Emotionen: Ich bin überwältigt und desillusioniert zugleich. Das vorherrschende Gefühl ist Dankbarkeit all den Frauen von Genf bis zum Bodensee, von Basel bis Bellinzona, die das überhaupt möglich gemacht haben. Organisieren, überzeugen, schreiben, verfassen, verhandeln, planen, fundraisen, beauftragen, nachfragen, beantworten, beschwichtigen, wiedererwägen, motivieren – nicht für eine Woche, sondern über Monate hinweg, Tag und Nacht. Mobilisierung braucht enorm viel Kraft und es bleibt bis zum Ereignis ungewiss, ob diese Energie je wieder zurückkommt. Eine halbe Million Menschen waren am vergangenen Freitag auf der Strasse für mehr Lohn, Zeit und Respekt für Frauen.
Drei Tage später bin ich ermattet von den blöden Sprüchen zum Streik, den ständigen Witzen auf Kosten der Frauen, den vielen Männern, die diese zwar doof finden, aber schweigen. Was Coline de Senarclens „ridiculiser les organisatrices et les femmes en général“ nennt und rhetorisch beeindruckend erklärt, dass wir uns davon nicht beirren lassen, geht mir an die Nieren. Dennoch werde ich die Forderungen wiederholen, mithelfen, sie politisch und rechtlich zu erstreiten, die Kinder und Jugendlichen dazu anhalten, das Gleiche zu tun. Chancengleichheit in einem wohlhabenden, friedfertigen Land, in dem alle Menschen sich auf Augenhöhe und ohne Überheblichkeit und Vorverurtreilungen begegnen, das wäre meine Vision. Und ich wünschte mir letzte Tage hienieden, wo mir ein Jugendlicher mit violett lackierten Fingernägeln mal glucksend, mal weinend aus einem gedruckten Buch vorliest und eine Palliativmedizierin an meinem Bett ihr Baby stillt, während sie mich geduldig über die Stationen meines Ablebens informiert.
(Streiktagebuch folgt.)
„Drei Tage später bin ich ermattet von den blöden Sprüchen zum Streik, den ständigen Witzen auf Kosten der Frauen, den vielen Männern, die das zwar doof finden, aber schweigen.“
Das sind die Männer, die im Beruf auf den verschiedensten Ebenen unheimlich miteinander konkurrieren, und für den Fall, dass sie unterliegen, noch die Frauen unter ihnen stehend ansehen.
Ja, das könnte sein. Es erinnert mich an Folgendes: An meiner Abschlussprüfung 1991 habe ich bei Büchners Woyzeck so argumentiert: Ja, er ist ein Milieuopfer, missbraucht im Menschenversuch und immer und immer wieder degradiert. Aber so viele auch noch so ärmliche Protagonisten haben am Ende noch eine Frau, die unterliegt und – in diesem und vielen anderen literarischen Werken, die ich auch nannte – nicht einmal darüber entscheiden kann, ob sie weiterlebt oder eben ermordet wird. Das fand der Experte extrem verkürzt als Argumentation und männerfeindlich dazu.