Nach einem schönen, verlesenen, verschwommenen Sommermonat bin ich zurück im Regen der Schweiz. Die Einhemische unter Touristen zu sein fällt mir gerade etwas schwer. Ich hatte mich an die Rolle der wortkargen Ausländerin in Südfrankreich gut gewöhnt.
Seit drei Tagen wasche ich, lese die Post, verarbeite meine Mails und versuche zu strukturieren, was ich auf dem Memorystick an Unterrichtsvorbereitug aus den Ferien mitgebracht habe. Offline hat seinen Preis und lohnt sich für mich sehr. Denn der Unterschied liegt im Plus – ich fühle mich auch im Hintertreffen, wenn ich online bleibe. Unser Schulhaus ist noch immer eine grosse, kaum zugängliche Baustelle und ich widme mich deshalb zuerst dem, was ich gelesen habe. Ich gebe hier wenig Inhalt, sondern hauptsächlich eine Leseempfehlung.
Da es sich um einen Thriller handelt, würde ich das Buch nicht als „historischen Roman“ verkaufen, aber eigentlich ist es das. Es sind einzelne Geschichten der Unter- und Oberwelt, die in diesem Buch ebenso selbstverständlich ineinander übergehen, wie das in den USA des Wirtschaftswunders die Realität war: Hoffa, Mafia, Kennedys, FBI und CIA. Unterhaltsam und interessant einerseits, andererseits eine gar penetrante Beweisführung, dass alle Menschen korrupt und käuflich sind.
Zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig, weil Hustvedt ihre eigene Krankheitsgeschichte im Hyper-„Ich“-Stil amerikanischer Ratgeberliteratur beginnt. Aber das legt sich und es erschliesst sich der Leserin hinter der Ich-Botschaft eine Dokumentation, die fast als Sachbuch durchgehen könnte. Hustvedt gibt zwar konsequent ihre eigenen Gefühle und Empfindungen im Umgang mit ihren Nervenkrankheiten (Migräne, Zitteranfälle) wieder. Gleichzeitig zeigt sie akribisch auf, was sie in den Diagnose-Phasen liest und welche Schlüsse sie aus dem Gelesenen zieht. Es ist eine Reise durch klassische psychologische Literatur ebenso wie durch philosophische Werke, durch aktuelle Berichte aus Medizinzeitschriften und durch Biografien verstorbener Autorinnen und Autoren, die unter Kopfweh oder Nervenkrankheiten litten. Sehr erhellend und mit einem aufschlussreichen Quellenverzeichnis versehen.
Erneut ein wunderbarer Roman des Altmeisters. Ich kann mir die Kritik des Feuilletons daran nur mit falschen Erwartungen erklären. Sicher, es kommt Altbekanntes vor (Bären, abgetrennte Hände), doch wohnt man hier der Schaffung einer unvergleichlichen Hauptfigur bei, die zwar selten anwesend, aber immer präsent ist. Vom Ich-Erzähler wird ein Roman im Roman entwickelt, so wie dieser sich im Laufe der Handlung vom halbwaisen Jungen zum Schriftsteller mausert. Ein Buch über Auf- und Abstiege einzelner Menschen, Gesellschaften (Italio-Amerikaner), Berufsstände (Flösser, Gastgewerbler) – gleichermassen packend und wiegend wie die Wellen des Meeres.
Noch nicht gelesen.
Ein Meisterwerk in Mundart, raportiert von einem Junkie namens „Goalie“. Nach Mani Matter (tot) und Ernst Burren (bejahrt) haben wir mit Pedro Lenz endlich wieder ein grosser Ezähler in unserer Muttersprache.
Witziger Krimi mit Zürcher Kulisse. Die Besitzerin eines expandierenden Veloladens wird attakiert und klärt auf.
Wurde mir zweimal von wesentlich jüngeren Feriengästen genommen, weshalb ich erst auf S. 50 aber überzeugt bin, dass ich weiter lesen werde.
Schon wieder ein Masterpiece. Ich liebe Autorinnen und Autoren, die das Globale und das Private anhand von Beobachtungen im Lokalen schildern und Proulx ist da bekanntlich eine Meisterin, ich hab’s schon mehrmals erwähnt. Das Buch handelt von Quoyles Weg aus der rauen Enge Neufundlands und von seiner Rückkehr nach dem Tod seiner Frau zusammen mit zwei kleinen Töchtern und der Tante (einer Schiffspolstererin). Wie immer bei Proulx ist alles ein Tanz um Sichtweisen. Jedem Kapitel geht ein Seemannsknoten voran, von dem Eingangs erklärt wird, wozu er zu brauchen ist. (Ich habe den Zusammenhang nicht immer genau verstanden, aber erstens kann das an der Übersetzung liegen und zweitens hat es mich überhaupt nicht gestört.)
Es wäre schön, die englische Literatur und die indische Mythologie besser zu kennen, um dieses Buch richtig zu estimieren. Aber mit meinen (veralteten) Indienkenntnissen ist auch schon einiges gewonnen. Im Indien, das ich kenne, wurde viel gelacht, auch über die eigenen und fremden Tragödien – genau wie hier. Doch ich werde als Buchhändlerin das Werk nie ganz von den Begleitumständen seines Erscheinens lösen können und mich immer wieder fragen, worum es dabei eigentlich ging. Aber die Literaturkritik, die sollte das.
Nicht gelesen, handelt zu weit in der Zukunft.
Fulminant, wie erwartet. Würde ich eigentlich sehr gern ausführlicher besprechen, weil’s diese Texte eine tolle Quelle für Buch-Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind. Mal sehen.
Daneben habe ich noch zwei weitere Bücher gelesen, die ich leichten Herzens empfehlen kann:
Eine Liebesgeschichte zwischen Frauen, die sich der Leserin detail- und ereignisreich entfaltet. Für Menschen mit Bernbezug oder Berninteresse besonders „amächelig“, weil viele schöne Orte der Region (drinnen und draussen) beschrieben werden.
McCann ist ja kein Unbekannter und dieser Titel wurde zahlreichen Orten rezensiert. Die biografische Annäherung an den Tänzer Nurejew und an die Zeit zwischen Kriegen und Diktatur, die ihn leitete, abstiess und doch prägte, hat mich sehr beeindruckt.