Im Juli lese ich…
…erstmals:
-Haruki Murakami, Untergrundkrieg
-Primo Levi, Anderer Leute Berufe
-Anne Holt, In kalter Absicht
-Plina Daschkowa, Nummer 5 hat keine Chance
-Inger Frimansson, Die Treulosen
-Kjell Eriksson, Die grausamen Sterne der Nacht
-Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon
-Kaspar Wolfensberger, Glanzmann
-Guido Bachmann, lebenslänglich
-Qiu Xiaolong, Tod einer roten Heldin
-Qiu Xiaolong, Die Frau mit dem roten Herzen
…zum zweiten oder x-ten Mal:
-John Steinbeck, Von Mäusen und Menschen
-Elias Canetti, Das Gewissen der Worte
-Markus Werner, Bis bald
-Franz Kafka, Der Prozess
…Leseexemplare (erscheinen demnächst):
-Joey Goebel, Vincent
-Stephen Clarke, Ein Engländer in Paris
-Tariq Ali, Der Sultan von Palermo
-Azar Nafisi, Lolita lesen in Teheran
…. alles offline.
Herzlichen Dank den treuen Mitlesenden, herzlichen Dank den vielen, die „enaktiv“ ergoogeln, herzlichen Dank denen, die sich für meine Unterrichtsmaterialen interessieren, herzlichen Dank denen, die hier regelmässig PISA-Ergebnisse holen und besonderen Dank jenen, die nach Davy Sidjanski suchen.
Kategorie: Leben daneben
Ausserschulisches und Vermischtes
Art Ordnung
Die Notizen sind immer überall endlich.
Die Notizen sind immer überall.
Die Notizen sind immer.
Die Notizen sind.
Die Notizen.
Die!
Vor Urteil
Letzte Woche begann die Verhandlung für die jugendlichen Täter im schlimmsten Raubüberfall, den diese Stadt wohl je erlebt hat und von dem ich an anderer Stelle schon kurz berichtet habe.
In Bern gibt es eine ausgesprochene Leserbrief-Kultur. Schulklassen, Eltern, Angestellte, Seniorinnen, Zugewanderte, Ausgewanderte, die irgendwo mitlesen: zu solchen Ereignissen äussern sich verschiedenste Menschen. In der Folge der täglichen Berichterstattung erschienen also vergangene Woche besonders viele Statements. Auch die Schulklasse des Opfers hat einen ausgezeichneten Brief verfasst.
Und ich stelle fest, dass die so geäusserte Meinung, ob von Jugendlichen oder älteren Menschen, ob von Männern oder Frauen, recht eindeutig ist. Einerseits macht mir das Sorgen, weil die vehementen Äusserungen ja auch ein wenig an Lynchjustiz erinnern und ich eigentlich dankbar bin, dass wir Fachleute haben, die es sich nicht leicht machen. Andererseits bin ich überzeugt, dass das Gesetz allen Menschen dienen soll.
Sich nicht von Volkes Stimme leiten lassen, appelliert die Verteidigung an das Kreisgericht, „nicht einfach aufgeben und wegsperren,“ ist die Einstellung von Kriminologin und Psychologen. „Zuchthaus“ ist die Forderung der Bürgerinnen und Bürger.
Sehr repräsentativ finde ich die Leserbriefe aus dem gestrigen „Bund“. Die Leserbriefschreiber schreiben nicht irgend etwas, die haben nachgedacht und eigene Erfahrungen eingebracht. Und weil das hier auch mein Archiv ist, habe ich diese sicherheitshalber noch gescannt.
Am 4. Juli wird das Urteil eröffnet.
Bahn frei
Wir bitten unsere Kundinnen und Kunden um Entschuldigung.
Und bedanken uns für Ihre Geduld.
Ihre SBB.
Das ist der Text (auch französisch und italienisch) in ganzseitigen Inseraten der Schweizer Zeitungen von heute. Und die Analyse war wenige Minuten nach der Pressekonferenz gestern schon online.
Daraus können Thalia und Aldi einiges lernen. Typisch Schweizerische Unternehmen zu konkurrenzieren wird schwierig, sie zu übernehmen auch.
Die Identifikation der Leute mit Unternehmenskulturen und Namen ist sehr gross, denn die Kommunikation gegenüber Presse und Kundschaft wird von Schweizer Firmen hoch gewichtet. Mit Erfolg.
Aufklärung nach Fest
Im neusten SPIEGEL stellt sich der Hitler-Biograf, Autor des neuen (gut laufenden) Titels „Die unbeantwortbaren Fragen: Gespräche mit Albert Speer“ und legendärer Feind von MRR, dem Interview. Ich zitiere S. 142 aus SPIEGEL 25/2005:
Fest: Ich glaube nur, dass wir es uns im sicheren Abstand der Jahre oft zu leicht machen mit der moralischen Verdammung des „Dritten Reiches“. Totalitäre Versuchungen treten an die Völker von Zeit zu Zeit heran. Es gibt zwei Wege des „Halbwegs-sicher-Machens“: Moral oder Erkenntnis. Ich setze auf Erkenntnis.
SPIEGEL. Das klingt so, als wollten Sie Hitlers Diktatur moralisch nicht verurteilen?
Fest: Das „Dritte Reich“ hat mir moralisch nichts zu sagen. Dass man Menschen nicht grundlos einsperren und schon gar nicht totschlagen darf, sind Selbstverständlichkeiten. Geht es Ihnen anders? Das „Dritte Reich“ hat mir politisch etwas zu sagen. Und es hat mir zu sagen, dass das hochherzige Menschenbild der Aufklärung falsch war.
SPIEGEL: Sie meinen, die Verbrechen des Nationalsozialismus widerlegten die Annahme, der Mensch sei vernunftbestimmt und im Kern gut?
Fest: Die Aufklärung hat geglaubt, die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse oder die Erziehung führten uns auf Abwege. Das ist irreal. Der Mensch steht dem Bösen näher als dem Guten. Wenn man ihm alles erlaubt und ihn sogar für das Böse auszeichnet, dann tut er das Böse mit Lust.
Mich irritiert diese Definition der Aufklärung. Ich habe zum Beispiel Kant nie so verstanden, ganz im Gegenteil. Ethik wäre möglich, Wertbürgertum wäre möglich, wenn der Mensch sich auf seine Vernunft in seinem eigenen Kopf anstatt auf Anführer und deren Indoktrination berufen würde. Nur menschliches Selbstverständnis kann Menschlichkeit selbstvertsändlich machen. Also lese ich zumindest einen Aufklärer umgekehrt und dass das Sein allein das Bewusstsein bestimme, ist meines Wissens Postaufklärung. Aber ich muss noch viel lernen.
Pressesplitter
Ich bin wegen Buch-Lese-Anfällen mit der Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre in Verzug. Es hat ja auch sein Gutes, sich die News einmal ein paar Tage vom Leibe zu halten. So gelangte ich nämlich für kurze Zeit zur Ansicht, die Welt würde doch noch besser als erwartet. Schuld daran waren drei gestandene Männer: Ein Verleger, ein US-Marine und ein Regisseur. Dem ersten muss ich aus lokalpolitischen wie beruflichen Gründen die meiste Aufmerksamkeit schenken:
Es war Rudolf Stämpfli, der den richtigen Ton und die Form gefunden hatte, auf die grauenhafte Kolumne (Stil Dreissigerjahre, nicht online) des grauenhaften Herr Mörgeli in der nicht minder grauenhaften Weltwoche (und nicht nur dort und nicht nur Kolumnen, leider auch politische Schriften) zu reagieren. Als Arbeitgeberpräsident ist Rudolf Stämpfli ein Häuptling von Bürgerlichen und politisch rechts. Er kam, sah und siegte mit der einfachen Erkenntnis, dass erfolgreche Kritik von Innen kommt. Gilt für Addis Abeba, Algier, Beijing und Bern.
Verleger Stämpfli sprachs vor versammelter Arbeitgeberschaft und dem Bundespräsidenten, der gleichzeitig als staatsmännisch stoisches Opfer der Attacke anwesend war:
Was kümmerts den Stein, wenn sich das Schwein an ihm reibt?
Vom Volksmund schlug er den Bogen zur Politik: Man dürfe es nicht beim Kopfschütteln bewenden lassen, sonst werde demokratieunwürdiges Verhalten normal. Und illustrierte das Politische mit dem Literarischen:
Wer sich stets an den Grenzen des Zulässigen bewege, sei bereits zu weit gegangen. „Wir tun also gut daran, wenn wir – in Anlehnung an Frischs Biedermann und die Brandstifter – nicht länger zusehen, wie Kanister um Kanister Benzin auf den Dachboden unserer Demokratie geschleppt wird, und uns die Brandstifter immer wieder versichern, es handle sich lediglich um Einzelfälle“. [Quelle: „Der Bund“ vom Samstag]
Den zweiten Vernünftigen habe ich in der „NZZ am Sonntag“ neu kennen gelernt. Es ist Sherwood F. Moran, ein US-Marine, der 1943 einen legendären Ratgeber zur erfolgreichen Verhörtechnik verfasst hat. Nachdem die US Army mit ihren Methoden im Irak und Guantanámo nicht nur moralisch sondern auch nachrichtendienstlich Schiffbruch erlitten hat, sei ihr Morans Leitfaden wärmstens empfohlen. Die „NZZ a. S.“ fasst seine Erkenntnisse zusammen:
Beherrsche die Sprache und Kultur der Gefangenen perfekt und sei menschlich und nett zu ihnen! Grösstes Gewicht legt Moran, der viele Jahre als Missionar in Japan gelebt und die dortige Sprache und Kultur bestens gekannt hat, zudem auf die Persönlichkeit des Verhörers. Der brauche Charakter, Erfahrung und Temperament und müsse gestützt darauf seine eigene Technik entwickeln. „Wie ein Liebhaber!“ schreibt Moran und meint das keinesfalls als Witz. „Ein Befrager muss ein richtiger Verführer sein.“
Da müssen ein paar Amerikaner noch viel lernen.
Ein anderer Amerikaner hingegen macht mir besonders Freude, Francis Ford Coppola. Er hat das Magazin ZOETROPE | All-Story gegründet, dank ihm konnte ich mich dieses Wochenende der Sommerausgabe (Vol. 4, No. 2) widmen. Darin publizieren viele Drehbuchschreiberlinge, was mir als Leserin eine seltene Vielfalt von langen und guten Dialogen beschert. Da das Drama viel Popularität eingebüsst hat und das Drehbuch nicht bis zum Buch(handel) durchdringt, ist eine solch‘ internationale Lektüre eine Wonne. Durch und durch gegenwärtig, von Paris über Sankt Petersburg bis Tokio die Sprache des Alltäglichen, bunt gerafft.
„Don’t let me fall asleep,“ I said, then fell.
Zwischen Stuhl und Bank
In der Schule zu unternehmerisch, im Unternehmen zu lehrerhaft.
Try again
Zuerst eine Konferenz, zu der nur die Hälfte kam. Zu grosse Steine auf dem Kommunikationsweg. Dann wollte ich – knapp wie ich dran war – die vorbereitete Suppe aus dem fast schon zu alten Broccoli aufsetzen, aber die Gasleitung war unterbrochen und Alternative war Brot mit etwas. Bügeln und Papier bündeln ging, aber den Kompostplatz musste ich von grauslichsten Plastikdingen reinigen, bevor ich mein Grünzeug (Broccoli) deponieren konnte. Sisyphos stand neben mir und flüsterte vom Glück.
Die Klassenbilder konnte ich erstaunlich rasch beschaffen, dafür scannte der Scanner nicht. Der Mann konnte heute Abend helfen und der Erdgasmann war ebenfalls erfolgreich. Nun kochen die Maiskolben vor sich hin (schliesslich sollen die im morgigen Lagerfeuer vom Kind in nützlicher Frist garen), während ich die Bilder hinauflade.
Ich mag es nicht besonders, wenn ich morgens um ein Uhr noch immer nicht den Eindruck habe, vorwärts zu kommen. Dann suche ich Trost in anderen Weblogs. Und werde immer fündig, so etwas von emsig, diese Blogger.
Wäre immerhin möglich, dass dies auch nicht die ersten Versuche sind.
Kunst des Jahresberichts
Ich schreibe viele Jahresberichte. Teils weil ich Rechenschaft über meine Arbeit ablegen muss oder will, teils als Auftrag von aussen. Und weil wer schreiben will, lesen muss, lese ich im ersten Halbjahr stapelweise Jahresberichte. Übrigens ein eindeutig vernachlässigtes und zu unkritisch betrachtetes Genre.
Ich unterscheide in der Regel die Zufälligen, die Fixen, die Beschönigten, die Transparenten. Die meisten lassen sich zwar nicht zweifelsfrei einer Kategorie zuordnen, aber Tranparenz hat schon den grössten Reiz.
Dieses Jahr werden von mir drei 2004-er geehrt. Rein googlisch, aber das ist heutzutage nicht zur verachten. Nur wer verlinkt ist, existiert. Amen.
1. Rang: aids hilfe bern
2. Rang: Gäbelbachverein
3. Rang: EMS Gruppe
Begründung:
Jahresbericht 2004 der aids hilfe bern
Zufällig in seiner Form, aber transparent und ansprechend. Ich kenne wenige, die mehr Grund hätten, entmutigt zu sein. Auch das Motto zum Jubiläum trifft: „20 Jahre Aids-Hilfe Bern: Nichts zu feiern, aber viel zu tun.“ Nicht nur Kürzungen von Geldern und nachhaltige Fehlentscheide der Behörden, sondern vor allem der Anstieg von Ansteckungen und Todesfällen durch HIV/Aids könnten lähmen. Die aids hilfe bern erstatten authenisch Bericht und lässt sich Resignation nur wenig anmerken. Und wenn, dann wirkungsvoll. Ein Bestandteil des Berichts 2004 ist „das Jahr von A bis Z“. Unter dem Buchstaben „N“ steht:
Nichts
Manchmal bleibt uns nichts mehr hinzuzufügen. Oft verschlägt es uns die Sprache, wenn wir von Schicksalen, Erfahrungen oder Erlebnissen hören. Über sachpolitische Entscheide sind wir bisweilen sprachlos.
Jahresbericht Gäbelbachverein [nicht online verfügbar]
Hier ist neben dem Engagement Einzelner auch die Einheitlichkeit der Berichterstattung über die Jahre beeindruckend. Sie verschafft mir Informationen zur Entwicklung, die bei anderen Quartiervereinen, die jedes Jahr eine neue Strategie, einen neue Farbe wie auch ein neues Format oder gar ein anderes Medium wählen, fehlen. Seit Jahrzehnten erstattet dieser Verein, der unter zunehmender Arbeits- und Sprachlosigkeit der Bewohner, unter Spardruck, Migrations- und Generationenkonflikten agiert, Bericht über das Machbare. Eine Vereinigung von Menschen mit oft gegensätzlichen politischen Einstellungen, die die Zukunft zum Bessern gestalten wollen und das getreulich dokumentieren. Eine kurze Berichterstattung und eine sorgfältige Rechnung präsentiert von zuverlässigen Leuten, die neben dem Ehrenamt meist einer harten Erwerbsarbeit nachgehen.
Jahresbericht EMS Chemie [nur teilweise online verfügbar]
Hier gilt die Auszeichnung der raschen Umstellung auf heutige Zeiten und den regelmässigen Updates. Denn auch Geschäftsleiter mit kaum versiegenden Geldquellen (wie ich sie bei der EMS vermute), schaffen es oft genug nicht, rechtzeitig das Wesentliche zu präsentieren. Innerhalb von kurzer Zeit hat sich Frau Martullo nicht nur vom Vater, sondern auch von dessen Folie und Hellraumprojektor emanzipiert und präsentiert nun ihre Ergebnisse als PDF im Internet. Und zwar immer mit Ausblick auf die Updates, die pünktlich der Presse vorgestellt und online geschaltet werden.
Das waren die Lobreden, auf die Verrisse verzichte ich an dieser Stelle, ich möchte weder mich noch andere unglücklich machen. Ich habe schliesslich heute die Abstimmungen gewonnen. Und dank denn wetternden alten Herren dürfte ich auch wieder „autofahren“ rechtschreiben. Aber ich muss nicht.
Es gibt so viele Gründe, glücklich zu sein. Gibt es nicht?
Gratulation zum Geburtstag
Treue Buchtipp-Leserinnen und Leser wissen es:
Ich mag Reich-Ranicki. Selbst im Ärger über seine Äusserungen verehre ich ihn. Ich bin überzeugt, dass keine und keiner ihm das Wasser reichen kann punkto Qualitätssicherung in der deutschen Literatur. Und dass er verdammt viel beträgt zum Geschichts- und Generationenverständnis. Ein deutsch-polnischer Jude, der sich nach Krieg, Verfolgung und Vernichtung der Familie nichts mehr wünschte als die Rückkehr zur deutschen Sprache.
Man kann nicht über Deutschland allgemein sprechen, auch nicht über die Deutschen, sondern muss von den verschiedenen Generationen reden: Für die Jüngeren spielt die Frage, ob es 1945 eine Befreiung oder einen Zusammenbruch gab, keine Rolle – für die ist der Krieg so weit weg wie für mich in meiner Jugend der deutsch-französische Krieg von 1870/71. Die Generation derjenigen, die den Krieg mitgemacht haben und heute über achtzig sind, hat den 8./9. Mai 1945 nicht als Tag der Befreiung, sondern als Zusammenbruch erlebt. Alles andere ist eine unzulässige, wenn nicht verlogene Beschönigung.
[Quelle: SPIEGEL online heute. MRR wird am 2. Juni 85 Jahre alt.]