• Mujawayo, Esther: Ein Leben mehr Habe ich nicht fertig gebracht. Schon so viel über den Genzozid in Rwanda gelesen ist es vielleicht jetzt einfach genug. Mujawayo und ihre drei Töchter sind Überlebende, sie erzählt hier ihre Geschichte. Der Hammer Verlag ist der beste deutschsprachige Verlag für afrikanische Literatur.
• Nesser, Hakan: Barins Dreieck Drei Identitätsgeschichten, alle in Ich-Form. Die erste von einem Schrifsteller, der einen Selbstmord vortäuscht, welcher als Mord interpretiert wird. Weil es auch kriminalistische Elemente drin hat, musste ich soeben meine ziemlich gute Zusammenfassung löschen, um nichts zu verraten. Die zweite erzählt von zwei Jugendfreunden, die sich sehr ähnlich sehen. Als sie sich später im Leben wieder begegnen, beschliesst der eine, den anderen an seiner Psychotherapeutischen Praxis zu beteiligen. Sie treten fortan als EIN Therapeut auf. Ein packender Plot. Die dritte ist nur für Lehrpersonen geeignet, die sich voller geistiger Gesundheit erfreuen. Protagonist ist ein Lehrer, der ausnahmsweise fünf Mintuen zu spät in die Schule kommt und sich bereits durch die Tür unterrichten hört. Er öffnet sie einen Spalt und sieht sich vor der Klasse stehen. Was folgt ist Flucht und die irrsinnige Beschreibung einer Psychose.
• Nesser; Hakan: Kim Novak badete nie im See von Genezareth Noch nicht gelesen.
• Riel, Jorn: Nicht alle Eisbären halten Winterschlaf Noch nicht gelesen, weil in Händen von Kind und Mann. Es klappt in den Ferien nicht lückenlos, unsere Lesegeschwindigkeiten und die Seitenzahlen auf die Buchauswahl abzustimmen.
• Roggenkamp, Viola: Familienleben Die Jüdischen haben einfach ein Händchen für den Familienroman. Ein exzellentes Buch, angesiedelt in den Sechzigern und Siebzigern in Hamburg. Es gab viele Besprechungen und ich bin unsicher, ob es nötig ist, es auch noch zu besprechen…? Fania, die dreizehnjährige Erzählerin, ist jedenfalls die eingängiste Figur meines literarischen Sommers. Und weil mir das Buch so gefallen hat und ich Roggenkamp auch sonst mag, selbst wenn sie über die Thalassotherapie ihres Maus-Arms in Biarritz schreibt (Kult Nr. 7 / 2004, S. 9), habe ich gleich noch weiter von ihr gelesen, nämlich:
• Roggenkamp, Viola: Tu mir eine Liebe – Meine Mamme Roggenkamp leitet den Interviewband mit einem ausgezeichneten Essay ein. Es geht ihr um die Frage, wer jüdisch sei, wer der Generation der Überlebenden angehöre und um die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Menschen über ihre Mamme erzählen. Es folgen erschütternde, rührende und abstossende Beschreibungen von verschiedenen Leuten über das Leben mit ihrer jüdischen Mutter, die immer eine Überlebende ist. Denn die Kinder der Mütter, die ermordert wurden, wollten über sie nicht sprechen. [Und im Moment lese ich wieder Roggenkamp, nämlich: Von mir soll sie das haben? – ebenfalls ganz ausgezeichet.]
• Sachs, Jeffrey D: Das Ende der Armut Keinen Elan für Sachbücher.
• Stelly, Gisela: Moby Ein leichtes Buch, einmal mehr in der Reihe „Kinder schräger Eltern – eine Ablösung“. Zuerst fand ich, nö, das hatten wir ja schon origineller aber dann entdeckte ich doch etwas Neues. Bis jetzt schreiben meistens die Kinder aus erster Ehe über die Achtundsechziger. Moby ist aber ein Mädchen aus der zweiten Ehe ihres (durch Medien zu Reichtum gekommenen) Vaters mit einer jüngerern Frau, die eher von den Achzigern zwischen Yuppietum und Selbstfindung abstammt. Eine interessante Konstellation, anschaulich und witzig erläutert. Daneben eine Pubertätsnovelle, die in Südfrankreich spielt. Ein geeigneter Ferientipp für ein breites Publikum und doch nicht das, was jeder sowieso schon kennt.
• Voltaire: Candide Ich hatte ja keine Ahnung! Einst eine Zwangslektüre, hatte ich Candide völlig verdrängt. Was für ein ausgezeichnetes Buch. Jedoch so grausig, dass selbst deSade hat abkupfern können. Die Zusammenfassung der Handlung findet sich in jeder Literaturgeschichte, aber dieser Sarkasmus zur „besten aller Welten“, den gibt es nur im Lesen. Voltaire hat Leibniz buchstäblich geschlachtet. Doch der tröstliche Schluss, Candids Aufruf den Garten zu bestellen, war für mich durchaus eine optimistiche Erkenntnis: Die, dass man jederzeit in jeder Phase der Schlacht zurück, aufhören und ein Apfelbäumchen pflanzen kann.
Ich bin sehr froh, diesen Klassiker mitgenommen und trotz seiner Kürze über eine Woche intensiv gelesen zu haben. Und ich hatte natürlich die schönst mögliche Taschenbuchausgabe, illustriert von Paul Klee.
• Von Wiese, Benno: Deutschland erzählt Eines meiner zerlesensten Bücher. Ich hatte es schon in der Buchhandelsschule und liebe es noch heute. Von Wiese hat eine gute Auswahl getroffen, die Erzählungen waren für mich Türöffner. Dieses Mal habe ich Schnitzler, Heinrich und Thomas Mann, Kafka und Musil wieder gelesen. Und zum ersten Mal über Thomas Mann richtig laut gelacht. Gernhardt hat es ja immer gesagt.
• Zaimoglu, Feridun: Leyla Zaimoglu erzählt die Geschichte seiner Eltern, vorwiegend seiner Mutter, die aus der Türkei nach Deutschland kam. Eigentlich interessant, aber es war mir für die Ferien zu langatmig. Die Kritiken waren alle sehr gut und ich werde es in meine Bibliothek integrieren, um ein anderes Mal darauf zurückzukommen.
• Zeindler, Peter: Der Schreibtisch am Fenster Ich habe erst bei der Lektüre gemerkt, dass ich dieses Buch vielleicht etwas vorschnell empfohlen habe. Wahrscheinlich ist es für Leute, die sich im Buchhandel und Verlagswesen auskennen, um Lichtjahre unterhaltsamer als für andere. Nachfolgend eine Mini-Zusammenfassung und in Klammer meine Unterstellung der Vorbilder in der Realität.
Ein wenig berühmter Autor (Zeindlers Alter Ego) eines renommierten Verlages (Suhrkamp) schreibt einen Roman über diesen Verlag und die internen Machenschaften dort. Als er die ersten Kapitel hat, wird er von einem ausgebrannten Erfolgsautor (Zwitter Handke/Walser) des gleichen Verlages gebeten, dessen neuen Roman als Ghostwriter zu scheiben. Dies, weil der Erfolgsautor ohne Neuerscheinung seine Gesamtausgabe vom Verleger (Unseld) nicht kriegt. Dass alle die gleiche Frau (Berkéwicz) im Bett haben und das Informelle zum Intriganten und dann literarisch verwurstet wird, versteht sich fast von selber. Äusserst unterhaltsam, aber für ein Publikum, das der Branche und der Schriftstellerei etwas abgewinnen kann.
Voilà. Im Gebirge der Schuladminstration und im Angesicht einer zerrissenen Welt ist Literarisches ein Rastplatz. Mit Blick in Abgründe aber auch darüber hinaus.