Philantropische Verdrängung

Seit ich sechzehn Jahre alt war, mache ich Freiwilligenarbeit. Noch nie hatte ich kein Ämtchen oder Amt. Ich habe dabei Angriffe, Beschimpfungen und Häme erfahren, ich habe Misserfolge mitverursacht, mir die Redezeitbeschränkung für andere gwünscht und mich in Menschen getäuscht.
Aber viel öfter habe ich Anerkennung, kleine Geschenke, Freundschaft und Unterstützung bekommen, Gelichgesinnte getroffen, schriftlich und mündlich argumentieren und vor allem zusammenfassen gelernt. Ich war zweimal einen Monat in den USA um in Behindertenheimen zu arbeiten, sonst hätte ich dieses Land bis heute nie kennen gelernt. Der verlässlichere Teil meines sozialen und beruflichen Netzes hängt zusammen mit meiner Freiwilligenarbeit, sie ist genau so Teil meiner Biografie wie der Buchhandel.
Ich verfüge also über 21 Jahre Erfahrung. Aber jedes Jahr vergesse ich, dass ich von Dezember bis Februar für Jahresberichte, Revisionen, Budgets, Traktandenlisten für Hauptversammlungen und nicht auffindbare Nachfolger für Neuwahlen Zeit einrechnen müsste. Und jedes Jahr passieren mir peinliche Fehler, weil sie mir an allen Enden fehlt.
(Der Mann meint dazu beschwichtigend, leiden darunter sei das Echtheitszertifikat der Freiwilligenarbeit.)

4 Gedanken zu „Philantropische Verdrängung“

  1. Du sprichst mir aus dem Herzen… Geschenke für zurücktretende Vorstandsmitglieder wollten besorgt, Jahresberichte geschrieben, Jahresrechnungen erstellt, Budgetposten zusammengezählt, neue Leute gesucht, Einladungen zum statutarisch korrekten Termin versandt, Antragsfristen rechtzeitig verkündet werden… Lang lebe das Ehrenamt! (Wenn du möchtest, kann ich dir mal das tolle Drehbuch schicken, welches unser früherer Copräsi für die GV unserer SP-Sektion verfasst hat… hilft auch mir jeweils, peinliche Vorfälle zu vermeiden.)

  2. Der statutarisch korrekte Termin, genau. Unter anderem wegen dieses Fettnapfes nehme ich nie Präsidien an. Denn ich neige dazu, die verschiedenen Vereinsstatuten durcheinanderzubringen, weil ich ja diese Fakten bei der Ämterzusage eben jeweils verdränge. (Denn der Codex der Werber für Ämter ist: „Kommuniziere nur die Dessous“ – also das Minimum der To Dos in der sexiest möglichen Form. Wenn ich für Freiwilligenarbeit werbe, versuche ich es immerhin mit einem Nachthemd – und ich finde nie für irgendwas eine Nachfolge.)

  3. Katia, entschuldige bitte die Erinnerung! (Sonst erfüllen plötzlich Blogs einen Zweck der sonst eher der Heiligen Schrift und den Fitness-Ratgebern vorbehalten ist: Lauter Ermahnungen 😉

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