hat inzwischen biblische Ausmasse angenommen. Alle berufen sich darauf, mich eingeschlossen. Broder stellt im Auszug aus Hurra, wir kapitulieren (ist bestellt) ebenfalls den Bezug her:
Es geht um Meinungsfreiheit, den Kern der Aufklärung und der Demokratie, und um die Frage, ob Respekt, Rücksichtnahme und Toleranz die richtigen Mittel im Umgang mit Kulturen sind, die sich ihrerseits respektlos, rücksichtslos und intolerant gegenüber allem verhalten, was sie für dekadent, provokativ und minderwertig halten, von Frauen in kurzen Röcken bis hin zu Karikaturen, von denen sie sich provoziert fühlen, ohne sie gesehen zu haben.
So oft ich mich über ihn geärgert habe, im ersten Teil dieses Artikels habe ich gemerkt, dass Broder eben lange ein Mitstreiter im Geiste gewesen ist und auch seine Recherche über die Karikaturen-Hetze stimmt überein mit dem, was ich gesammelt habe.
Vor zehn Jahren stand allein, wer Zensur bei Lehrmitteln, Extra-Lehrpläne und Dispensationen zu Gunsten einer religiösen Gemeinschaft strikt ablehnte. Diese Forderungen kamen oft von Muslimen, aber nicht immer. Zeugen Jehovas und andere „Stündeler“ haben noch heute hanebüchene Anforderungen an die Schulen (und sind führend im neu erlaubten „Home Schooling“, was ich gerade nochmals grässlich finde). Auch kann ich den Vergleich Islamismus / Nazionalsozialismus in einzelnen Bereichen nachvollziehen. Zum Beispiel fällt es mir relativ leicht, in Achmedinedschad den jüngeren Hitler zu sehen, ich habe allerdings nur die Fest-Biographie gelesen.
Aber rechtfertigt es die Prognose dritten Weltkrieg? Ich weiss es nicht. Seit 9/11 habe ich keine Ahnung mehr. Meinungen gab es immer viele, aber die Zahl der Experten, Einschätzungen, Fakes und Manipulationen sind in meiner Wahrnehmung explodiert. Ich komme mir längst vor, als lebte ich in einem Propaganda-Geschichtsbuch; und sogar das ist miserabel lektoriert.
„Vernunft, Tugend, Nützlichkeit und Empfindung“ führt unser Lehrmittel Literatur im Buchhandel als die vier zentralen Begriffe der Aufklärung. Ich finde das treffend. Durch Aufstände und Kriege, durch Wohlstand und Urbanisierung entstand daraus die „Toleranz“.
Was ich sicher weiss, ist, dass unser Jahrhundert diesen Begriff zu klären hat. Theoretisch und praktisch.
Vielleicht etwas plump gesagt, aber Aufklärung / Moderne wird doch seit 1964(?) von der Postmoderne nach und nach abgelöst – vielleicht ist die Postmoderne die „Klärung der Moderne“.
Der Streitpunkt ist nicht unbedingt, WANN die (heute) europäische Gesellschaft etwas errungen hat, sondern WAS wir denn überhaupt errungen haben…
Das macht es so schwierig. Werte. Welche zäheln? Für wen? Wie stark gewichtet man sie (eben z.B. in der Schule)? Wie viele Tote nimmt man dafür in Kauf (z.B. in Afghanistan gegen die Taliban / z.B. durch Terrordrohungen/anschläge wegen Karikaturen)?
Schon wieder Broder… und Grass. Lesenswertes bei Blattkritik.
„Endlich können sich die Deutschen den zentralen Fragen zur Nazi-Zeit stellen. Sie müssen sich nur trauen.“
Aha. Mir fällt zur „Nazi-Zeit“* keine Frage ein, die mir schon während meiner ein paar Jahrzehnte zurückliegenden Schulzeit gestellt worden wäre. Und mit Grass hat das alles nichts zu tun. Und Broder brauche ich schon gar nicht.
Ich frage mich hingegen, ob in Deutschland Bücher auch mal einfach so herausgebracht werden können, mit Einhaltung der Sperrfrist, ohne Skandal-Interview, ohne Vorziehen des Sendebeginns eines neuen überflüssigen Literatur-Magazins mit einem eitlen früh vergreisten Langweiler als Moderator und ohne vorgezogenen Veröffentlichungstermin.
Wirklich berührt hat mich nur das FAZ-Interview mit Erich Loest und einen wunderbaren Offenbarungseid als Stellvertreterin meiner Generation hat Juli Zeh im Deutschlandradio Kultur geleistet, indem sie, allerdings nur für „sich und ihren Bekanntenkreis“, gleich das Ende aller moralischen Vorbilder ausgerufen hat. Mein Lieblingszitat:
„Also die moralische Instanz, die Grass möglicherweise mal gewesen ist, ist er glaube ich für die Generation über uns. Denn in meinem Bekanntenkreis wissen auch sehr interessierte und Zeitung lesende und literarisch interessierte Menschen oft überhaupt nicht, was Grass‘ Stellungnahmen zu bestimmten Themen sind. Das heißt, wenn ich die frage, wie findest du denn die Meinung von Grass jetzt quasi zum Karikaturenstreit oder ähnliches aktuelles Thema, dann kriege ich zu hören: Äh, was hat der denn gesagt? Und wenn es eben so ist, dass die Äußerungen einer Person gar nicht mehr breit zur Kenntnis genommen werden, dann kann man einfach nicht von einer moralischen Instanz sprechen. Dementsprechend ist die Enttäuschung oder eben auch die Verletztheit in unseren Kreisen viel, viel geringer…“
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*) Das Wort „Nazi-Zeit“ mag ich gar nicht; es erinnert mich immer an einen Cartoon, den ich mal gesehen habe: Ein alter Mann beugt sich zu seinem Enkel hinunter und sagt: „Weisst Du, 1933, da sind in Deutschland auf einmal überall so kleine braune Männchen aufgetaucht. Das waren die Nazis. Und die haben ganz viele Juden umgebracht und Deutschland in einen Weltkrieg gestürzt. Und am Ende haben wir den Krieg verloren und 1945 sind die kleinen braunen Männchen wieder verschwunden.“
Frau Zeh hat Recht. Für mich. Allerdings ist der Mann hier auch unsere Generation und war als an Grass Interessierter (ohne Moralansprüche soviel mir bekannt ist) entsetzt. Loest kannte ich leider nur dem Namen nach, ich hatte keine Ahnung, dass er ein Grass-Freund ist.
Was Broder betrifft, so war er eine streitbare Figur und ist jetzt sowieso unten durch. Allerdings gab es die letzten zehn Jahre bei einigen Themen keine Alternative, auch wenn ich es mir sehr gewünscht hätte und eine Menge gecheite Leute Gelegenheit gehabt hätten.
– Kuschen vor den Religiösen im Schul- und Kulturbereich
– Sammleln der bescheuertsten Reaktionen auf 9/11 (und damit meine ich nicht Susan Sontag, die philosophische Abhandlungen über Schuld geschrieben hat, es war anderes, das mir den Schlaf geraubt hat)
– Und Kleinkram wie die Wendehalsigkeit eines Peter Scholl-Latour oder die Reden eines Kardial Joachim Meisners am Weltjugendtag.
Broder läuft journalistisch Amok, aber das bedeutet für mich nicht, dass alles, was er je geschrieben hat, Mist war. Inzwischen gibt es andere, die gute Essays zum „Kulturkampf“ veröffentlicht haben, z.B. Enzensberger. Vielleicht kommt ja doch noch eine Wertedebatte in Gang.
Im Kanton Bern jedenfalls haben wir noch keine einzige Unterrichtsstoff-Schlacht gewonnen. Die ersten, die den Dispens für den Turn-Unterricht per Gericht nicht erhalten haben (Gemeinde Stettlen b. Bern), sind umgezogen. Die Realität kann verdammt frustrierend sein.
@ Sam
Weshalb beginnt für dich die Postmoderne genau im Jahre 1964?
😉 In der Postmoderne ist ja eh nichts mehr absolut, alles etwas relativer als früher. 1964 kamen die Beatles doch richtig gross raus (war selbst aber noch nicht da). Natürlich fing das Ganze schon vorher an, sonst wären wohl die Beatles nicht auf soviel Resonanz gestossen…
@ Sam
Ja, das scheint mir so eine Huhn-Ei-Frage zu sein. Wollte nur wissen, wie du auf diese Jahreszahl gekommen bist 😉