Die komischen Deutschen

Die komischen Deutschen
Die komischen Deutschen
881 gewitzte Gedichte aus 400 Jahren
Ausgewählt von Steffen Jacobs
Gerd Haffmans bei Zweitausendeins
Zum 60. Geburtstag von Gerd Haffmans am 28. Februar 2004.

Ich mochte meine Deutschlehrerinnen, ich mochte meine Literaturkundelehrer, ich mochte die Gedichtauswahl von Echtermeyer/von Wiese, denn ich liebe das traurige Gedicht in seiner ganzen Interpretationswürdigkeit.
Doch ebenso liebe ich den Witz in der Lyrik, den Schalk im Reim, die unanständigen Hüpfer und die versteckten Widerborstigkeiten – all‘ die kleinen Aufhänger für grosse Themen.
Bevor es dieses Buch gab, musste ich Kurt Tucholsky, Joachim Ringelnatz, Wilhelm Busch und besonders Frank Wedekind, Arno Holz und Erich Mühsam als Einzelausgaben sammeln, die oft nicht lieferbar waren. Hätt’ ich Heinrich Heines Gesamtwerk nicht schon in der Lehre gekauft, hätt’ ich vor lauter Tragik im Lyrikunterricht die schärfsten Witze meines Lebens verpasst. Auch Robert Gernhardt und F.K. Waechter fanden erst spät – und fernab der Schulen – die verdiente Beachtung. Dass Klassiker wie Lessing und Fontane witzig waren, blieb mir Jahre vorenthalten, obwohl sie in keinem Lehrplan je fehlten.
Der Herausgeber dieses Werkes hat sich neben seiner fulminanten Sammlung auch um eine interessante Rechnung verdient gemacht. Was das gewitzte Gedicht den Deutschen wert sei, ermittelte er anhand aller deutschen Gedichtsammlungen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erschienen sind.
Er kam zum Schluss, dass das gewitzte Gedicht fünfmal weniger wert als jedes andere sei.
Deshalb ist das hier nicht nur für mich, sondern für alle ein wichtiges Buch. Ein Beitrag fürs Gleichgewicht und Witzgedicht, das oft gar nicht zum Lachen ist.

Selten habt Ihr mich verstanden,
Selten auch verstand ich Euch,
Nur wenn wir im Kot uns fanden,
So verstanden wir uns gleich.
Heinrich Heine

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PIXI-Nostalgie

Pixi Nr. 73; die Rückseite
Das ist die Rückseite [ein Klick drauf macht sie lesbar] meiner ältesten Errungenschaft unter den PIXI-Büchern: „Die schlaue Schildkröte“.
Das war PIXI Nr. 73 aus dem Jahre 1959. Ein kleiner Werbefeldzug für das Flugzeug als neues Verkehrsmittel für jedermann.
Auf einem Flohmarkt erstanden, aus kulturgeschichtlichem Interesse an den ersten achzig PIXI-Titeln auf der Rückseite.
(Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass man den tieferen Sinn eines Kaufes oft später besser versteht.)

Lauf, Junge, lauf

Lauf, Junge, lauf
Uri Orlev,
Lauf, Junge, lauf
Beltz und Gelberg 2004

[Foto und Besprechung vom Kind.]
Jurek heisst mit richtigem Namen zwar Srulik, aber das ist für ihn nach der gelungen Flucht aus dem Warschauer Ghetto unwichtig. Der Neunjährige weiss nicht, was aus seinen Eltern und Geschwistern geworden ist. Er muss sich alleine durch die Wälder schlagen, den ganzen Krieg lang. Jurek findet zwar Freunde, aber bei manchen trügt der Schein und sie verraten ihn an die Gestapo. Trotz der Geheimhaltung seines Namens und seiner Herkunft spüren ihn die Deutschen immer wieder auf.
Ich fand es ein sehr mitreissendes Buch, das sehr gut das Schicksal der Juden zu dieser Zeit beschreibt, wie sie erniedrigt und gejagt wurden. Ich lese gerne Bücher von Kindern mit Problemen, egal ob sie heute oder früher spielen. Aber im Moment interessieren mich Geschichten aus dem 2. Weltkrieg besonders.
Ich fand das Buch auch sehr gut geschrieben, ich würde es allen empfehlen, auch wenn sie sich weniger für dieses Thema interessieren, weil es zeigt, dass Kinder stark und selbständig sein können, auch in schlimmen Zeiten.
Heute gibt es vielleicht nicht mehr so viele Kinder auf der Welt, die sich durch die Wälder schlagen, aber dafür solche, die auf sich allein gestellt sind und vom Müll leben müssen.

Verlassen

Verlassen
Tahar Ben Jelloun,
Verlassen
Berlin Verlag 2006

Vergangene Woche las ich in der Zeitung folgende Meldung:

Spanien hat eine erschreckende Bilanz der afrikanischen Flüchtlingswelle auf die Kanaren vorgelegt: Fast jeder sechste Afrikaner starb beim Versuch, in diesem Jahr die spanische Inselgruppe vor der Westküste Afrikas zu erreichen. Nach Angaben der Behörden kamen rund 6000 Flüchtlinge auf der oft wochenlangen Seereise nach Europa ums Leben. (…)

Dieses Buch ist ein hässliches Buch. In vierzig Kapiteln schlildert Ben Jelloun, was sich an der Südgrenze Europas abspielt – was vorher war, was danach kommt. Seine Kapitel heissen nach den Protagonisten, das Individuum ist hier Zentrum, Ursache und Wirkung. Aus der Summe der Leben schafft er eine Allegorie, wie sie zeitgenössischer nicht sein könnte.
Das klingt jetzt mächtig nach Problembuch. Nach dem häufig gescheiterten Versuch vieler Autoren, aus Zahlen der Statistik Menschen mit Biografien zu machen. Dieser Perspektivewechsel ist jedoch eine der zentralen Aufgaben der Literatur und seit jeher verantwortlich für ihr Überleben. Und warum? Weil wir in keinem Film, keiner Zeitung und keinem Sachbuch schneller und tiefer erfahren, wie etwas war oder ist, als in der literarischen Fiktion.
Müsste ich eine Hauptfigur benennen, wäre das Azel. Sein Leben berührt mehr oder weniger das Leben aller anderen. Er ist ein kluger, ansehnlicher junger Marokkaner, mit zwei Hochschulabschlüssen aus Rabat aber ohne Arbeit und besessen von der Idee, Marokko zu verlassen. Nichts hält ihn. Nicht, dass er soeben seinen Schwager als aufgeschwemmte Leiche identifiziert hat, nicht der Gouverneur, der das Fernsehen in die Leichenhalle bestellt und schreit „Nie wieder! Kommt her, ihr da, und macht Aufnahmen von den Leichen! Es muss in den Abendnachrichten kommen. Das muss aufhören. Marokko verliert seinen Saft, seine Jugend!“ – weder Mutter noch Schwester noch Freunde wären ihm Anlass zu bleiben.
Im Grunde weiss jeder vom anderen, dass er fort will, sogar die Kinder.
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Die Gedanken sind frei

Die Gedanken sind frei
Tomi Ungerer,
Die Gedanken sind frei
Meine Kindheit im Elsass
Diogenes 1993

Tomi Ungerer ist der einzig Lebende unter meinen Vorbildern. Als ich meine Header-Wahl getroffen habe, war ich ziemlich sicher, dass er in seinem Leben nichts mehr anstellen würde, was ihn von dieser Funktion entbinden könnte. Heute hat er seinen 75. Geburtstag und ich bin froh ist er noch da, denn ich verehre ihn seit meinem fünften.
Das hier ist Ungerers Autobiografie. Ein Potpourri aus Erlebnissen, Anekdoten und Zeichnungen aus der Zeit seiner Kindheit im Elsass, die mit dem zweiten Weltkrieg zusammenfiel.
Ungerer beginnt mit den widerständischen aber machtlosen Elsässern, die nicht nur hin und her geschoben, sondern auch je nach Besatzung umbenannt wurden. Im Elsass kursiere noch heute folgender Witz:

Ein Elsässer hiess Lagarde,
die Deutschen übersetzten seinen Namen in Wache,
die Franzosen sagten Vache,
die Deutschen übersetzten das in Kuh,
die Franzosen sagten Cul (Arsch).

Ungerer illustriert in kessen Sätzen den Widerstand seine Mutter, die die Nazis mit Schönheit und List zu nehmen wusste. Sie tat es für die Familie und ein wenig auch aus Missmut, weil der Herrscher Hitler kein „von Hitler“ sondern bloss ein kleiner Mann war. Sie erreichte so eine Sondergenehmigung für das verbotene Französisch als Familiensprache und bewahrte ihre Kinder davor, zu Kanonenfutter zu werden. Dies alles indem sie in gepflegtem Deutsch erklärte, ihr begabter Nachwuchs sei für Führungspositionen in der Wirtschaft des grossdeutschen Reiches aufzusparen.
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Problembücher für Jungs

Weil sich mein Buchhändlerinnen-Ich wie auch mein Pädagoginnen-Ich wie auch mein Mutter-Ich gesträubt hat bei der Abkanzlung der sogenannten „Problembücher“ in den Lehrerzimmer-Kommentaren, werde ich heute ein paar solche empfehlen. Wenn man nicht die Kinder direkt befragt – was das Naheliegendste wäre – kann man auf Buchhändlerinnen und Verlage zurückgreifen um zu erfahren, dass viele Jungs im Alter von ca. 12-14 Problembücher mögen. Da manche Lehrerinnen und Lehrer mit „Problembuch“ noch immer das veraltete Rolltreppe abwärts (erschienen 1974) assoziieren, nützt vielleicht ein Blick auf die Aktualitäten. Bis auf eine Ausnahme spielen die nachfolgenden Bücher nämlich im 21. Jahrhundert.
Zuerst zwei Titel aus der Reihe „short & easy“ von Ravensburger, einer Reihe für äusserst schwache Leser, für „Erstleser“ ab 12, wie es sie bei Jungs eben gibt. Volle Pulle oder Genug geschluckt sind erfolgreich, weil sie Leseantrieb bieten, weil in einem Abschnitt schon vieles zu erfahren ist und auch langsame Leser eine Aufgabe wie „4 Seiten lesen“ so leicht bewältigen können wie „Normalleser“ die Leselöwen. Trotzdem zeigen die Umschläge ganz deutlich, dass es keine Kinderbücher mehr sind, was Jungs ein gutes Gefühl gibt. Diese Bücher haben am Ende meist eine positive Wende, eine Lösung.
dtv junior bringt jährlich viel Literatur für Jungs unter dem Motto: lesen – nachdenken – mitreden. Zum Beispiel Vorstadt Roulette. Übliche Geschichte: Marcel aka Hannibal will dazugehören und baut Scheisse, entsprechend beschissen geht das Buch aus. Unüblich sind die Figuren. Die Mutter ist nicht auf den Kopf gefallen und auch die Lehrer und die Polizei sind nicht von gestern. Es geht nicht darum herunterzuleiern, dass es nicht anders kommen konnte, sondern um den verdammt schmalen Grat. Was er davon hält und auf welche Seite er kippt, entscheidet der Leser, nicht die Autorin. Gutes Schriftbild, kurze Kapitel, guter Aufbau, erst im September erschienen und gut verkäuflich.
Mikael Engström und Mats Wahl sind zwei schwedische Konfliktbuch-Schreiber und Schweden ist in der Gegenwartsliteratur bekanntlich stark. Beide erscheinen in Deutsch in der ausgezeichneten Reihe Hanser bei dtv.
Mikael Engström erfindet Jungs, denen ich nicht widerstehen kann. Er schafft ihre ganze Not in Sätze zu packen wie kaum ein anderer. Brando ist inzwischen eine bekannte und beliebte Figur geworden und Brando ist auch die Ausnahme, die nicht im neuen Jahrhundert, sondern in den Gastarbeiter-Siedlungen der Siebzigerjahre daheim ist. Steppo ist ein weniger schnell erfassbarer Protagonist, sein Profil kriegt er erst im Laufe des Lesens, vor allem durch Dialoge. Engström (Jg. 1961) kann Jugendsprache, er kann Liftfasssäulen, er kann Dealergehabe und er kann Migrationsgesellschaft.
Mats Wahl ist brutal. Er knallt dem Leser eine. Sein Protagonist ist kein Junge sondern Kommissar Fors, ein Ermittler à la Wallander. Die Bücher entsprechen dem Label „Jugendbuch“ insofern, dass es nicht um Beziehungskisten geht und auch nicht um politische Zusammenhänge, die Sprache ist knapp und klar, der Rest gnadenlos. Ich halte Wahl für eine Wende im (Jungen-)Jugendbuch – und er wird gelesen.
Es ist, als wollte er den Jungs sagen, ok, ihr mögt Ego-Shooter, ist in Ordnung. Derbe Sprüche, Gewalt, Exzesse, Liebäugeln mit Drogen, mit Radikalen – das interessiert euch. Dann mach ich doch mal ein paar Bücher über die harte Welt, in die ihr so gerne eintreten wollt. Keine Bilder, keine Farben, kein Ton – bloss ein paar Buchstaben. Dafür Schüsse im Kopf. Du siehst zu beim Amok in der Schule, Kinder sinken zusammen; Kinder die du kennen lernst, nachdem sie schon tot sind, wenn die Eltern ihre Zimmer ausräumen und schreien dabei. Du siehst ganz genau hin, unter jedes Schülerpult, siehst wie die Care-Team-Gruppen arbeiten. Und dazu lernst du ein paar Fakten zur Polizeiarbeit, zum grauen Alltag, in dem es kein zweites Leben gibt und mancher nicht mehr aufsteht. Und Sterben – Sterben aus dem echten Leben heraus – das ist halt endgültig.
Doch das ist Mutter-Optik. Mats Wahl hat nämlich kein einziges „Merk dir das!“ zwischen den Zeilen. Er vermittelt den Jungs, die ihn lesen: „Entschuldige, Junge, dass ich es dir nicht eher gesagt habe. Hier. Ich nehme dich für voll. Mach damit, was du willst. Immerhin kannst du nicht mehr sagen, du hättest nichts gewusst.“

Hurra, wir kapitulieren!

Hurra, wir kapitulieren!
Henryk M. Broder,
Hurra, wir kapitulieren!
Von der Lust am Einknicken
wjs 2006

Das Buch ist stark, wo es um die Reaktion westlicher Zivilgesellschaft in medialer Form geht. Broder ist der einzige mir bekannte Chronist, der seit zehn, wenn nicht gar zwanzig Jahren verfolgt, wie die freie Gesellschaft säkularer Staaten islamisch motivierten Drohungen stattgibt. Regelmässig in vorauseilendem Gehorsam.
Broder zeigt mit zahlreichen Hinweisen auf Zeitungsartikel – nicht nur aus dem deutschen Sprachraum – all die Peinlichkeiten, die mich seit meinen allerersten politischen Sitzungen an die Hände schwitzen lassen. (In diesem Zusammenhang sei übrigens auch auf sein Buch Kein Krieg, nirgends hingewiesen, das in ähnlicher Weise die deutschen Medien-Reaktion auf 9/11 darstellt.)
Der für mich interessanteste Teil ist der über den Karikaturenstreit, in dem der Autor sogar einmal einen Kommentar zitiert, den auch ich selber mit dem Vermerk „dumm“ archiviert habe. Doch ein Buch mit Beweismaterial und Polemik gelingt selten zum grossen Wurf. Dennoch kann ich dieses als Sammlung von Reaktionen empfehlen.
Broders Motivation ist es, westliches Appeasement anzuprangern; ein Anliegen, dem ich durchaus folgen kann. Denn Integrationspolitik ist kein Beschwichtigungsauftrag, Punkt.
Mir gefielen Broders drei Beobachtungen zur Reaktion auf die Bedrohung durch Zensur:
• Jeder weicht aus, wenn er auf einem Moped sitzt und ein Laster kommt ihm auf der falschen Fahrspur entgegen. Merkwürdig ist nur, dass wir in diesem Fall den Fahrer nicht mit tiefem Lohn und Unterschicht zu entschuldigen suchen.
• Was ist Aktion, was Reaktion? Warum sind wir immer sofort bereit, Anforderungen, Drohungen und Terror als Reaktion zu erklären? Warum dürfen die Karikaturen nicht eine Reaktion auf die Drohungen sein? Sondern die Drohungen eine Reaktion auf die Karikaturen?
• Wirtschaft. Die Klimax von Broders Überlegungen lautet: Wie teuer darf das Barrel Öl noch werden, bis Israel offiziell zur Disposition steht?
Das Buch ist schwach, wo Jugend-, Sozial- und Bildungspolitik ein Thema wären. Broder versteht davon nicht viel und ich werfe ihm das auch nicht vor. Mich stört, dass er das Problem löst, indem er abstreitet, dass es darum geht. Ob Banlieue oder Rütli-Schule – seine Abhandlungen sind voller Klischees und streckenweise falsch. Deutschsprachige Jungendliche bedienen sich nicht aus der Minderheitsnot einer „Ghettosprache“. Selbst wenn man die Forschungsergebnisse sämtlicher Linguisten das Klo runter spült, sind immer noch die gehoberen Wohnquartiere ohne nennenswerten Ausländeranteil übrig, in denen genau so geredet wird. Meine Erfahrung ist, dass auf das im Buch mehrmals zitierte „Schweinefleischfresser“ ein „BinLadenSaddam“ folgt. Und wären die von Broder als positives Beispiel aufgeführte Vietnamesen im Vergleich zu den Muslimen eine Erfolgsgeschichte der Integration, wäre ich ein glücklicher Mensch.
Es ist ein sehr junger Verlag, der dieses Buch herausgebracht hat und das erstaunt mich nicht. Broder entwickelt sich aus verlegerischer Sicht zu einer Figur wie Jean Ziegler – jemand, der ein grosses Archiv und sehr pointiert viel zu sagen hätte, aber Gefahr läuft, in Streitigkeiten oder gar Prozessen hängen zu bleiben, ohne damit bei der Leserschaft zu punkten. (Michael Moore könnte gut auch so ein Kandidat werden, aber dies nur nebenbei.) Das macht Autoren für bekannte Verlage zu heissen Kartoffeln.
„Dass die Terroristen im Grunde ihrer Seelen fehlgeleitete Idealisten sind, die nur ein wenig über das Ziel hinausschiessen (…)“ ist eine Meinung, die – soweit mein Eindruck – deutlich seltener geäussert wird als auch schon. Und dazu hat Broder seinen Teil beigetragen.
In dem Sinne sei ihm die dritte Auflage des Buches, das er sich zu seinem Sechzigsten selber gewidmet hat, gegönnt.

Indische Liebesgedichte

Indische Liebesgedichte übertragen von Friedrich Rückert
Indische Liebesgedichte
Übertrage von Friedrich Rückert
Insel Taschenbuch 2006

Ein tapferes Schneiderlein ist dieses Bändchen. Denn es schlägt mindestens sieben auf einen Streich.

  • Friedrich Rückert war ein Klassiker und er ist heute zu Unrecht unbekannt.
  • Er ist wohl der Verdienstvollste unter den deutschen Übersetzern islamischer und indischer Literatur (und deshalb braucht die Welt eine Ergänzungen zu dem Reclam-Bändchen seiner eigenen – bisweilen etwas holprigen – Gedichte).
  • Das Büchlein ist ein perfektes Exempel für die Kunst der Nachdichtung. Als Leserin bin ich überzeugt von der Sinnestreue der Übertragung und das will etwas heissen.
  • Die Gedichte strafen die Vulgär-Erotik Lügen, die wir hier seit den Sechzigerjahren aus Indiens Dichtkunst filtern.
  • Die Einleitung von Martin Kämpchen gibt einen schönen Abriss über die chaotische Welt der indischen Mythologie, in der nichts ist, wie wir es erwarten würden.
  • Dies ist zugleich eine schöne Auswahl der Dichtkunst in Sanskrit, dieser alten hochentwickelten Sprache, in welcher die Epen des Hinduismus, Buddhismus und später auch des Sikhismus geschrieben worden sind.
  • Das Buch ist – wie gewohnt bei Insel – ästhetisch anzusehen, die Schrift gut zu lesen, der fremdartige Inhalt dank des Glossars auch für uns gut zu verstehen.
  • Warum ich heute sieben Bücher gekauft habe

  • Ausfelder, Trude, Alles, was Jungen wissen wollen / Klopp 2004
    Weil ich den Verlag nicht kannte und das dem Kind schenken wollte,
  • Brenner, Michael, Geschichte des Zionismus / C.H.Beck Wissen 2005
    weil diese Reihe mein sicherster Wert ist, wenn ich in einem Gebiet schnell aufholen will,
  • Lutes, Jason, Berlin, Steinerne Stadt / Carlsen 2003
    weil ich das dem Mann schenken wollte, weil er wie ich Zwischenkreigsliteratur und -kunst sehr schätzt und es in diesem schwarz-weiss Comic um deren Entstehung geht,
  • McCourt, Frank, Tag und Nacht und auch im Sommer / Luchterhand 2006
    weil ich mich schon Monate auf die Erinnerungen dieses Lehrers freue und weil sie nicht zu lesen wirklich keine Opition wäre.
  • Roth, Philip, Der menschliche Makel / rororo 2003
  • Roth, Philip, Der Ghost Writer / rororo 2004, Erstausgabe 1979
    Weil ich gerade mit seinem neuem Buch Jedermann/Everyman eine Première feiern konnte: Mein erster zu Ende gelesener Roth! Trotz bebender Brüste und Schweissperlchen auf jugendlichen Hälsen konnte ich dem Protagnoisten folgen. Um herauszufinden, ob diese neue Fähigkeit von mir oder vom Autoren herrührt, versuche ich jetzt noch anderes von Roth fertig zu lesen.
  • Satrapi, Marjane, Huhn mit Pflaumen / Edition Moderne 2004
    Damit ich es lesen, ansehen und danach wehmütig weiterschenken kann.
  • On two

    Ferien im Vorjahr
    Mujawayo, Esther: Ein Leben mehr Habe ich nicht fertig gebracht. Schon so viel über den Genzozid in Rwanda gelesen ist es vielleicht jetzt einfach genug. Mujawayo und ihre drei Töchter sind Überlebende, sie erzählt hier ihre Geschichte. Der Hammer Verlag ist der beste deutschsprachige Verlag für afrikanische Literatur.
    Nesser, Hakan: Barins Dreieck Drei Identitätsgeschichten, alle in Ich-Form. Die erste von einem Schrifsteller, der einen Selbstmord vortäuscht, welcher als Mord interpretiert wird. Weil es auch kriminalistische Elemente drin hat, musste ich soeben meine ziemlich gute Zusammenfassung löschen, um nichts zu verraten. Die zweite erzählt von zwei Jugendfreunden, die sich sehr ähnlich sehen. Als sie sich später im Leben wieder begegnen, beschliesst der eine, den anderen an seiner Psychotherapeutischen Praxis zu beteiligen. Sie treten fortan als EIN Therapeut auf. Ein packender Plot. Die dritte ist nur für Lehrpersonen geeignet, die sich voller geistiger Gesundheit erfreuen. Protagonist ist ein Lehrer, der ausnahmsweise fünf Mintuen zu spät in die Schule kommt und sich bereits durch die Tür unterrichten hört. Er öffnet sie einen Spalt und sieht sich vor der Klasse stehen. Was folgt ist Flucht und die irrsinnige Beschreibung einer Psychose.
    Nesser; Hakan: Kim Novak badete nie im See von Genezareth Noch nicht gelesen.
    Riel, Jorn: Nicht alle Eisbären halten Winterschlaf Noch nicht gelesen, weil in Händen von Kind und Mann. Es klappt in den Ferien nicht lückenlos, unsere Lesegeschwindigkeiten und die Seitenzahlen auf die Buchauswahl abzustimmen.
    Roggenkamp, Viola: Familienleben Die Jüdischen haben einfach ein Händchen für den Familienroman. Ein exzellentes Buch, angesiedelt in den Sechzigern und Siebzigern in Hamburg. Es gab viele Besprechungen und ich bin unsicher, ob es nötig ist, es auch noch zu besprechen…? Fania, die dreizehnjährige Erzählerin, ist jedenfalls die eingängiste Figur meines literarischen Sommers. Und weil mir das Buch so gefallen hat und ich Roggenkamp auch sonst mag, selbst wenn sie über die Thalassotherapie ihres Maus-Arms in Biarritz schreibt (Kult Nr. 7 / 2004, S. 9), habe ich gleich noch weiter von ihr gelesen, nämlich:
    Roggenkamp, Viola: Tu mir eine Liebe – Meine Mamme Roggenkamp leitet den Interviewband mit einem ausgezeichneten Essay ein. Es geht ihr um die Frage, wer jüdisch sei, wer der Generation der Überlebenden angehöre und um die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Menschen über ihre Mamme erzählen. Es folgen erschütternde, rührende und abstossende Beschreibungen von verschiedenen Leuten über das Leben mit ihrer jüdischen Mutter, die immer eine Überlebende ist. Denn die Kinder der Mütter, die ermordert wurden, wollten über sie nicht sprechen. [Und im Moment lese ich wieder Roggenkamp, nämlich: Von mir soll sie das haben? – ebenfalls ganz ausgezeichet.]
    Sachs, Jeffrey D: Das Ende der Armut Keinen Elan für Sachbücher.
    Stelly, Gisela: Moby Ein leichtes Buch, einmal mehr in der Reihe „Kinder schräger Eltern – eine Ablösung“. Zuerst fand ich, nö, das hatten wir ja schon origineller aber dann entdeckte ich doch etwas Neues. Bis jetzt schreiben meistens die Kinder aus erster Ehe über die Achtundsechziger. Moby ist aber ein Mädchen aus der zweiten Ehe ihres (durch Medien zu Reichtum gekommenen) Vaters mit einer jüngerern Frau, die eher von den Achzigern zwischen Yuppietum und Selbstfindung abstammt. Eine interessante Konstellation, anschaulich und witzig erläutert. Daneben eine Pubertätsnovelle, die in Südfrankreich spielt. Ein geeigneter Ferientipp für ein breites Publikum und doch nicht das, was jeder sowieso schon kennt.
    Voltaire: Candide Ich hatte ja keine Ahnung! Einst eine Zwangslektüre, hatte ich Candide völlig verdrängt. Was für ein ausgezeichnetes Buch. Jedoch so grausig, dass selbst deSade hat abkupfern können. Die Zusammenfassung der Handlung findet sich in jeder Literaturgeschichte, aber dieser Sarkasmus zur „besten aller Welten“, den gibt es nur im Lesen. Voltaire hat Leibniz buchstäblich geschlachtet. Doch der tröstliche Schluss, Candids Aufruf den Garten zu bestellen, war für mich durchaus eine optimistiche Erkenntnis: Die, dass man jederzeit in jeder Phase der Schlacht zurück, aufhören und ein Apfelbäumchen pflanzen kann.
    Ich bin sehr froh, diesen Klassiker mitgenommen und trotz seiner Kürze über eine Woche intensiv gelesen zu haben. Und ich hatte natürlich die schönst mögliche Taschenbuchausgabe, illustriert von Paul Klee.
    Von Wiese, Benno: Deutschland erzählt Eines meiner zerlesensten Bücher. Ich hatte es schon in der Buchhandelsschule und liebe es noch heute. Von Wiese hat eine gute Auswahl getroffen, die Erzählungen waren für mich Türöffner. Dieses Mal habe ich Schnitzler, Heinrich und Thomas Mann, Kafka und Musil wieder gelesen. Und zum ersten Mal über Thomas Mann richtig laut gelacht. Gernhardt hat es ja immer gesagt.
    Zaimoglu, Feridun: Leyla Zaimoglu erzählt die Geschichte seiner Eltern, vorwiegend seiner Mutter, die aus der Türkei nach Deutschland kam. Eigentlich interessant, aber es war mir für die Ferien zu langatmig. Die Kritiken waren alle sehr gut und ich werde es in meine Bibliothek integrieren, um ein anderes Mal darauf zurückzukommen.
    Zeindler, Peter: Der Schreibtisch am Fenster Ich habe erst bei der Lektüre gemerkt, dass ich dieses Buch vielleicht etwas vorschnell empfohlen habe. Wahrscheinlich ist es für Leute, die sich im Buchhandel und Verlagswesen auskennen, um Lichtjahre unterhaltsamer als für andere. Nachfolgend eine Mini-Zusammenfassung und in Klammer meine Unterstellung der Vorbilder in der Realität.
    Ein wenig berühmter Autor (Zeindlers Alter Ego) eines renommierten Verlages (Suhrkamp) schreibt einen Roman über diesen Verlag und die internen Machenschaften dort. Als er die ersten Kapitel hat, wird er von einem ausgebrannten Erfolgsautor (Zwitter Handke/Walser) des gleichen Verlages gebeten, dessen neuen Roman als Ghostwriter zu scheiben. Dies, weil der Erfolgsautor ohne Neuerscheinung seine Gesamtausgabe vom Verleger (Unseld) nicht kriegt. Dass alle die gleiche Frau (Berkéwicz) im Bett haben und das Informelle zum Intriganten und dann literarisch verwurstet wird, versteht sich fast von selber. Äusserst unterhaltsam, aber für ein Publikum, das der Branche und der Schriftstellerei etwas abgewinnen kann.
    Voilà. Im Gebirge der Schuladminstration und im Angesicht einer zerrissenen Welt ist Literarisches ein Rastplatz. Mit Blick in Abgründe aber auch darüber hinaus.