppe bespricht ihre Fantasy-Favoriten.
  • Eine Zweiergruppe schreibt zum Einstein-Jahr, wahrscheinlich das Editorial.
  • Und dass jetzt Pause wär‘, wird einfach ignoriert. Das ist die Schule, die ich möchte.

    Neues Berufsbild (umsetzen)

    Nun hat uns das neue Berufsbildungsgesetz erreicht. Die Buchhändlerinnen und Buchhändler müssen ihr Berufsbild überdenken. Alle Reglemente der Lehrberufe werden von einer Bildungsverordnung abgelöst, die anders aufgebaut sein wird. Ähnlich wie wir das von der Reform der kaufmännischen Grundbildung kennen (die allerdings auch noch einmal reformiert werden wird), sind neu Handlungssituationen am Arbeitsplatz massgebend.
    Reduced to the max:

  • Berufsbild neu denken
  • Aus Handlungssituationen messbare Leistungsziele machen
  • Klingt einfach. Wird uns ein paar Jahre beschäftigen. Aber ich freue mich darauf.

    genervt und gefreut

    Was folgt, ist Lehrerinnen-Alltag pur, es ist also weniger denn je zu erwarten, dass das für andere nachvollziehbar ist.
    Ich habe dieses Wochenende neben 14 Tests zum Thema „Sicherheitsaspekte im Buchhandel“ [vom Datenschutz über die IT-Sicherheit bis zum Diebstahl] auch ~30 Semesterarbeiten korrigiert. Thema: Verlagsportrait aus Sortimenterinnen-Sicht. [Notiz an mich: Frag, ob du eine veröffentlichen darfst.] Die Arbeiten waren bis auf wenigste Ausnahmen spannend zu lesen und weitaus umfassender als gefordert.
    Dabei hatte ich mich erst am Donnerstag noch wahnsinnig (im Wortsinn, ich fühlte mich Richtung Wahnsinn treiben) genervt. Weil acht nicht abgegeben hatten, weil zu viele Erklärungen zu Fehlendem kamen, weil dort ein Drucker und hier ein PC kaputt war und es für dieses und jenes nicht gereicht haben soll. In Folge des Nervens hab‘ ich ein Mailing an die Lernenden gemacht:

    Liebe Leute
    Ich schreibe dieses Mail an alle, obwohl es nicht alle betrifft. Einfach dass es ein- für allemal klar ist (falls ich es im August noch nicht ausdrücklich genug gesagt haben sollte).
    Fast alle haben die Verlagsarbeit abgegeben, das ist toll.
    Sechs Personen waren krank oder verhindert, bei einer habe ich die Arbeit trotzdem bekommen (es gäbe ja auch Kolleginnen und die Post), bei zwei bekomme ich sie morgen. Da ich jemandem eine Fristerstreckung bis Montag gegeben habe, weil die Person keinen PC zur Verfügung hatte und dazu noch krank war, akzeptiere ich das bei den übrigen auch. Was bis Montag am Mittag nicht in meinem Fach liegt, wird nicht korrigiert. Heisst leider: Arbeitsverweigerung und gibt eine „1“. (Ausnahme: Arztzeugnis/Todesfälle im Umfeld.)
    Die Bewertungskriterien haben Sie seit Monaten schriftlich, sie sind nicht verhandelbar, das gilt auch für das Begleitmaterial. Ich weiss, dass Sie viel zu tun hatten. Aber Sie hätten jeden Monat eine Seite recherchieren und schreiben können und es wäre immer noch ein Monat geblieben, um das Material zusammenzutrommeln, sofern man es nicht schon bei der Buchmesse hat schnappen können. Bedenken Sie bitte, dass ich meinen ganzen Unterricht so gestalte, dass ich mit dem Stoff durchkomme, ohne dass Sie (abgesehen von Testvorbereitung und dieser Semesterarbeit) je Hausaufgaben zu machen brauchen.
    Die Handhabung ist somit klar und transparent. Ich bin in manchen Bereichen sehr wohl bereit, individuell zu reagieren, ich bin auch immer da zum Mailen oder Reden. Aber ich kann und will nicht die Lernenden benachteiligen, die termingerecht abgegeben haben und die sich aktiv bemühen, wenn sie einmal fehlen. Und das täte ich, würde ich mich nicht an die Vorgaben halten.
    So, das war die Predigt. Die Hälfte Ihrer Lehre ist jetzt um und ich freue mich auf die zweite Hälfte. Ich hoffe, Sie auch!
    Freundliche Grüsse

    Logisch, dass das einige Lernenden ihrerseits genervt oder aber aufgeschreckt hat, logisch, dass einige gemotzt haben. Aber ein Reply auf dieses Mail hat mich dann doch völlig unerwartet getroffen:

    Liebe Frau M
    Wow, das hat mich beeindruckt! Ich muss zugeben, das hätte ich nicht erwartet, echt stark.
    Sie sind einfach Klasse.
    Liabi Grüassli

    Wiki-Märchen

    Es war einmal eine Buchhändlerin, die hat ein Fach unterrichtet, das sich „Neuerscheinungen“ nannte. Vor der Frankfurter Buchmesse 2003 hat sie den Lernenden vom Grosseinkauf von Lexikas auf Weihnachten hin abgeraten. Hui, das war ein Surren und Knurren und Zicken und Kicken! Niemlas, Frau Lehrerin, wird irgendwas auf dieser Welt die schönen, gut riechenden, wunderbar gemachten Bände ersetzten, niemals werden die Menschen die überragenden Vorteile eines Taschenlexikons vergessen. Niemals wird diese merkwürdige Internet-Community die Seriosität einer Enzbrit oder eines Brockhaus auch nur annährend erreichen. Und triumphierend sind sie nach dem Weihnachtsgeschäft zurückgekehrt mit guten Lexika-Umsätzen.
    Und so begab es sich, dass die Lehrerin das Thema mied. Ein Jahr später stand in keiner der Buchhandlungen, die die Lehrerin zu Weihnachten besucht hat, ein allgemeines Lexikon in der Auslage, keine einzige Werbeaktion von keinem Verlag wurde geschaltet, keine Neuauflage der Taschenlexika gemacht. Ein vorwitziger Geist hat sich vom Geiste aller etwas geholt und aufgeholt.
    Doch anstatt ebenso vorwitzig und geistreich zu sein und neue, verrückte Dinge zu wagen, schwiegen alle. Der Wiki-Geist wurde nie zum Thema und so leben sie noch heute. Wenn sie nicht gestorben sind natürlich.